Anna Aaron, Kevin Seconds

Neue Alben: Anna Aaron, Kevin Seconds

profil unerhört. Die wichtigsten CDs der Woche

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Von Philip Dulle und Stephan Wabl

Anna Aaron: Neuro (Two Gentlemen/Rough Trade)

Wer den Fehler begeht, bei Schweizer Popmusik-Exportschlagern reflexartig an Sophie Hunger zu denken, wird womöglich das neue Album der aus Basel stammenden Anna Aaron übersehen. Die 29-jährige Sängerin und Keyboarderin versteht es dafür umso besser, ihre musikalische Eigenständigkeit, ihr Gespür für Stimmung, Timing und Intensität noch einen Deut mehr hervorzuheben. Die zwölf asketischen Songs ihres zweiten Albums „Neuro“ mäandern dabei stets im Spannungsfeld von bluesiger Stimmakrobatik und butterweichen Keyboardmelodien, wechseln zwischen verspielter Indie-Melancholie und radiotauglichen Kaffeehaus-Chansons, ohne dabei Gefahr zu laufen, zu sehr in das Schlagerhafte abzugleiten. Für die Befindlichkeitsmusik einer gelangweilten Generation hat sie keine Zeit. Lieber singt Anna Aaron über ihre reale Umgebung, wie sie selber sagt, „über Städte, Elektrizität und das Internet“ und holt dabei Inspiration beim US-amerikanischen Science-Fiction-Autor William Gibson. Aufgenommen hat die Schweizerin ihr neues Album übrigens in London, mit neuer Mannschaft (Jason Cooper von The Cure) und dem unmissverständlichen Auftrag, jetzt auch international zu reüssieren. Merke: Die Welt ist da draußen. (7.0/10) Ph. D.

Live gastiert Anna Aaron am 16. Mai im Wiener Chelsea.

Kevin Seconds: Off Stockton (Rise Records)

Die Sonne scheint, bald ist es Frühling, draußen ist es wieder bunter, der Winter samt schlechter Laune wird abgelöst von gelassen-fröhlicher Zufriedenheit. Das passiert einfach so, das ist der Lauf der Dinge. Jahreszeiten sei Dank. Und so verhält es sich auch mit den eigenen Jahren und der Gemütslage. Die Aufregung, die schlechte Stimmung wird weniger, die Wellnessentspannung rückt näher. Das passiert einfach so, das ist der Lauf der Dinge. Älterwerden sei Dank. Das weiß auch der Folk-Punk-Rocker Kevin Seconds. In den 1980er-Jahren war der Sänger aus Kalifornien mit seiner Hardcoreband „7 Seconds“ stilprägendes Sprachrohr eines ganzen Aufwasches an wütenden, zuweilen schlecht gelaunten Jugendlichen. Und zwar nachhaltig, wie die zahlreichen Coverversionen von Hymnen wie „Young Till I Die“ bis heute belegen. Aber mit dem Jungsein ist es dann – zumindest körperlich – irgendwann einmal vorbei, und man kann sich reinen Gewissens den ruhigeren Dingen des Lebens und des Alltags widmen. Das macht auch Kevin Seconds auf seinem sechsten Soloalbum „Off Stockton“. Einzige Kontinuität in all den Jahren: damals wie heute hüpft kaum ein Song über die Zwei-Minuten-Marke. Statt lautem Geschrei finden sich Folk- und Countrytöne, leichte Percussions und milde Streicher auf den zehn Stücken. Darüber erzählt Seconds mit seiner nach wie vor einnehmenden Stimme kleine Geschichten, Momente und Alltagsskizzen. Statt Unruhe hinterlässt der 52-Jährige mittlerweile erquickende Minuten. Auf die Dauer ist es halt dann doch angenehmer, sich mit der Gitarre an der Frühlingssonne zu erfreuen, als ständig gegen das schlechte Wetter anzuschreien. Einziger Wehrmutstropfen: Seconds gefällt dieser Zustand so sehr, dass er eigentlich ein einziges Lied über ein ganzes Album ausgedehnt hat. Ein bisschen mehr Abwechslung könnte auch in der Sonne sitzend nicht schaden. Denn bis zur Punk-Rock-Pension sind es dann doch noch ein paar Jahre. (6.0/10) S. W.

Kevin Seconds spielt am 26. April beim Overdrive Festival in Kapfenberg.

profil-Wertung:
Von "0" (absolute Niederlage) bis "10" (Klassiker)

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.