Die Logik des Spiels

Stefan Ruzowitzkys „Das radikal Böse“: Die Logik des Spiels

Film. Stefan Ruzowitzky Doku-Drama „Das radikal Böse“

Drucken

Schriftgröße

Wer versucht, die mörderischen Abgründe auszuloten, die sich unter Druck in, wie man gerne sagt, „ganz normalen Menschen“ auftun, wagt sich an eine der psychologisch und ästhetisch schwierigsten Aufgaben, die das Kino bietet. Denn auf die Fragen, die dieser Themenkomplex stellt, gibt es keine einfachen Antworten, und fast alle Bilder, die man dazu finden kann, sind auf die eine oder andere Weise kontaminiert – weil sie entweder obszön oder banal, ausbeuterisch oder nichtssagend sind. Auch „Das radikal Böse“ zeugt sehr deutlich von diesem Problem: Jene Massenerschießungen, die deutsche Polizeibataillone und Einsatzgruppen in Osteuropa anrichteten und die dabei ein Drittel aller Holocaust-Opfer systematisch zu Tode brachten, sind mit konventionellen filmischen Mitteln kaum zu „erklären“, nicht einmal andeutungsweise zu erschließen.

Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky hat es dennoch versucht und ist nach Aufträgen als Werbefilmer, Märchenerzähler („Hexe Lilli“) und Thriller-Handwerker („Cold Blood“), sechs Jahre nach „Die Fälscher“ zum Holocaust-Thema zurückgekehrt. Er ruft keine Geringeren als Hannah Arendt und Primo Levi als Zeugen auf: Mit dem radikal Bösen könne man sich nicht versöhnen, sagte die eine; die wahre Gefahr gehe von den „normalen Menschen“ aus, schrieb der andere. So betreibt Ruzowitzky Motivforschung. Er geht einer simplen Frage nach: Wieso befolgten die jungen Männer, die der Hitlerterror in den Osten verschlagen hatte, fraglos den Befehl, tausende Juden zu exekutieren? Er skizziert eine Geschichte von Indoktrinierung und Gruppendruck, von Feigheit, Triumphalismus und Autoritätenhörigkeit, erzählt vor allem von den Tätern selbst, deren hinterlassene Schriften (Tagebücher, Briefe, Protokolle) er zitiert. „Wie im Traum“ habe sich das Grauen ereignet, heißt es, und man hört und sieht: Übelkeit, Tränen, psychische Erschöpfung. Aber die Gewöhnung an das grauenhafte Tun habe schließlich dazu geführt, dass man das Töten routiniert, gewissermaßen von sich selbst getrennt, vollziehen konnte. So wurde die Massenvernichtung unschuldiger Kinder, Frauen und Männer zur alltäglichen, jahrelangen Arbeit.

Die Form, die Ruzowitzky wählt, ist – bei allem guten Willen – problematisch: Er stellt die Extremsituationen, in denen sich die jungen Täter und ihre Opfer wiederfanden, mit Schauspielern nach, spiegelt Originalzitate in Darstellergesichtern, und er setzt diese Re-Enactments in Split-Screen-Technik und mit mobiler Kamera um, die kunstvoll durch die Reihen der angetretenen Soldaten fährt oder aus dem Studiohimmel stürzt; er zeigt nachinszenierte Psycho-Testreihen, die des Menschen Hang zu Sadismus, Opportunismus und Gehorsamkeitsbereitschaft belegen müssen. Gespielt ist die Verstörung in den Gesichtern der jungen Soldaten, als sie den Auftrag zu den „Sonderaktionen“ kriegen, die Entgeisterung vor und nach den Erschießungen. Gespielt auch die leeren Momente zwischen den Einsätzen, das gemeinsame Lachen, das Fußballspielen, das Trinken. Immer wieder stellen sich visuelle Redundanzen ein, weil das Thema eben schwer zu bebildern ist: Minutenlang ergehen sich, während die Off-Texte laufen, Soldatendarsteller in Fotografieposen, scheu lächelnd oder überlegen glotzend. Glücklicherweise verzichtet Ruzowitzky vorerst darauf, die Blutbäder selbst nachzustellen – aber auch sie werden später in Archivaufnahmen plastisch gemacht. Der Voyeurismus, den der Regisseur thematisiert, wird von ihm am Ende auch bedient.

„Das radikal Böse“ kommt nun zunächst als Kinofilm zum Einsatz, obwohl er durchaus fernsehhaft aufbereitet ist, den einschlägigen ästhetischen Stereotypen von ORF und ZDF, die als Ko-Financiers auftreten, entspricht. Die Experten und Zeitzeugen, die Ruzowitzky befragt – darunter ein Psychiater, ein Historiker, ein Priester, amerikanische Militär- und Sozialpsychologen, ein ukrainischer Kleinstadtbürgermeister und einer der Nürnberger Chefankläger in den Prozessen gegen die höchstrangigen Vertreter der Erschießungskommandos –, analysieren zwischen den Spielszenen die Psychen der gedungenen NS-Massenmörder. Das ist hörenswert, und das Archivmaterial aus Warschau 1939, aus alten amerikanischen, französischen und deutschen Wochenschauen sowie die eingeblendeten Dokumente, Chroniken, Fotos und Erschießungsprotokolle vermitteln da und dort auch einen Sinn für die historischen Zusammenhänge.

Aber „Das radikal Böse“ ist ein Film, der das Gegenteil dessen im Sinn hat, was Claude Lanzmann in seinen viel spröderen Arbeiten versucht. Ruzowitzkys Neigung zum „traumatischen“, aber vereinfachenden Bild (der Nazi-Propagandafilm „Der ewige Jude“ wird als Blitzlichtgewitter auf die Gesichter der Jungsoldaten projiziert, und vor dem ersten Massaker blickt man in schwer atmende, verzerrte Gesichter) hält den Erkenntniswert seiner Ergebnisse gering. Und die stets präsente Tapete aus dunkel pulsierender elektronischer Musik, komponiert von Patrick Pulsinger, begleitet und berieselt cool die Bilder, aber sie tut diesen ebenso wenig Gutes wie die illustrativen Schussgeräusche, die der Regisseur zu den historischen Massakern synchronisiert: Die Logik des Spielfilms beherrscht dieses „Nonfiction-Drama“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.