Millionen Wander- arbeiter in China

100 Millionen Wanderarbeiter in China: Regierung vor großen Herausforderungen

Gelten als größte politische Gefahr

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Von Kristin Kupfer, Dongguan und Shenzhen
Mitarbeit: Gunther Müller

Mit grimmiger Miene steht der Bauernsohn Yao Chunli vor der Eingangstür der Verpackungsfabrik „Zhongbao“ in Chinas südlicher Produktionsstadt Dongguan. „Ein Stundenlohn drei Yuan? Davon kann ich einfach nicht leben“, schnaubt der dürre 18-Jährige. Drei Yuan entsprechen 33 Cent. Seit vier Tagen wandert er auf der Suche nach Arbeit durch das Industrieviertel „Süden Nr. 5“ im westlichen Stadtteil Houjie. Die Gegend hier ist ziemlich trist. Gelb-graue Betonfabriken säumen die Straßen des Viertels. Dazwischen stehen ein paar heruntergekommene Garküchen und Straßenläden.

Die südliche Provinz Guangdong war lange Jahre eines der ökonomischen Aushängeschilder Chinas. Die Fabriken produzierten 2008 fast 80 Prozent der landesweiten Ausfuhren. Im Zuge der Krise sind im letzten Jahr Absatzmärkte und Aufträge weggebrochen. Nach Angaben der Provinzbehörden ist mehr als ein Viertel der Betriebe pleite. Von den verbliebenen will ein Fünftel weitere Arbeiter entlassen und knapp die Hälfte keine neuen einstellen. Oder sie bieten nur Hungerlöhne.
Im Industrieviertel „Süden Nr. 5“ zeigt sich, was das in der Realität bedeutet. Viele Gebäude haben die Rollgitter heruntergelassen, Müll liegt auf den Straßen, Polizisten laufen 24 Stunden am Tag Streife. Plakate mit der Aufschrift „Hart durchgreifen für den sozialen Frieden“ hängen zwischen Laternenmasten.

Das Polizeiaufgebot kommt nicht von ungefähr. Was der chinesischen KP-Führung derzeit besonderes Kopfzerbrechen bereitet, sind die über 100 Millionen Wanderarbeiter, die derzeit nach ihrem alljährlichen Heimaturlaub zum Neujahrsfest wieder in die Städte zurückkehren. Allein nach Guangdong werden dieses Jahr knapp zehn Millionen kommen. Doch für mindestens 2,6 Millionen wird es keine Stelle geben. Wie Yao Chunli ziehen sie nun auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt, werden entweder abgewimmelt oder mit einem Hungerlohn eingestellt.

Wanderarbeiter gelten als größte potenzielle Unruhestifter. Eine Mischung aus Überlebensdrang und Abenteuerlust treibt die überwiegend jungen Männer bäuerlicher Herkunft in die Städte. Angelockt von Bildern in Fernsehen und Internet suchen sie das schnelle Leben des urbanen Chinas. Dort haben sie den Status von Gastarbeitern mit meist nur rudimentärer sozialer Absicherung.

Laut einer Schätzung des Staatlichen Forschungszentrums für Landwirtschaft stammen vierzig Prozent der Einkünfte auf dem Land von Wanderarbeitern, die einen Teil ihrer spärlichen Löhne nach Hause schicken. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen auf dem Land ist deshalb in den letzten Jahren auf 4700 Yuan, umgerechnet etwa 500 Euro, gestiegen. Doch was passiert, wenn nun ein Drittel dieser hundert Millionen Wanderarbeiter dieses Jahr keinen Job findet? Die meisten von ihnen verfügen nicht mehr über die ursprüngliche Quelle ihrer Selbsterhaltung, das eigene Land, das sie an Immobilieninvestoren mehr oder weniger freiwillig und oft für wenig Geld veräußert haben.

In der Parteizentrale werden die Wanderarbeiter als potenzielle neue Arbeiterbewegung betrachtet. Marxistische Ökonomen fordern „ungewöhnliche Maßnahmen in ungewöhn­lichen Zeiten“. Der chinesische Gewerkschaftsfunktionär Sun Chunlan spricht sogar davon, dass „feindliche Kräfte aus dem In- und Ausland“ die Situation womöglich zu einem politischen Umsturzversuch nutzen könnten.

Noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Hier in „Süden Nr. 5“ mieten sich die meisten Wanderarbeiter tageweise in Hinterhaus-Schlafsälen für umgerechnet einen Euro ein. Die hygienischen Bedingungen sind schlecht, die Stimmung ob der tristen Jobaussichten gereizt. Yao Chunli kann noch von Glück reden. Er übernachtet vor­übergehend in einer kleinen Maschinenwerkstatt des Schwagers seines Onkels Wu Leihao zwischen den Geräten. Beide stammen aus demselben Dorf in der Provinz Guanxi sieben Zugstunden von der Stadt Dongguan entfernt.

Zwölf Jahre hat Wu in den Fabriken als Maschinist geschuftet. Anfang vergangenen Jahres eröffnete er seine eigene Werkstatt. Mit der Wirtschaftsflaute steht aber auch er nun vor dem Nichts. Dabei hatte der Anfang 40-Jährige mit seiner Werkstatt, die genügend Platz zum Wohnen bietet, auch die Familie vom Land nachholen können. „Durch die Krise haben wir nun zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“, lacht Wu verbittert.

In der Werkstatt leben mittlerweile nicht nur seine Familie und der 18-jährige Yao. Auch seine Schwägerin und deren zwei Söhne hat er vorübergehend aufgenommen. Alle suchen sie derzeit Arbeit. Das Essen – Reis und ein wenig Gemüse – reicht jeden Tag nur knapp. Wu wird allmählich ungeduldig, weil Yao zu viel vor dem einzigen Computer in der Werkstatt sitzt und im Internet surft. „Was wird denn nun, überleg dir endlich was“, faucht er
ihn an.

Falsche Versprechen. Die KP-Führung hat mittlerweile eine Großoffensive gegen die Erwerbslosigkeit unter den Wanderarbeitern gestartet. Durch kostenlose Fortbildungen will die Führung einen Teil aufs Land zurücklocken. Dort sollen ihnen die Regierungen dann „attraktive Arbeits­bedingungen“ bei ländlichen Infrastrukturprojekten im Zuge des 460-Milliarden-Konjunkturprorgamms anbieten. Zudem hat Peking an staatliche Betriebe appelliert, Kündigungen, soweit es geht, zu vermeiden. In Städten mit hohem Wanderarbeiteranteil sind Arbeitsvermittlungsbörsen eingerichtet worden, um die weniger gebildeten Arbeiter zu unterstützen.

Eine dieser Städte ist Shenzhen, nahe Hongkong, wo der 26-jährige Wanderarbeiter Wang Chunqiao seit über sechs Jahren arbeitet.Wang lebt nicht zwischen den Wolkenkratzern des Stadtzentrums, sondern in einem der abgelegenen, grauen Industrievierteln. Vor fünf Tagen ist er aus der 22 Zugstunden entfernten Heimat in Zentralchina nach Shenzhen zurückgekommen und immer noch außer sich vor Wut: „Diese Arbeitsvermittlungsbörsen betrügen dich. Sie locken dich mit falschen Jobangeboten und verlangen dafür horrende Gebühren“, sagt er. Das Versprochene würde jedoch selten eingehalten. Viele der ahnungslosen Arbeiter würden dann in kleinen Fabriken landen, wo sie unter den schlechtesten Lebensbedingungen für einen mickrigen Lohn arbeiten, schimpft er.

Wang ist ein aufsässiger Typ, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Er gehört zu jener Gruppe von Wanderarbeitern, welche die KP als besonders gefährlich einstuft: Das sind Männer, die sich als die Macher des chinesischen Wirtschaftswunders sehen; die das in diesem Jahr verabschiedete Arbeitsvertragsrecht fast auswendig kennen; die per Handy miteinander vernetzt sind; die keine Angst vor Konflikten mit dem Staat haben und sich mit städtischen Arbeitslosen und Dissidentengruppierungen solidarisieren könnten.

Wang ist im September vergangenen Jahres gekündigt worden. Er hatte es bis zum Produktionsleiter in der Firma JingKe Optoelectronics Technology gebracht. Im Frühjahr führte er einen Streik aller 200 Fabrikarbeiter gegen die ausbezahlten Niedriglöhne an. In zwei Klagen bei den städtischen Gerichten bekamen Wang und seine Kollegen Recht. Aber die Firma zögert die Auszahlung der Restgehälter weiterhin hinaus. „Die Unternehmen drücken immer öfter die Gehälter“, sagt er. Ein Nettolohn von umgerechnet 150 bis 170 Euro im Monat sei bei vielen Angeboten nun die Obergrenze. Das seien bis zu 70 Euro weniger als im vergangenen Jahr.

Für so wenig Geld könne und wolle Wang einfach nicht arbeiten. Dabei sind aus seiner Sicht weniger die sinkenden Exportaufträge, sondern schlechtes Management und eine grassierende Korruption die Ursache für so manche Firmenpleite. „Die Krise zeigt ganz deutlich die Absurdität des jetzigen Produktionsmodells“, sagt Wang. „Aber die Regierung in Peking soll nicht meinen, dass wir uns das weiter gefallen lassen.“