Karlheinz Geißler

Zeitforscher Geißler: "Mehr Let-it-be- statt To-do-Listen"

Für eine von Stress und Erschöpfung geplagte Gesellschaft ist Zeit zum Luxusartikel geworden. Der deutsche Forscher und Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler widmet sich seit 30 Jahren dem Phänomen Zeit und untersucht, warum wir so schlecht damit umgehen können.

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„Na, Sie sind aber pünktlich!“ Das Lob aus dem Mund eines Zeitforschers für einen Anruf zum abgemachten Zeitpunkt erscheint deswegen paradox, weil Karlheinz Geißler in seinen Büchern und Seminaren für die Abschaffung der Uhren plädiert, selbst keine mehr trägt und den gesellschaftlichen Zwang zur Pünktlichkeit als überholt empfindet. Nein, nein, natürlich würde er seine Überzeugung von einer besseren Welt ohne ein Diktat der Uhr auch selbst leben, aber auf seinem Computerbildschirm habe sich eine Zeitangabe eingeschlichen. Der emeritierte Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik hat sich seit Jahrzehnten der Erforschung des Phänomens Zeit verschrieben.

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Tatsächlich leben wir in einem paradoxen Zustand, was unsere Fähigkeit im Umgang mit der Zeit betrifft. In den vergangenen 100 Jahren hat sich, so der Wiener Freizeitforscher Peter Zellmann, die durchschnittliche Arbeitszeit halbiert; der Elf-Stunden-Tag für Fabriksarbeiter war in der Ersten Republik tatsächlich die Norm; Mitte des 19. Jahrhunderts mussten Arbeiter sogar noch ein Tagespensum von bis zu 18 Stunden bewältigen. Urlaub wurde in Österreich zwar schon 1919 gesetzlich eingeführt, beschränkte sich aber auf maximal zwei Wochen pro Jahr. Seit Jänner 1975 ist die 40-Stunden-Woche gesetzlich verankert. Obwohl wir wesentlich mehr Zeit zur freien Gestaltung als alle Generationen zuvor besitzen, gilt Stress, der auch zu einem großen Teil aus Zeitkonflikten entsteht, heute als Hauptauslöser für seelische Krankheiten. Laut dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ist die Zahl der Erwerbsunfähigkeitspensionen aufgrund psychiatrischer Erkrankungen seit 1995 auf das Dreifache gestiegen. Stressbedingte Zeitkonflikte sind, so die Experten, die Ursache für viele medizinische Störungen wie Herzrhythmus-Probleme, Rückenschmerzen, Tinnitus und Migräne, um nur die häufigsten aufzuzählen.

INTERVIEW: ANGELIKA HAGER

profil: Wie erklärt sich die gesellschaftliche Talentlosigkeit im Umgang mit der Zeit und das dauernde Lamento, dass man keine oder zu wenig Zeit für alles habe? Geißler: Generationsgeschichtlich sind wir aus einer Mangelgesellschaft nach dem Krieg, in der jede Möglichkeit, Zeit individuell zu gestalten, als neue Freiheit gefeiert wurde, zu einer Überflussgesellschaft geworden. Es gibt viel zu viele Möglichkeiten, es wird alles verdichtet, und wir sind auf dieses Zuviel noch nicht eingestellt. Wir müssen verzichten lernen, ignorieren, auslassen, übersehen. Mehr Let-it-be-Listen anstelle von To-do-Listen. Die „vita activa“ ist heute zu einer sechsspurigen Autobahn ausgebaut, während die „vita contemplativa“, das beschauliche Leben, zu einem Grünstreifen zwischen den Schnellstrecken verkommen ist.

profil: Die Sehnsucht nach Stressfreiheit und Auszeiten ist inzwischen zum Fundament einer ganzen Industrie geworden. Nützen die vielen Workshops, Seminare und Antistress-Kurse? Geißler: In dem Moment, wo Zeit und der Umgang damit in diese kapitalistischen Verwertungsszenarien kommen, wird Zeit in Geld verrechnet. Das heißt, um Entschleunigung zu bekommen, müssen andere beschleunigen und sich hetzen. Das ist kein gesunder Zustand, der zu produktiven Ergebnissen führt.

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Auch Christina Maslach, US-Psychologin und Pionierin in der Erforschung des Burnout-Syndroms, verurteilt die Entschleunigungsindustrie in einem profil-Interview: „Sämtliche Kuren oder Aufenthalte in Kliniken bringen gar nichts, wenn man danach wieder zu jenen Arbeitsbedingungen zurückkehrt, die einen zuvor in den Zustand des Ausgebranntseins manövriert haben.“ In seinem neuesten Buch „Die Uhr kann gehen“ plädiert Geißler vehement für die Abschaffung der Uhr, „diesem ehernen Gehäuse der Hörigkeit“, so der Soziologe und Nationalökonom Max Weber. Die Uhrzeit, heißt es dort, „über viele Perioden neben der Arbeit die wirkmächtigste Integrationskraft der Gesellschaft, verliert ihre Dominanz als Leitinstrument sozialer Zeitgestaltung.“ Die Uhr, die um 1300 in Norditalien entwickelt wurde, als Taktgeber von Vorschriften und Restriktionen, war in ihrer Bedeutung schon immer politisch aufgeladen. Während der Barrikadenkämpfe der Pariser Julirevolution 1830 schossen die Revolutionäre beispielsweise zuallererst auf die Turmuhren, die als Symbol der herrschenden Tyrannei galten. Uhren dienten den Arbeitgebern als Herrschaftsinstrument. Der Automobil-Magnat und Erfinder des Fließbands, Henry Ford, initiierte in den 1910er-Jahren das Prinzip der Stechuhr, um die Produktivität zu erhöhen, was zu wütenden Protesten unter seinen Arbeitern führte.

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profil: Doch wie kann sich eine Gesellschaft von Zeitdruck befreien, die immer darauf konditioniert war, sich nach der Uhr zu richten – sei sie jetzt am Handgelenk oder auf dem Handy. Geißler: Befreien kann man sich nur durch rhythmisches Leben, durch ein Leben, das eben nicht vom äußeren Takt der Uhr bestimmt wird, sondern durch den Rhythmus der Natur und damit verbundene Alltagsstrukturen. Wir müssen in unserem Leben Zeiträume einführen und uns von den Zeitpunkten verabschieden. Ich strukturiere meine Tage wie einen Emmentaler. Es gibt ein Gerüst, aber es gibt jede Menge Löcher, die ich mit Zeiträumen gleichsetze. Da lass ich mich nicht wegorganisieren, sondern die Zeit auf mich zukommen.

profil: Dennoch mag das vielleicht nur in wenigen Branchen oder für Menschen, die in Pension sind, so lebbar sein. Wie realistisch ist das für Arbeitnehmer, die wettbewerbsfähig bleiben müssen? Geißler: In vielen Betrieben ist es schon möglich, dann zu beginnen, wenn man ausgeschlafen und arbeitsfähig ist. Und man muss sich nicht nach einem Wecker orientieren. Bei Fabriksarbeit geht das natürlich nicht, doch die ist ja ohnehin im Schwinden begriffen. Aber Gleitzeit ist in der Regel möglich.

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Eine Hauptursache für Stress und Zeitkonflikte ist die fortschreitende Aufhebung der Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben durch die digitale Vernetzung. „Die ständige Erreichbarkeit spielt stark in die gestörte Work-Life-Balance hinein“, so die Wiener Arbeitsforscherin Karin Sardadvar. Längst ist der 24-stündige Standby-Modus nicht mehr auf Top-Management-Kreise beschränkt, auch im Niedriglohnsegment, „wo beispielsweise Büroreinigungskräfte auf Abruf parat stehen müssen“ (Sardadvar), gibt es kein echtes Abschalten mehr. Das kommunikative Multitasking, das aufgrund der Smartphones inzwischen zur Alltagskultur geworden ist, stürzt unser Hirn in ein mentales Verkehrschaos. Laut dem kanadischen Autor Douglas Coupland verfügt die Generation Smartphone inzwischen über eine Aufmerksamkeitsspanne, die „maximal der Länge eines Beatles-Songs“ entspricht.

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profil: Wie wirkt sich diese ständige Alarmbereitschaft ohne klare Ruhezeiten auf unser Zeitempfinden aus? Geißler: Menschen, die sich von außen vertakten lassen, werden von sich selbst weggeführt. Das macht Stress. Wir müssen wieder lernen, auf unsere inneren Signale zu horchen. Nur dann können wir auch äußeren Stress aushalten und damit umgehen lernen. Seit rund 200 Jahren, seit Beginn der Industriellen Revolution, haben wir gelernt, Zeit mit Geld zu verrechnen. Aber Geld kennt kein Maß, kein Limit, deswegen haben wir das Kriterium für „genug“ oder „zu viel“ längst verloren. Die Lösung liegt immer in der eigenen Rhythmizität. Wir müssen lernen, uns selbst zu organisieren, nach unseren eigenen Bedürfnissen auszurichten.

profil: In Ihrem Buch erzählen Sie vom gesetzlich eingeführten Nachmittagsschlaf in China und vom gesellschaftlich nicht sanktionierten Konferenzschlaf in Japan. Gibt es in unserer Kultur zu wenig Ruhepausen? Geißler: Ich bin für eine gesetzlich verordnete Euro-Siesta, im Zeitraum zwischen eins und drei, wie sie ja in mediterranen Ländern ohnehin schon Teil der Alltagskultur ist. In diesen Ländern, in denen das Klima mehr Leben draußen erlaubt, stehen die Menschen auch mehr im Einklang mit der Natur. In sizilianischen Museen gibt es Schilder, auf denen steht, dass mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen wird.

profil: Sie sprechen von der „Verpünktlichung“ der Gesellschaft. Pünktlichkeit gilt doch bis heute als Zeichen für Disziplin und Höflichkeit. Ein konservativer britischer Minister hat kürzlich sogar seinen Rücktritt angeboten, weil er zu spät gekommen ist. Geißler: Exakte Zeitpunkte sind heute nicht mehr notwendig, weil wir ja jederzeit zu erreichen sind und die Flexibilität deswegen zunimmt. Wir können jederzeit anrufen, wenn wir uns um zehn Minuten verspäten. Und das meiste wird ohnehin per Mail, Chat oder SMS erledigt.

profil: Was tun wir unseren Kindern an, wenn wir ihnen schon im Kindergartenalter ihre Zeit mit diversen Förderprogrammen vertakten? Geißler: Wenn ein Kind behauptet: „Mir ist langweilig“, dann ist das für mich ein Alarmsignal. Kindern ist prinzipiell nicht langweilig. Langeweile ist nur dort möglich, wo es Uhren gibt. Wenn ihre Eltern sie zu früh organisieren und ihnen zu früh beibringen, nach der Uhr zu leben, dann nimmt man ihnen etwas Wertvolles. Ich bin auch der Überzeugung, dass die ersten drei oder vier Schuljahre flexibel gestaltet gehören, man die Grenzen zwischen den Fächern aufheben und nicht exakt nach Stundeneinheiten arbeiten soll. Bei meiner Tätigkeit als Hochschullehrer habe ich ganz genau gesehen, wann die Aufnahmebereitschaft abnimmt, und das lief oft nicht nach Stundenplan. Prinzipiell sollten Kinder und Erwachsene auf sich selbst hören. Und nicht auf die Uhr.

profil: Was sagt ein Zeitforscher zu dem Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“. Geißler: Dieser Satz stimmt nicht. Es gibt Wunden, die nie heilen und für immer bleiben.

Karlheinz A. Geißler, 74, ist Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“ und des Instituts für Zeitberatung „timesandmore“, wo er Führungskräfte, Firmen und Non-Profit-Organisationen bei Fragen der Zeitorganisation berät. Der ehemalige Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema, kürzlich erschien sein Plädoyer für ein Leben ohne Uhr und wider „die Gehorsamkeitskultur“ „Die Uhr kann gehen“, in dem er beschreibt, wie wir unser Leben ohne äußere Taktvorgabe produktiv gestalten können.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort