Psychiaterin: „Es töten ja meist die Unterlegenen“

Psychiaterin: „Es töten ja meist die Unterlegenen“

Heidi Kastner ist forensische Psychiaterin, mehrfache Buchautorin und erreichte Weltbekanntheit durch ihr Gutachten über den Amstettner Inzest-Attentäter Josef Fritzl.

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profil: Ist jeder Mensch eines Mordes fähig? Kastner: Nein – wenn man Mord als eine geplante und vorsätzliche Handlung definiert. Ich glaube aber, dass jeder Mensch dazu fähig ist, zu töten, wenn sich eine Situation entsprechend zuspitzt. profil: Gibt es auch Menschen, deren Psyche nur gut und rein ist – ohne jegliche Abgründe? Kastner: Der gute, durch und durch reine Mensch ist ein Konstrukt. Und jeder, der von sich behauptet, so zu sein, macht sich dadurch auch schon gleich einmal verdächtig. Das bedeutet nämlich auch, dass er die negativen Aspekte seiner Persönlichkeit ignoriert, negiert und sie ihm auch nicht zugänglich sind. profil: Es heißt, dass Kränkung die Ursache der meisten Gewalttaten ist. Kastner: Bei Konfliktpartnern töten ja meist die Unterlegenen. Ich würde aber gar nicht so weit in den modernen Kränkungsbegriff hinein marschieren. Beginnen wir beim Selbstwertgefühl. Tatsächlich reicht ein Spalt, der zwischen der Eigenwahrnehmung und der Außenwahrnehmung klafft. Wenn das Bild, das ein Mensch von sich hat, von außen nicht bestätigt wird und der Spalt sich dann auch noch kontinuierlich vergrößert, dann kann sich ohnmächtige Verzweiflung, gepaart mit Aggression, breitmachen.

Problematisch wird es, wenn die Fähigkeit zur Kritik und Selbstreflexion fehlt.

profil: Aber gehört nicht ein Unterschied zwischen der Eigen- und Außenwahrnehmung zum Alltag? Kastner: Natürlich. Das Aufrechterhalten eines lebenswerten Selbstwertkonzepts ist ein starker Antrieb – viel von dem, was wir machen und altruistisch leisten, steht damit im Zusammenhang. Problematisch wird es, wenn die Fähigkeit zur Kritik und Selbstreflexion fehlt. Und jemand unfähig ist, sein Verhalten entsprechend zu modifizieren. Wenn dieser Spalt nicht geschlossen werden kann und sich immer mehr das Gefühl, nicht geschätzt und schlecht behandelt zu werden, in einem Menschen Bahn bricht, dann wird Energie freigesetzt, die sich auch in Tötungsdelikten kanalisieren kann. profil: Bei der Definition des Psychopathen wird die Abwesenheit von Empathie häufig angeführt. Kastner: Ich wehre mich gegen den Begriff Empathie, denn der bezeichnet nur die Fähigkeit, sich in die Gefühle von jemandem hineinversetzen zu können. Und dafür haben manipulative, sadistische Menschen ein gutes Gespür. Es ist ein Mangel an Mitgefühl, der bei Mördern häufig auftritt. Ein Mörder betrachtet sein Opfer nicht als gleichwertiges menschliches Leben und nimmt mutwillig dessen Auslöschung in Kauf.

profil: Ist die Wurzel dieses Mangels an Mitgefühl in der Kindheit zu suchen oder ist das ein Klischee? Kastner: Das ist tatsächlich oft so. Wenn mir in den wesentlich prägenden Jahren meiner Kindheit emotionale Nähe, Geborgenheit, Zeit und Zuwendung gefehlt hat, dann kann mir die Fähigkeit für das Entwickeln von Mitgefühl später fehlen. profil: Ihr berühmtester Fall war der Amstettner Inzest-Täter Josef Fritzl. Hatte Fritzl je so etwas wie Reue empfunden? Kastner: Viele Gewaltverbrecher empfinden keine Reue, sondern bedauern nur, dass sie im Gefängnis sitzen, ohne darüber nachzudenken, was jemand durch sie erleiden musste. Ihr Mitgefühl beschränkt sich ausschließlich auf sich selbst und bezieht sich nicht auf die Kollateralschäden ihrer Bedürftigkeit. profil: Wie stehen Sie zu der oft zitierten Theorie, dass Missbrauchs-Opfer häufig zu Tätern werden? Kastner: Das ist statistisch belegt, allerdings haben sich die Erhebungszahlen in den letzten Jahren reduziert. Früher sprach man von 30 Prozent, heute spricht man von 13 Prozent von Opfern, die später zum Täter wurden.

Affektdelikte kommen aber vor, sind jedoch extrem selten.

profil: Missbrauch ist ja nicht nur auf Gewaltakte beschränkt. Es gibt auch einen Missbrauch der Wahrheit, der sich in Lebenslügen manifestieren kann, die über Generationen weitergetragen werden. Kastner: Beim Thema Lügen muss man mehrere Dinge unterscheiden. Menschen lügen bisweilen, um sich ihre Kohärenz zu sichern. Das bedeutet, sie reden sich Dinge schön, um sich unangenehme Gefühle zu ersparen. Dann gibt es jene, die früher selbst belogen wurden und für sich so einen Ausgleich schaffen wollen. Andere haben das Lügen als Strategie im Alltag einfach erlernt und mit der Muttermilch aufgesogen. Die sehen darin kein Vergehen. profil: Wo bleiben da die Pseudologen? Kastner: Die finden Sie auf der Checkliste der Psychopathie. Das sind die Menschen, die aus Spaß am Lügen den anderen Wuchteln aufs Auge drücken und sich dabei großartig fühlen. Oft gehen sie dabei ziemlich dumm und leicht durchschaubar vor. profil: Oft hört man, dass Menschen nach einem Gewaltverbrechen ihre Tat mit Sätzen wie „Ich war außer mir“ rechtfertigen. Glaubwürdig? Kastner: Natürlich sind solche Begründungen häufig dazu da, um die internalisierten Moralinstanzen, sprich das schlechte Gewissen, zu beruhigen. Affektdelikte kommen aber vor, sind jedoch extrem selten.

profil: Wie kann man sich das vorstellen? Kastner: Da schießt eine Emotion so heftig ein, dass das Persönlichkeitsgefüge des Betroffenen zerbricht, die normalen Steuerungsmechanismen aussetzen und es zu einer Dissoziation kommt. profil: Wie kann man als psychiatrische Gutachterin feststellen, ob der zu Untersuchende tatsächlich an einer solchen Bewusstseinsveränderung leidet oder sie nur vorgibt? Kastner: Das kann man am Verhalten vor, während und nach der Tat ersehen. Die so schnell, fast rechtwinkelig einschießende Emotion bricht ebenso rasch wieder in sich zusammen. Oft sind solche Affekt-Täter nach dem Verbrechen völlig fassungslos, treten keine Flucht an, unternehmen Reanimationsversuche oder rufen die Rettung an, weil sie irrational hoffen, ihre Tat wieder rückgängig machen zu können. Die Tatwaffe ist in der Regel der nächste greifbare Gegenstand. In einem solchen Affekt geht niemand gezielt in die Küche und holt ein Messer aus der Lade. profil: Ist ein Täter in der Lage, Sie bei den Sitzungen für ein Gutachten auszutricksen? Oder anders gefragt: Kennen Sie alle Tricks? Kastner: Würde ich alle kennen, wäre es doch langweilig. Aber vor dem Hintergrund meiner klinischen Erfahrung und der meines Lebens, schärfte sich das Sensorium. Wie das auch bei anderen Gutachtern und Richtern der Fall ist.

Das ist doch das Spannende am Leben, dass es Rätsel aufgibt.

profil: Bei Josef Fritzl sind Sie sehr weit zurückgegangen. Kastner: Ja, bis zur Ursprungsfamilie. Fritzls Großvater hat mehrere Mägde geschwängert, sie dann vom Hof verjagt und die Kinder behalten, weil seine Frau keine kriegen konnte. In diesem Kontext haben Teile von Fritzls späterem Verhalten ein biografisches Vorbild. profil: Gibt es Mörder, die eine glückliche, liebevolle Kindheit hatten? Kastner: Ich hatte einmal so einen Fall, wo ich nichts in der Biografie des Täters fand, mit dem man sich seine Gewalttat erklären konnte. profil: Stürzt einen das in tiefe Verzweiflung? Kastner: Nein. Das ist doch das Spannende am Leben, dass es Rätsel aufgibt. Man muss akzeptieren, dass nicht alles zu erklären ist.

Psychiaterin Heidi Kastner.

Zur Person

Heidi Kastner, 56, leitet seit 2005 die Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt in Linz. Die gebürtige Oberösterreicherin gilt als einer der renommiertesten Gerichtsgutachter; sie erklärte den Amstettner Inzest-Täter (nach 27 Stunden Gesprächen) Josef Fritzl für schuldfähig und die sogenannte „Eissalonmörderin“ Estibaliz Carranza als „geistig hochgradig abnorm“. Kastner ist auch Autorin – in ihren Büchern befasste sie sich mit Vätern als Täter, dem Phänomen der Wut und dem „Tatort Trennung“. Kastner liebt Montaigne und Bach, hält Hühner und macht gegenwärtig auch eine Ausbildung zur Bäuerin – einer Tätigkeit, die sie später gerne ausüben möchte.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort