EURO 2024

Olé und Oasch

Die österreichische Fußball-Nationalmannschaft hat das Land begeistert, unterhalten und geeint. Und doch endet das Sommermärchen abrupt – und fast so wie immer: mit einer bitteren Niederlage. Was bedeutet das alles für den heimischen Sport? Und für die Nation? Sieben Erkenntnisse nach dem EM-Aus.

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Fußball sei „nicht nur Ergebnis, sondern auch Erlebnis“, erklärte Teamchef Ralf Rangnick einmal. Fußball ist manchmal aber auch „ein Scheißspiel“, stellte ORF-Experte Roman Mählich nach der 1:2-Achtelfinal-Pleite fest. Die Wortwahl ist ausnahmsweise zulässig. Die Türken waren gegen Österreich früh (nach 50 Sekunden) und mit Dusel in Führung gegangen. Der Ball hüpfte im Strafraum umher, vom Bein eines Spielers zur Hand des Tormanns, es wurde unübersichtlich. Ein Türke spritzte dazwischen. „Ja gibt’s denn das?“, fragte der TV-Kommentator. Als gelernter Österreicher kann man da bloß antworten: Ja. Aber die Österreicher stürmten weiter drauflos. Arnautović und Baumgartner vernebelten Chancen. In der 95. Minute gelang beinahe der Ausgleich. Prass hob den Ball in den Strafraum, Baumgartner schob, drängelte, setzte einen starken Kopfball. Ein Computer berechnete, dass dieser mit einer Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent zu einem Tor hätte führen müssen. Der türkische Tormann wusste das nicht – und sprang einfach dazwischen. Schlusspfiff. Die Türken jubelten, Baumgartner brach in Tränen aus. Dies sei „der traurigste Tag in meinen Leben“, erklärte er. Und Michael Gregoritsch sprach vom „schlimmsten Fußballabend, den ich je erlebt habe“. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Ois oasch für Österreich“.

Das Land hatte schon vom Europameistertitel geträumt. Oder zumindest von einem Halbfinale. Die Erwartungen waren neu. Der österreichische Fußball hatte nie große Ziele. Müder Fußball, zankende Funktionäre, überforderte Trainer – das war lange Alltag im ÖFB. Nun wurde man auf einmal Gruppensieger – vor Frankreich und den Niederlanden. Österreich spielte nicht mehr wie Österreich – sondern mutig, mächtig, martialisch. Sogar Armin Wolf saß mit rot-weiß-rotem Schal im „ZIB 2“-Studio. 2,44 Millionen Zuseher schauten beim Achtelfinale der Österreicher zu, 50 Prozent Marktanteil. Das gespaltene Land (Corona, Migrationsdebatte) schien durch den Erlebnisfußball des Nationalteams auf wundersame Weise geeint. Sogar Kanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler lagen sich trotz Zwistigkeiten nach dem 3:2-Sieg gegen die Niederlande in den Armen. Niemand fragte mehr nach Rechts, Links oder gar nach dem Renaturierungsgesetz – sondern: Wer schießt das nächste Tor? Baumgartner, Sabitzer, Gregoritsch, Arnautović. Die komplizierte Welt schien auf einmal leichtfüßig. Und jetzt? Ist das alles vorbei? Was bedeutet das unvollendete Sommermärchen für den heimischen Fußball? Und für die Nation?

Erkenntnis 1: Österreichs Fußball hat sich neu erfunden.

Der heimische Kick stand lange für zwei Dinge: ängstliche Männer und herbe Niederlagen. Zur nationalen Identität gehörte, sich auf dem Feld nichts zuzutrauen. Doch im letzten Jahrzehnt wandelte sich etwas im Land. Immer mehr Spieler gingen in große Ligen: David Alaba zu Bayern und Real Madrid, Konrad Laimer und Marcel Sabitzer nach Leipzig, Marko Arnautović in die Premier League und die Serie A. Sie kamen als selbstbewusste Kerle zurück. Viele Österreicher wurden im Red-Bull-Kosmos groß, dem Maschinenraum des angriffigen Fußballs. Rangnicks Vorgänger Franco Foda wusste den Vorteil seiner Truppe aber nicht zu nützen. Er hielt die Erwartungen klein und wollte auf dem Feld lieber verteidigen, anstatt anzugreifen. Gegen die Halbamateure der Färöer-Inseln pfiff er einmal seinen Spieler Andreas Ulmer zurück, der gerade einen Gegner attackieren wollte. „Warum Andi, warum?“, flehte Foda wild fuchtelnd an der Seitenlinie. In der WM-Qualifikation 2022 landete Österreich hinter Dänemark, Schottland und Israel auf dem vierten Platz. Es setzte peinliche Pleiten: 2:5 gegen Israel, 0:4 gegen Dänemark. In viereinhalb Jahren konnte kein besser klassierter Gegner besiegt werden. In der Weltrangliste rutschte Österreich auf Rang 34 ab. Die Zuschauer blieben aus.

Rangnick ist die Antithese zu Foda. Er hat einen überfallsartigen Angriffsfußball entwickelt. Gleich zu Beginn seien die Kicker auf ihn zugekommen und flehten: „Bitte lass uns attackieren!“ „Die Spieler nicht von der Leine zu lassen, macht ja keinen Sinn“, erklärte Rangnick im profil. Er impfte den Österreichern ein, überall gewinnen zu können. Egal wo, egal gegen wen. Österreich schlägt nun Weltmächte wie Kroatien, Italien, Deutschland und die Niederlande. „Wir machen uns nicht mehr in die Hose“, erklärte Teamspieler Baumgartner.

Österreichs Fußballteam begeistert seither das Land. Überall rennen Menschen in rot-weiß-roten Trikots herum. Während des Achtelfinales waren die Straßen leer gefegt wie ansonsten nur an Heiligabend. Beim Einkauf wurde Rangnick vor Kurzem von einem älteren Ehepaar angesprochen. Sie hätten kein Interesse an Fußball, verrieten sie, aber seit er hier sei, würden sie jede Partie verfolgen. Fußball kann ein perfektes Schlafmittel sein, ein eintöniges Ballgeschiebe ohne Höhepunkte. Doch seit Rangnick benötigt das Publikum Beruhigungspillen, um ein Match der Österreicher durchzustehen.

Erkenntnis 2: Rangnick hat in Österreich sein Lebensprojekt gefunden.

Begonnen hat alles damit, dass Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz vor zwölf Jahren mit dem Hubschrauber zu Ralf Rangnick flog. Er bekniete ihn, für die Fußballklubs in Salzburg und Leipzig eine Philosophie zu entwerfen. Seither ist viel passiert. Rangnick hat beide Vereine zu Spitzenklubs geformt. Angriffige, mutige Österreicher wurden dort ausgebildet oder geprägt: Xaver Schlager, Konrad Laimer, Nicolas Seiwald, Marcel Sabitzer. Sie sind heute Stützen der Nationalmannschaft. Rangnicks Konzept hievte Salzburg – und damit den österreichischen Klubfußball – in neue Sphären. Die Liga kletterte unter die Top 10 Europas. Viele kopieren seither das Modell: etwa der LASK und Sturm Graz. Halb Österreich spielt nach der Idee von Rangnick. Das war ihm bewusst, als er hier Teamchef wurde. Nun lehrt er Rangnick-Fußball für Rangnick-Spieler. Eine perfekte Kombination.

Erkenntnis 3: Der Fluch der guten Tat

Rangnick hat Österreich ein neues Selbstbewusstsein eingehaucht. „Ich möchte, dass wir die beste Mannschaft bei der Europameisterschaft sind“, erklärte er. Österreichs Ziele waren heuer so hoch wie nie. Früher galt: Dabei sein ist alles. Und: Bloß nicht blamieren. Bei den Europameisterschaften 2008 und 2016 ergatterte Österreich jeweils ein mickriges Pünktchen. 2021 gewann man zumindest gegen Nordmazedonien und die Ukraine.

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.