Religion

Warum so viele Nichtchristen Weihnachten feiern

Warum ist Weihnachten so wichtig? Die Menschen können ohne Religion leben, aber nicht ohne Rituale, sagt die Philosophin Lisz Hirn.

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Nicht zum ersten Mal wird die Weihnachtszeit von der Realität eingeholt: „Bethlehem steht vor einem traurigen und einsamen Weihnachtsfest“, meldete die APA zehn Tage vor dem Heiligen Abend. Auf Anordnung der Stadtverwaltung im Westjordanland gibt es wegen des Nahost-Krieges weder Christbaum noch Krippe, weder festliche Musik noch bunte Dekorationen.

Weihnachten steht also nach den Jahren der Pandemie und der Lockdowns auch dieses Jahr wieder auf der Kippe. Dabei  ist der Wunsch nach Besinnlichkeit, Trost und Zusammenkommen in Zeiten von Kriegen und Krisen groß wie nie – auch wenn laut einer aktuellen „Standard“-Umfrage nur noch 16 Prozent der Österreicher:innen an Jesus Christus glauben. Auch die religiöse Landschaft spiegelt diesen Trend: Bekannten sich 2001 noch knapp 74 Prozent der Bevölkerung zur römisch-katholischen Kirche, waren es 20 Jahre später laut Statistik Austria gerade noch gut 55 Prozent. Warum aber feiert in einem Land wie Österreich, in dem die Zahl der Christen seit Jahrzehnten kontinuierlich zurückgeht, ein Gutteil der Menschen Weihnachten, auch wenn sie nicht an die Christi-Geburt glauben? 

„Der Mensch ist ein trostbedürftiges Wesen“

Nachfrage bei der Wiener Philosophin Lisz Hirn, die sich bereits im ersten Covid-Jahr mit dem Trost von Weihnachten in ungewissen Zeiten befasst hat. Haben die Krisenjahre den Wert von Weihnachten wieder in den Fokus gerückt? „Der Mensch ist generell trostbedürftig. Aufgrund seiner Disposition, also seiner Vernunftbegabung, erkennt das menschliche Wesen seine Mängel und Grenzen“, erklärt Hirn gegenüber profil. Um dieser unerträglichen Erkenntnis beizukommen, also weiterleben zu können, bedarf der Mensch des Trostes, der ihm hilft, die unangenehme Wirklichkeit zu verdrängen, unser aller Endlichkeit auszublenden. „Was uns vor wenigen Jahren noch leicht fiel, geht nun schwerer. Nicht mehr nur die Jungen quält die böse Ahnung, dass nicht nur woanders, sondern auch hier alles schlechter wird.“

„Weihnachten ist ein säkularisiertes Fest, das für viele zu einem weltlichen Ereignis geworden ist.“

Theologe Johann Pock

Theologe Johann Pock erklärt es so: „Für viele ist Weihnachten heute ein Fest der Familie und Beziehungen, der Liebe und des Zusammenkommens.“ Der ursprüngliche Anlass, die Geburt des Erlösers, rücke in den Hintergrund. „Weihnachten ist ein säkularisiertes Fest, das für viele zu einem weltlichen Ereignis geworden ist.“ Das sei aber gar nicht negativ zu verstehen, meint der Experte von der Universität Wien, auch wenn das manch christlicher Kommentator vielleicht so sehen würde. Gläubige, die das Fest religiös feiern möchten, haben immer noch die Möglichkeit dazu. Säkularisierung bedeute für die Kirche auch ein Ankommen in der Welt und die Chance, mit den Umständen, die man vorfinde, zu arbeiten.

Philosophin Lisz Hirn

Philosophin Lisz Hirn. Zuletzt erschien ihr Buch „Der überschätzte Mensch“ (Zsolnay, 2023)

Und auch die Philosophin sieht das nicht anders: „Der säkulare Mensch kann zwar ohne Religion leben, aber nicht ohne Ritual.“ Letzteres bleibe in der Form erhalten, selbst wenn sein ursprünglicher Inhalt verblasse. Darum ist das jeweilige religiöse Bekenntnis auch längst nicht mehr ausschlaggebend, ob man Weihnachten feiere oder nicht, so Hirn: „Das Besondere an solchen Ritualen ist, dass sie so allgemein gehalten sind, dass sie den Menschen geben, was viele in einer zunehmend entgrenzten und unübersichtlichen Welt brauchen: einen kollektiven Rhythmus, der der zwiespältigen Erfahrung unserer eigenen Endlichkeit eine Struktur abringen kann.“

Für fast jeden was dabei

Im Umfeld des Weihnachtsfestes gebe es heute unterschiedlichste Interessen zu beobachten, erklärt Theologe Pock – vor allem auch marktwirtschaftliche. „Weihnachten ist wie Ostern mit dem Osterhasen-Rummel oder Halloween zu Allerheiligen ein Anlass für Konsum, für die Industrie und den Tourismus.“ Der ursprüngliche Anlass, dass sich hier Gläubige zu einem zentralen Fest treffen, so Pock, sei nur ein kleiner Teil des Ganzen. Somit ist zu Weihnachten für (fast) jeden etwas dabei.

„Wer hat etwas gegen ein neugeborenes Kind?“

Warum Weihnachten in einem Land wie Österreich, das unterschiedliche christliche Feiertage begeht, gerade so heraussticht, erklärt der Theologe so: „Weihnachten ist ein rundum emotionales, positives Fest.“ Ostern, wo es um Tod und Auferstehen gehe, sei theologisch wiederum viel komplexer und universell schwerer zu vermitteln: „Wer hat etwas gegen ein neugeborenes Kind?“, fragt er rhetorisch. Es bestehe über alle Religionen und Konfessionen hinweg Einigkeit, dass es sich hier um ein freudvolles Fest handle. 

Dazu komme der Umstand, dass der Heilige Abend nicht zufällig auf diesen Wintertag gelegt wurde. Das Licht in der winterlichen Dunkelheit spiele eine große Rolle, so der Theologe: „Es geht um Frieden und neues Leben, um Sehnsüchte und Hoffnungen, die in dieses Fest projiziert werden.“ Heißt: Jeder Mensch möchte, dass es besser wird, dass es heller wird, dass das Dunkle vom Krieg aufhört. Aber auch Enttäuschungen seien da vorprogrammiert, meint er. Denn Weihnachten könne diese ganzen Erwartungen einfach nicht erfüllen. „Das ganze Jahr verträgt man sich nicht und zu Weihnachten soll es dann Friede, Freude, Eierkuchen sein?“ Das gehe nicht, aber die Hoffnung sei eben da. 

„Hoffnung auf einen Retter“

Erlebt Weihnachten als Fest der Hoffnung und Trostes seit den Corona-Jahren, als es kurz so schien, als würde es keine unbeschwerten Zusammenkünfte mehr geben, also eine Renaissance? Die Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen sind in den letzten Jahren größer geworden, attestiert der Theologe nach kurzem Zögern; auch weil man merke, dass man Kriege, Krankheiten und Pandemie nicht alleine lösen könne – und das impliziere den Kern des Weihnachtsfestes: „Die Hoffnung auf einen Retter, der Frieden dort bringt, wo man selber hilflos ist.“ Außerdem ziehe man sich bei äußeren Bedrohungen gern zurück, fügt Pock noch hinzu. Man versuche, reflexhaft Traditionen zu bewahren und den engsten Kreis zu schützen, bis wieder bessere Zeiten kommen. Das sei auch im Politischen spürbar: Österreich, das eigene Bundesland, Traditionen und der Begriff Heimat stehen wieder klar im Fokus.

Auf die Welt ist also kein Verlass. Kann die Philosophie Antworten geben? „Im besten Fall stellt die Philosophie die adäquaten Fragen“, sagt die Philosophin Lisz Hirn. Worin könnten wir aber noch Trost finden, wenn wir es ernsthaft versuchten? Im Glauben an ein höchstes und gerechtes Wesen, einen deus ex machina, der in letzter Sekunde alles zum Guten wendet? Oder lieber an die Utopie einer „besseren“ Welt glauben, das Vertrauen auf eine:n große:n Führer:in richten oder gar an uns selbst? Die Botschaft vieler Philosoph:innen, so Lisz Hirn: „Der Vernünftige bedarf keines Mitleids, sondern vielmehr diejenigen, die Unvernünftiges aus Schwäche tun. Aus der Erkenntnis, das Gute und Richtige getan zu haben, ließe sich der nötige Trost gewinnen, um den Widrigkeiten standzuhalten.“

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.