Streamgeist

Streamgeist: Über die existenziellen Abgründe des Popkünstlertums

Essay. Robert Rotifer über die existenziellen Abgründe des Popkünstlertums

Drucken

Schriftgröße

Eine nächtliche Taxifahrt in Vöcklamarkt in Oberösterreich, irgendwann gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts. Nicht Völkermarkt oder Vöcklabruck, nein, kleiner: Vöcklamarkt. „Und“, fragte der Taxifahrer meinen Begleiter und mich, nachdem wir instrumentenbepackt bei ihm eingestiegen waren: „Ihr habts da drin jetzt gespielt? Was kriegt ma denn da dafür?“ – „400 Euro“, so die ehrliche Antwort. Für die damalige Zeit war das, an Größe des Orts und des Lokals gemessen, durchaus anständig, für die heutige sowieso – da würde man in einem solchen Ort auf Eintritt spielen oder, noch wahrscheinlicher, es gäbe den Veranstalter gar nicht mehr.

„Meine Freunde und ich, wir spielen auf Hochzeiten“, erklärte der Taxifahrer ungefragt: „Und für 400 Euro mach ich nicht einmal meinen Koffer auf.“ Ich beschloss, ihm nicht zu sagen, dass ich für diesen und zwei weitere Auftritte eigens aus England angereist war, in der Hoffnung, nebenher vielleicht ein paar Platten zu verkaufen. Man muss ein bisschen Selbstachtung wahren. Und für manche bedeutet das eben, dass sie lieber unter solchen Bedingungen die eigenen Songs statt „Achy Breaky Heart“ von Billy Ray Cyrus spielen. Obwohl mir die Idee von der Hochzeitsband seither immer öfter wieder einfällt.

„Und? Kannst du von der Musik leben?“ Das ist eine Frage, die mich schon öfter in Verlegenheit gebracht hat. Gestellt wird sie fast immer von Menschen über 50. Nicht nur, weil die Leute ab diesem gewissen Alter zunehmend taktloser werden, sondern weil sie aus einer Zeit kommen, als man damit rechnen konnte, dass jemand, der so wie ich sieben oder acht Alben herausgebracht hat, ganz offensichtlich ein Label hinter sich hatte, das diesen Aufwand auch wirtschaftlich fand. Insbesondere die Popmusik emanzipierte sich mit dieser Logik von der höheren Anerkennung seitens des kulturellen Establishments und der darin impliziten Pflicht zur Repräsentation. Sie bezahlte dafür mit dem Einbüßen des Privilegs der künstlerischen Selbstlegitimierung, aber die war ohnehin stets eine Illusion gewesen. Der Avantgardist durfte ja auch nur dann Krach machen oder absolute Stille erzeugen, wenn er vorher an der Akademie glaubhaft das Beherrschen aller Etüden unter Beweis gestellt hatte.

Der elitäre Glaube an klassische Ausbildung als Berechtigung für künstlerischen Ausdruck wurde im Pop ersetzt durch die Idee, dass alles, was sich verkauft, einen Wert haben musste – mit dem offensichtlichen Haken, dass man auf das vorherige Urteil derer, die einzuschätzen hatten, was sich verkaufen würde, vertrauen musste. Es gab keine Möglichkeit zum Gegenbeweis, und nachdem wir hier von Österreich reden, erreichte der Kreis derer, die im Pop von ihrer Musik leben konnten, sehr schnell Kongruenz mit dem Kreis derer, die davon lebten, ihnen das zu ermöglichen. Dementsprechend war das Qualitätsprädikat, das ich als Teenager in den 1980er-Jahren am öftesten zu hören kriegte, das Wort „professionell“.

Nur Bands, deren Musik eine gewisse verlässliche Vorhersehbarkeit erreichte, sollten auch davon leben dürfen. Jede Form der Überschreitung, alles, was Pop spannend zu machen drohte, war „unprofessionell“. Man sollte meinen, Punk und die Independent-Kultur hätten dieses Denken samt und sonders weggeblasen, aber nicht in Österreich, da wurde jeder Anflug von Charakter schnell wegprofessionalisiert. Nicht von der Musik leben konnten früher eben einfach die, die gar nicht so weit kamen, etwas zu verkaufen zu haben. Die waren allerdings auch eindeutig Hobby-Musiker und hatten gar keinen Grund zu erwarten, sich vom wöchentlichen Gang in den Probekeller einen Lebensunterhalt zu erwarten. Unser Begriff des „Lebens von der Musik“ geht immer noch auf diese Zeit zurück. Daher der vor allem unter Musikern herrschende Eindruck: Früher konnten Künstler von der Musik leben, heute nicht mehr.

An dieser Stelle sollte ich wohl über die Unmöglichkeit des Geldverdienens im digitalen Zeitalter jammern. Tatsache ist aber auch, dass mit dem technologischen Wandel nicht nur die Musikindustrie geschrumpft, sondern dank erheblich billiger gewordener Produktionsmittel die Anzahl der digital und in Tonträgerform erhältlichen Werke in unüberschaubare Größenordnungen explodiert ist.

Interessanterweise sagt uns zum Beispiel Bandcamp, die bei 15 Prozent Provision und völlig freier Preisgestaltung für Künstler bei Weitem beste digitale Do-It-Yourself-Verkaufsplattform für Tonträger und digitale Files, dass man seit der Gründung 2008 73 Millionen Dollar erwirtschaftet habe, allein 2,8 Millionen Dollar in den vergangenen 30 Tagen – aber nicht, auf wie viele Künstler sich dies aufteilt.

Wir erfahren dagegen sehr wohl, dass auf Bandcamp 1,4 Millionen Alben online stehen. Durchschnittlich ergibt das also einen aktuellen Monatsumsatz von zwei Dollar pro auf Bandcamp veröffentlichtem Album. Keine Lebensbasis, selbst wenn jemand 100 Alben auf Bandcamp stehen hat. Dass auch Spotify mit den Krümeln, die es zu verteilen hat, selbst für die größten Bands keine Existenzgrundlage darstellt, hat sich vielleicht schon herumgesprochen.

Wir kennen nun das Anfang Mai durch die News-Sites gegeisterte Beispiel der Band Vulfpeck, die ein Album namens „Sleepify“ auf Spotify stellte, dessen Songs jeweils aus 30 Sekunden Stille bestanden. Durch ständiges automatisiertes nächtliches Streamen dieses Albums spielten die Fans der Band 20.000 Dollar ein, mit denen Vulfpeck dann ihre nächste Tour finanzierten. Spotify hat das Album inzwischen gelöscht, weil es gegen seine Nutzungsbestimmungen verstößt – allerdings nur wegen der Stille, nicht wegen der Idee, seine Fans zum Dauerstreamen aufzurufen.
Man ahnt, dass die Leute, die heute auf Spotify und anderen großen Streaming-Diensten werben, sich angesichts des „Sleepify“-Experiments fragen werden, was all die Klicks, für die sie da bezahlen, eigentlich wert sind.

Aber begehen wir einmal mutwillig denselben Denkfehler wie viele Musikschaffende und stellen wir uns vor, die digitale Revolution wäre nur im Bereich der Produktion und nicht im Bereich des Konsums vonstatten gegangen, Musik müsste immer noch als Tonträger gekauft werden. Berthold Seliger rechnet uns in seinem Buch „Das Geschäft mit der Musik“ vor, dass eine durchschnittliche Indie-Band nach allen Aus- und Abgaben unterm Strich zwischen 300 und 400 Euro an 1000 verkauften Tonträgern verdient.

Allein in den USA erschienen Anfang des laufenden Jahrzehnts rund 77.000 physische Alben pro Jahr. Man muss gar nicht erst zu rechnen beginnen, um zu wissen, dass dieser Markt vor lauter Übersättigung nur noch schwefelig rülpst und die Künstler hinter all diesen Alben nie und nimmer ernähren könnte.

Es gibt nicht nur zu viele Bands. Solange es Software gibt, werden sie alle auch viel zu viel reproduzierbare Musik herstellen, die professionell klingt, die aber keiner braucht. Wenn man über den Daumen gepeilte 99,9 Prozent der 1,4 Millionen Alben auf Bandcamp allein abzieht, bleiben immer noch 1400 essenzielle aktuelle Alben über. Aber wer soll bestimmen, welche das sind?

Wie alle Musiker bestätigen werden, ist Musik, die keiner braucht, immer nur solche, die die anderen machen. Während wir früher große Werke von Bill Fay und John Howard und Damon und Rodriguez und Linda Perhacs verpasst haben, ganz zu schweigen von den unrealisierten Werken all derer, die von den Ermöglichern zu Unrecht nicht als der Ermöglichung würdig erachtet wurden, haben wir es heute mit den unbegrenzten Möglichkeiten der narzisstischen Selbstverwirklichung zu tun. Der verbilligten Ökonomie der Produktion steht daher, und das ist die von den Jubelpropheten des digitalen Zeitalters am häufigsten übersehene Crux, eine unverhältnismäßig härter gewordene Ökonomie der Aufmerksamkeit gegenüber.

Aufmerksamkeit aber lässt sich bezahlen, und dafür sind die Leute da, die von der Musik leben, ohne welche zu machen: die PR-Agenturen und Radio-Plugger. Etwa 10.000 Pfund muss man ihnen in Großbritannien in den Mund stopfen, um eine Single in Presse, Radio und Blogs unterzubringen. Mit der so lukrierten Aufmerksamkeit kann man nicht nur seine Musik verkaufen, man gerät auch ins Blickfeld der Booking-Agenturen, die einem die fett bezahlten oberen Festival-Slots besorgen können. Wieder eine dicht geknüpfte Seilschaft, die ebenfalls gut von der Musik anderer lebt.
Dies nur für jene, die einem dann erklären, sie hätten in der Zeitung gelesen, dass man heutzutage eben mit Live-Spielen sein Geld machen müsse. Die unteren zwei Drittel bis drei Viertel jedes großen Festival-Line-Ups spielen de facto gratis, und die Gagen in angloamerikanischen, mittlerweile aber auch deutschen Clubs sind entweder nicht vorhanden oder nicht erwähnenswert.

So oder so ist ein sehr hohes Anfangskapital nötig, um irgendwie in die profitable Zone des Live-Geschäfts zu kommen. Der Verfasser gibt offen zu, selbst eine finanziell sorgenfreie Jugend genossen zu haben, umso deutlicher fällt ihm auf, dass die britische Popszene mittlerweile von der Sorte junger Menschen aus besserem Haus bevölkert wird, die einem früher gern mit nonchalantem Lächeln zu versichern pflegten, dass sie daran dächten, fürs Erste einmal ein Jahr lang „auf Reisen“ zu gehen.
So ist die Popkarriere eine Aktivität für das „Gap Year“ geworden, eine Art glamouröseres Praktikum für den Lebenslauf. Aber warum spielt das überhaupt eine Rolle? Weil Popkultur immer und eigentlich nur dort spannend war, wo sie Gegenöffentlichkeit spielte. Popkultur war nie authentisches Ausdrucksmittel der jungen Working Class, sondern ein Ort, wo neue Identitäten erfunden werden konnten. Im Gegensatz zu anderen, elitären Formen des künstlerischen Ausdrucks war der Zugang dazu aber ein vergleichsweise offener. Graham Nash beispielsweise, der spätere Partner von Crosby, Stills und Young, verdiente in den frühen 1960er-Jahren als Live-Musiker noch ohne Plattenvertrag bereits mehr als seine Eltern zusammen. Im 21. Jahrhundert gibt es dagegen außer der Erniedrigungsmaschine der TV-Talente-Shows für seinesgleichen faktisch keine Möglichkeit, an den Punkt zu gelangen, an dem man von der Musik, die man macht, leben könnte.

Die inhaltlichen Veränderungen, die dies in der Popkultur nach sich zieht, sind bereits zu beobachten – und zwar nicht nur in Gestalt hunderter Hipster-Bands mit Vintage-Gitarren und Vintage-Synths, welche die Festivalbühnen der Welt mit ihrem Wehklagen über gar nichts beschallen, sondern auch dort, wo Musik tatsächlich noch Profit macht.
Unlängst las ich im Londoner „Evening Standard“ einen Artikel über Scooter Braun, bezeichnenderweise nicht im Kultur-, sondern im Wirtschaftsteil. Braun ist ein nach L. A. verzogener New Yorker Party-Veranstalter, hauptsächlich Manager von Justin Bieber, dem K-Pop-Star Psy und dem britischen Singer-Songwriter Ed Sheeran; nebenher ist er aber auch Teilhaber bei Spotify und bei der Taxi-App Uber. Und falls Sie gerade schon gedacht haben: Was soll denn das Dauergerede vom Musikmarkt, das Geld liegt doch längst in den Sync-Deals und in der Film- und Werbeindustrie? Genau so sieht das Scooter Braun auch.

Und er erzählt dem „Evening Standard“ davon, wie er neulich mit Ed Sheeran zusammensaß und sie darüber redeten, wie wenig von seinem Geld Ed aus traditionellen Quellen wie Tonträger- und Downloadverkäufen bezieht – im Gegensatz zu Werbung und Film und Fernsehen, wo die naive Befindlichkeitsromantik seiner Songs so gut reinpasst, während Justin Bieber offenbar vor allem mit seinen Parfüms abräumt. Aber Eds Mentor und Freund Scooter denkt schon weiter und hat ein Zusammenarbeitsmodell namens „The Creative Studio“ mit der Werbeagentur Bartle Bogle Hegarty ausgearbeitet. Die Werbewirtschaft will nämlich nicht mehr nur geistiges Eigentum für ihre Produkte ankaufen oder ausleihen, sie will es selbst herstellen und besitzen. Dann ist vom Entdecken der Künstler über die Produktion, vom Werbespot bis zum Videoclip, von der Vermarktung und Medienarbeit bis hin zur Verwertung in Film und Fernsehen endlich alles in einer Hand.

Seine größte Angst, sagt Scooter Braun, sei, dass er eines Tages aufwachen und keinen „coolen Shit“ mehr machten könne. Es scheint logisch: Der werbekonforme coole Shit, der hier abgesondert wird, kann in Ursprung und Funktion kaum der neue Punk, auch nicht der neue Bowie sein. Wie man von der Musik lebt, wie man von ihr leben kann, ist somit auch eine politische Frage. Und da wäre noch nicht einmal das in Österreich so wichtige Thema der öffentlichen Förderungen angesprochen. Aber es geht ja hier ums Leben von der Musik, nicht um das Leben vom Wissen, wie man Anträge stellt, wiewohl dieses ebenso widersprüchlich und an ebenso viele inhaltliche Bedingungen geknüpft ist wie die Kooperation mit der Werbewirtschaft. Aber auch das sind eben: politische Fragen.

Ich erinnere mich an eine Zeit vor fünf, sechs Jahren, bevor auch der musikalische Merchandise-Markt schon den Saturationspunkt erreicht hatte, als es hieß, man solle halt statt Platten T-Shirts verkaufen. Ich versuchte also herauszufinden, ob es irgendwelche T-Shirts gab, die unter menschlich vertretbaren Bedingungen hergestellt wurden. Es gab sie, aber zu einem Preis, der die zur Finanzierung der Musik erhofften Profitspannen nicht mehr zuließ. Mir fiel dabei eine Reportage ein, die ich Anfang der 1990er-Jahre über Textilarbeiterinnen im Waldviertel gemacht hatte. Unter dem Druck der damaligen Konkurrenz in Osteuropa sahen sie sich genötigt, für Sub-Arbeitslosenlohn in Fabriken, die es heute alle nicht mehr gibt, im Akkord zu arbeiten. Die Musikerinnen und Musiker sind also nicht die Ersten, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, viele andere Branchen standen schon an diesem Punkt. Weitere Schlussfolgerungen findet man in der Debatte um das gesetzliche Mindesteinkommen. Oder gleich bei Thomas Piketty.

Zur Person
Robert Rotifer, 44, veröffentlicht unter dem Bandnamen Rotifer seit 2001 international beachtete Alben. Das jüngste heißt „The Cavalry Never Showed Up“ (Gare du Nord Records/Wohnzimmer, 2013). Der hier abgedruckte Text geht auf eine Rede zurück, die Rotifer unlängst bei der 20-Jahr-Feier des Wiener MICA (music information center austria) hielt. Er lebt und arbeitet als Musikjournalist, Moderator und Blogger u. a. für FM4 in Canterbury, England.