Verhandlungssache

Kritik. Alltagsthriller aus dem Iran: "Nader und Simin“

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Das alte Vorurteil, dem zufolge populäres Kino mit der Lebensrealität der Menschen lange schon nichts mehr zu tun habe, wird hier zerschlagen: Das Gesellschaftspanorama, das der iranische Regisseur Asghar Farhadi in "Nader und Simin - eine Trennung“, dem Siegerfilm der Berlinale 2011, skizziert, ist unmittelbar zugänglich, dabei von äußerster Komplexität und moralischer Ambivalenz.

Ein ans Bett gefesselter Greis wird von seiner Pflegerin kurz vernachlässigt, die dafür gute Gründe hat und selbst unter Druck steht; sie ist schwanger und stürzt, hinausgeworfen vom Sohn des Alten, über die Treppe, verliert ihr Kind. Die Frau des Wütenden wird daran gehindert, das Land mit Mann und Tochter zu verlassen, sie verkündet das Ende ihrer Ehe. So geht diese Erzählung dreifach vor Gericht, berührt schmerzhafte Fragen des Familien-, des Scheidungs-und Strafrechts, lässt Traditionalismus auf Liberalismus treffen. Farhadi verhandelt mehr als bloß individuelle Schuld: nämlich den Zustand einer ganzen Nation. "Nader und Simin“ ist (in jedem Sinne des Begriffs) offenes Kino, es stellt seine vielen Themen spannend zur Debatte, verweigert jede Parteinahme. Das ist die Stärke dieses auch darstellerisch so brillanten Werks: Man kann sehr bald schon nicht mehr sagen, wer hier Recht hat - und wie das unselige, ins Private eingreifende Zusammenspiel von Religion und Justiz aufzubrechen wäre. Es ist, wenn man verstehen will, wie im Iran gelebt, geurteilt und gedacht wird, unerlässlich, diesen Film zu sehen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.