Vampire, Superhelden, Todesstrahlen: Die 5 wichtigsten Graphic Novels 2013
Von Philip Dulle
Joann Sfar: Vampir
Ferdinand ist kein gewöhnlicher Vampir. Er beißt seine Opfer nur mit einem Zahn, ist manchmal etwas antriebslos, sammelt alte Vinyl-Platten, ist belesen und in amouröse Abenteuer mit dem Baummädchen Liou verstrickt; verliert nie seine menschliche Seite ist ein Schöngeist und Romantiker. Eine Schreckensgestalt ist Fernand, wie der Vampir im französischem Original heißt, trotz seiner Nosferatu-Fratze nicht. Erfunden hat die Geschichte um den Grand Vampir der französische Zeichenvirtuose und Filmregisseur Joann Sfar (Gainsbourg, 2010) bereits 2001; die ersten vier Alben der Serie liegen nun endlich in einem Sammelband auf Deutsch vor. Wie charmant Sfar die Geschichten um den Grand Vampir konstruiert, beweist allein das wunderbar neurotische Nebenfiguren-Ensemble: da gibt es die schönen, aber schwer zu ertragenden Schwestern Aspirine und Ritalina, einen jüdischen Buchhändler und den Werwolf-Kumpel. In Joann Sfars Vampir-Abenteuern finden sich all die Inspirationen wieder, die den umtriebigen Zeichner seit jeher beschäftigen: die Mythen und die Kultur des europäischen Judentums, die Liebe zum Stummfilm und das Leben der Pariser Bohème. Für Lese-Feingeister.
(Avant Verlag, 216 Seiten, EUR 30,80)
Isabel Greenberg: Die Enzyklopädie der Frühen Erde
Der Beginn einer hinreißenden Liebesgeschichte: In den eisigen Gewässern des Südpols begegnen sich ein Nordler und eine Südlerin mit ihren Kanus. Ich mag deine Fäustlinge, sagt er, und sie: Ich deine auch. Sie rudern aufeinander zu, doch das geheimnisvolle Magnetfeld der Frühen Erde trennt sie wie eine unsichtbare Wand. Isabel Greenberg erzählt in ihrer Graphic Novel Die Enzyklopädie der Frühen Erde von den Abenteuern des Nordlers, die er seiner Angebeteten, weil sie sich nicht berühren können, am Lagerfeuer erzählt: wie er als erster Mensch die Frühe Erde im Kanu bereist hat, wie er von einem Wal verschluckt wurde, von todbringenden Sirenen und einäugigen Riesen. Die Enzyklopädie der Frühen Erde ist ein magisches Universum, voll beeindruckender Bilder und Geschichten, die sich Menschen schon immer erzählt haben und immer erzählen werden.
(Insel Verlag, 176 Seiten, EUR 28,80)
Chris Ware: Jimmy Corrigan Der klügste Junge der Welt
Es gibt Geschichten, die nur als Comic erzählt werden können. Der US-amerikanische Zeichner Chris Ware schuf schon zur Millenniumswende ein Werk, das auf knapp 400 bis ins kleinste Detail perfekt inszenierten Seiten beweist, zu welch grandioser Erzählweise die Kombination aus Bild und Wort möglich ist. Der titelgebende Anti-Held Jimmy Corrigan ist ein kahlköpfiger und trauriger Mittdreißiger, der als Büroangestellter ein einsames Dasein fristet, bis ihn ein Brief seines verschollenen Vaters aus der Tristesse reißt. Chris Ware zieht die Familienhistorie über ein ganzes Jahrhundert: Jimmy Corrigan spielt im Chicago der 1890er- bis in die 1980er-Jahre und erzählt mit lakonischem Witz vom Verlassen-Werden, von Hurensöhnen, Waisen und Außenseitern. Mit Jimmy Corrigan Der klügste Junge der Welt veränderte Chris Ware nicht nur den Blick auf das Comic-Genre, sondern schuf ein Kleinod voller Sehnsucht, Wut und erzählerischer Raffinesse. Dreizehn Jahre nach der Erstveröffentlichung ist sein Opus magnum endlich auch auf Deutsch erschienen.
(Reprodukt, 384 Seiten, EUR 40,10)
Daniel Clowes: Der Todesstrahl
Klassisches Superhelden-Setting: Amerika in den späten siebziger Jahren. Andy, ein 17-jähiger Außenseiter, der als Waise bei seinen dahinsiechenden Großeltern lebt, nur einen Freund hat und der hoffnungslosen Liebe zu einem kalifornischen Dream Girl nachhängt, findet just in Form einer Zigarette einen Ausweg aus seinem tristen Alltag. Weil er zu rauchen beginnt, hat Andy plötzlich Superkräfte. Als Baby, so soll sich herausstellen, sind ihm Super-Hormone verabreicht worden, die das Nikotin nun aktiviert. Außerdem fällt ihm das Erbe seines Vaters in die Hände: ein Todesstrahler. Was eben nach einer skurrilen, aber durchaus klassischen Superhelden-Geschichte klingt, beginnt als Coming-of-Age-Geschichte, die aber nach wenigen Seiten in einer bitterbösen Satire endet. Zeichner Daniel Clowes (Ghost World) schickt seinen Anti-Helden los, um in der Stadt ein wenig aufzuräumen und die Heldengerechtigkeit gekonnt demaskierend über Gut und Böse zu urteilen.
(Reprodukt, 48 Seiten, EUR 20,60)
Nicolas Mahler nach Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Kein Strich zu viel, kein Wort verschenkt: Der Wiener Zeichner und Karikaturist Nicolas Mahler, mit über 50 Buchveröffentlichungen ein Meister seines Faches, wagt das Experiment, Musils Literaturklassikerziegel Der Mann ohne Eigenschaften auf knappe 150 Seiten herunter zu brechen. Dabei ist Mahlers Adaption des kanonisierten Wälzers, den jeder kennt, aber nur wenige gelesen haben, keine Zusammenfassung für Lesefaule, sondern vielmehr eine mutige und hochgradig respektlose Interpretation. Ein Destillat, das hauptsächlich ohne Wörter funktioniert, unterschiedliche Figuren und Handlungsstränge zusammenfasst und dabei das Kunststück vollbringt, die verwickelte Geschichte nonchalant neu zu erzählen. Belohnt wird ohnehin, wer sich darauf einlässt. Dabei bringt es ein weiterer, auch von Mahler adaptierter Klassiker auf den Punkt: Ich habe niemals in meinem Leben ein einziges Buch ausgelesen, lässt Thomas Bernhard den Kunstkritiker Reger in Alte Meister feststellen. Meine Art zu lesen ist die eines hochgradig talentierten Umblätterers ... Wer alles liest, hat nichts begriffen.
(Suhrkamp, 156 Seiten, EUR 19,60)