Sind die Juden schuld am Tod Jesu?

2000 Jahre Kontroverse - Judentum und Kirche: Verdammt in alle Ewigkeit?

Judentum und Kirche: Verdammt in alle Ewigkeit?

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Es dauerte rund 20 Jahrhunderte, bis die katholische Kirche Worte fand, um das Selbstverständliche auszusprechen:

„Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.“

Am 28. Oktober 1965 verkündete Papst Paul VI. diese Einsicht von den Stufen des Bernini-Altars im Petersdom. Der Erklärung „Nostra Aetate – Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ war ein langes Tauziehen vorangegangen. Dass in der Schlussabstimmung der Konzilsväter 2221 Pro- nur 88 Nein-Stimmen gegenüberstanden, geschah um den Preis der Verwässerung eines Textes, der ursprünglich viel konkreter angedacht gewesen war. Doch für die katholische Kirche bedeutete „Nostra Aetate“ die größte Zäsur im Verhältnis zu den Juden seit dem Tod ihres Religionsgründers Jesus von Nazareth.

Und trotzdem: Wenn in diesen Tagen Christen in aller Welt an Tod und Auferstehung ihres Erlösers denken, dann huldigen sie einem Gottesbild „voll Blut und Wunden, frech verhöhnet“, wie es in einem berühmten Kirchenlied heißt; dann hören sie in der Passionsgeschichte wie jedes Jahr den kollektiven Schrei der Juden: „Ans Kreuz mit ihm!“

Vielleicht zelebrieren sie das österliche Ritual diesmal auch im Kino. „Die Passion Christi“, der in jeder Hinsicht monströse Film des Hollywoodstars Mel Gibson, ist so etwas wie die Blut-Schweiß-und-Tränen-Breitwandausgabe der auch nicht eben zimperlichen Oberammergauer Passionsspiele. Konservative Kleriker und Christen jubeln, fortschrittliche Theologen und aufgeklärte Filmkritiker schütteln den Kopf, und Juden in aller Welt sehen den Tatbestand des Antisemitismus erfüllt. Gibsons obsessives Reality-Epos hat es jedenfalls geschafft, das seit jeher fragile Verhältnis zwischen Juden und Christen wieder einmal auf den Prüfstand zu stellen.

Politisch instrumentalisiert. Nichts illustriert die unleugbar antijüdische und antiisraelische Tiefenwirkung des Jesus-Schockers deutlicher als das Statement eines Beraters von Jassir Arafat. Der palästinensische Präsident habe den Film „berührend und historisch“ gefunden, sagte Nabil Abu-Rudeina, nicht ohne hinzuzufügen: „Die Palästinenser sind noch immer täglich jenen Qualen ausgesetzt, die Jesus während seiner Kreuzigung zugefügt wurden.“

Auch abseits solcher vordergründigen politischen Instrumentalisierungen des Christengottes scheint 2000 Jahre nach Jesu Tod eine alte Frage nichts von ihrer Virulenz eingebüßt zu haben: Sind die Juden schuld?

Es bedurfte sechs Millionen ermordeter Juden in den Vernichtungslagern der Nazis, ehe die christlichen Kirchen wenigstens im Ansatz erkannten, was Nobelpreisträger Elie Wiesel pointiert so ausdrückte: „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben ist.“ Seit dem Holocaust sind Theologen und Bibelwissenschafter bemüht, mit neuen Auslegungsmethoden jenes Bild von den Juden glatt zu bürsten, das schon in den Heiligen Schriften des Neuen Testaments gezeichnet wird: das Bild des von Gott einst auserwählten und schließlich verdammten Volkes Israel.

Im Jänner 1933, nur wenige Wochen vor der Machtergreifung Hitlers, fand ein denkwürdiges (und in Deutschland für Jahre das letzte) Religionsgespräch zwischen einem Neutestamentler und dem jüdischen Philosophen Martin Buber statt. Der Disput kreiste um die Frage, ob der Alte Bund zwischen Gott und den Juden auf das Christentum übergegangen sei oder nicht. Buber beschrieb damals die Emotionen, die ihn auf einem verwitterten jüdischen Friedhof im Angesicht der „Vollkommenheit“ der gotischen Kathedrale von Worms überkamen: „Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren (...) Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber aufgekündigt ist uns nicht worden!“

Die christliche Tradition sah dies anders. Jahrhundertelang wurde das Adjektiv „neu“ in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet. Der Neue Bund wurde als Gegensatz zum Alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolks verstanden. Im Neuen Testament huldigen besonders die Evangelien des Matthäus und Johannes sowie der Apostel Paulus dieser im Kern polemischen Theologie.

Fakten ignoriert. Besonders das in seiner Wirkungsgeschichte bedeutende Johannesevangelium macht für die Kreuzigung Jesu die Juden pauschal verantwortlich. In seiner Polemik ignorierte Johannes – selbst Judenchrist – dabei das historische Faktum, dass die Kreuzigung eine typisch römische Todesstrafe war und Juden unter kaiserlicher Herrschaft gar nicht befugt waren, Todesurteile zu verhängen. „Das Christentum“, urteilt heute der für den jüdisch-christlichen Dialog zuständige Wiener Weihbischof Helmut Krätzl, „trennte sich im Neuen Testament von seinen Wurzeln schneller und radikaler ab, als es notwendig gewesen wäre.“

In den Jahren nach der Abfassung der neutestamentlichen Schriften (etwa ab 110 n. Chr.) verstärkten sich antijüdische Tendenzen. Die Juden hatten nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem in der Diaspora wieder Fuß gefasst und erkannten die jüdisch-christliche Sekte nicht mehr als ihnen zugehörig an. Das Werben um Judenchristen lief auf Hochtouren, und die junge Religion saß, aus der Synagoge ausgesperrt, zwischen allen Stühlen: Ohne Anbindung an Israels Glauben konnten die Christen nicht an den Privilegien partizipieren, welche die römische Behörde dem Judentum als einer „religio licita“ (erlaubte Religion) einräumte.

Christenmörder. Die verbalen Attacken legten an Schärfe zu. Der zum heiligen Kirchenvater erhobene Justin der Märtyrer (gestorben 165) erklärte alle Juden, die sich nicht zu Jesus bekannten, zu Christenmördern. Nur wenig später schrieb Bischof Melito von Sardes in der ältesten erhaltenen Osterpredigt: „Der Gott ist getötet worden von Israels Hand.“

Unterdessen entfernte sich die verfolgte Religion immer weiter von ihrer biblischen Wurzel, dem Alten Testament. Unter dem Einfluss damaliger hellenischer Philosophien (Neuplatonismus, Gnostik) mutierte der Gott Israels zum bösen und strafenden, Christus dagegen zum Gott der Liebe. Obwohl diese „Lehre des Marcion“ von der Kirche verurteilt wurde, hat sich das dualistische Konzept Gut versus Böse bis in die Gegenwart gehalten.

Als das Christentum Ende des 4. Jahrhunderts Staatsreligion wurde, ging die bis dahin verbale Verdammung der Juden in tätliche Übergriffe über. Dass die Jesusjünger noch kurz davor mit den Juden das Schicksal der Verfolgung geteilt hatten, stachelte die römischen Herrscher und ihre Kirchenfürsten offenbar zusätzlich an.

Schon 359 verhängte Kaiser Konstantin ein Eheverbot zwischen Juden und Christen; als der Patriarch der Reichshauptstadt Konstantinopel, Johannes Chrysostomos („Goldmund“), die Synagogen als „Hurenhäuser und Satansburgen“ verdammte, brannten wenig später die ersten jüdischen Bethäuser. 685 verfügte der spanische Westgoten-König Erwig die Zwangstaufe aller Juden in seinem Reich.

Trotz der Verfolgung durch die frühe Kirche war diese Periode für das Judentum höchst fruchtbar. Zwischen 500 und 600 wurde die Arbeit am Talmud, der rabbinischen Interpretation der Thora, de facto abgeschlossen. Jüdische Händler besiedelten das Frankenreich und gründeten Gemeinden von London über Prag und Magdeburg bis Nizza.

Judenhatz als Tugend. Doch der Friede war trügerisch. Im Hoch- und Spätmittelalter wurde verwirklicht, was die antiken Kirchenväter geschrieben und gepredigt hatten. Als Papst Urban II. 1096 zum ersten Kreuzzug aufrief, zogen die aufgewiegelten Massen durch Europa Richtung Palästina. Etwa 12.000 Juden wurden von brandschatzenden Bauernhorden ermordet. Die Judenhatz war gleichsam zur offiziellen christlichen Tugend avanciert.

Da griff der Kaiser ein: Der Salier Heinrich IV. nahm die Juden unter besonderen Schutz. Diese großmütige Geste untermauerte jedoch nur deren Außenseiterstellung, was sich 1215 auf dem IV. Laterankonzil manifestierte. Die Kirchenversammlung verhängte eine Vielzahl von ausgrenzenden und diskriminierenden Bestimmungen: Die gelbe Binde und das Tragen des Judenhuts wurden ebenso angeordnet wie das Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden.

Sündenböcke. Als 1348 in ganz Europa die Pest wütete, wurde das Judentum zum Sündenbock gestempelt. In dieser Zeit kam die üble Fama von den Brunnenvergiftern auf, später jene von den Hostienschändern – und schließlich die Ritualmordlegende. Das „Judenbrennen“ wurde zum beliebten Karfreitagssport – unter dem religiös verbrämten Schlachtruf „HEP, HEP!“ (Abkürzung für „Hierosolyma Est Perdita – Jerusalem ist verloren“), der, von den Nazis wieder aufgegriffen, bis in die Gegenwart, etwa auf Sportplätzen, skandiert wird.

In Tirol schlägt sich die Amtskirche noch heute mit dem Kult um Anderl von Rinn herum, eines angeblich 1492 von jüdischen Kaufleuten ermordeten Buben. Die Mär, dass die Juden das Blut christlicher Knaben benötigen, um damit ihr Pessachbrot zu backen, wurde zwar 1247 von der Kirche zurückgewiesen, hielt sich jedoch lange hartnäckig im Bewusstsein der Christen.

Noch 1947 erschien mit kirchlicher Erlaubnis ein Wallfahrtsführer zum seligen Anderl auf dem nahe der Stadt Hall gelegenen Judenstein. Erst vor zehn Jahren verbot der damalige Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher den bizarren Kult. Dessen ungeachtet wallfahrten heute noch an jedem zweiten Sonntag im Juli hunderte Gläubige zum Judenstein. Ein jährlich erscheinender „Anderl-Bote“ sorgt mit Prominenten aus dem rechtskatholischen Lager dafür, dass über Jahrhunderte hinweg praktizierter kirchlicher Antisemitismus nicht in Vergessenheit gerät.

Der emeritierte Heiligenkreuzer Hochschulprofessor Robert Prantner etwa beklagte 1997 in einem Beitrag für die Rechtsaußen-Postille „Zur Zeit“, dass die Verbrechen am „seligen Märtyrerkind Anderl“ von der Amtskirche nicht mehr ernst genommen würden: „Auch das Blut gemordeter Christen, vergossen durch jüdische Hand, schreit zum Himmel!“

Die Kirchenvertreter schwiegen damals vornehm zu den Ausritten Prantners. Immerhin: Im selben Jahr enthüllte Kardinal Franz König mit Wiens Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg eine Gedenktafel an das Pogrom von 1420 auf dem Judenplatz. Deren Kernsatz lautet: „Heute wird sich die Christenheit ihrer Mitschuld an den Judenverfolgungen immer deutlicher bewusst und erkennt ihr Versagen.“

Antisemit Luther. Es sind aber nicht nur die Katholiken, die sich ob der Verbrechen der Vergangenheit Asche aufs Haupt streuen müssen. Den evangelischen Brüdern wurde der religiöse Antisemitismus von ihrem Kirchengründer Martin Luther quasi in die Wiege gelegt. In seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ schrieb er 1543, drei Jahre vor seinem Tod: „Es stimmt alles mit dem Urteil Christi, dass sie giftige, bittere, rachgierige, hämische Schlangen, Meuchelmörder und Teufelskinder sind (…) Ich will meinen treuen Rat geben: Dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich …“

Erst 1998 distanzierten sich die Evangelischen Kirchen Österreichs von den Worten Luthers – allerdings mit einer Deutlichkeit, zu der die Katholiken sich niemals hatten durchringen können. „Wir verwerfen den Inhalt dieser (= Luthers) Schriften“, heißt es in der Erklärung der Generalsynode unumwunden. „Wir tragen das Stigma der Nazi-Kirche bis heute in uns“, bekennt der Wiener Oberkirchenrat Michael Bünker dazu reumütig.

Schwieriges Bekenntnis. Gerade in der katholischen Kirche tut man sich mit einem vergleichbaren Schuldbekenntnis schwer. Trotz eindrucksvoller Gesten des amtierenden Papstes Johannes Paul II., etwa des Besuchs der Klagemauer in Jerusalem 2000, bleibt in offiziellen kirchlichen Stellungnahmen die Trennung zwischen kirchlichem Antijudaismus und rassischem Antisemitismus der Nazis bis heute aufrecht. Die vatikanische Erklärung von 1998 „Wir gedenken: Eine Reflexion über die Schoah“ erklärte den Holocaust ausdrücklich als „Werk eines typischen modernen neuheidnischen Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des Christentums.“

Doch dem war keineswegs so. Bereits im 15. Jahrhundert entstanden in Spanien „Statuten über die Reinheit des Blutes“, durch die Christen mit jüdischen Vorfahren von Kirchenämtern ausgeschlossen wurden. Im Jesuitenorden war von 1592 bis 1946 eine Bestimmung gültig, wonach für den Eintritt ein über fünf Generationen judenfreier Stammbaum nachzuweisen war. Noch 1934 wähnte die Zeitschrift „Pro Christo“ den jüdischen Gestank (Foetor judaicus) über sieben Generationen im Menschen und kam zu dem Schluss, es sei „moralisch, den Zufluss von jüdischem in arisches Blut zu verhindern“.

Kein Zweifel: Aus den Abgründen christlicher Ideologien führte eine ziemlich gerade Linie zu Alfred Rosenbergs Rassentheorie, dem Ariernachweis und den Nürnberger Rassegesetzen. Darüber rettete kaum die Erkenntnis hinweg, zu der Papst Pius XI. 1938 kurz vor seinem Tod gelangte: „Spirituell sind wir alle Semiten.“

Kehrtwende. Umso spektakulärer wirkte die Kehrtwende von Papst Johannes Paul II. Mit seinem Besuch in der römischen Synagoge 1986 und der Vergebungsbitte an der israelischen Schoah-Gedenkstätte Yad Vaschem 2000 schrieb der Kirchenführer Geschichte. Der Innsbrucker Dogmatiker Jozef Niewiadomski warnt jedoch vor falschen Kategorisierungen und Erwartungen: „Das Schuldbekenntnis des Papstes geschah vor Gott und nicht vor der Welt. Die Überwindung des Antisemitismus ist bei ihm eine radikal religiöse Haltung und kein Ausdruck politischer Korrektheit.“

Genau damit haben – auch religiöse – Juden ein Problem. „Bei uns muss man sich zu Yom Kippur zuerst mit den Menschen versöhnen, denen man etwas angetan hat“, erklärt der Wiener Judaist Klaus Davidowicz, „und danach folgt die Buße vor Gott.“ Bekenntnisse, wie auch jenes über die Teilnahme der Österreicher an den NS-Verbrechen durch Bundeskanzler Franz Vranitzky, 1993 im Nationalrat, hätten „halt immer so einen christlichen Touch“.

Fehlender Schritt. So sehr sich heute die religiösen Eliten auf beiden Seiten um Verständigung bemühen, so ungeklärt bleibt die Frage, wie weit das neue Verständnis der Juden als „älteren Brüdern“ (Johannes Paul II.) auch in die breiten Schichten vorgedrungen ist. Laut aktueller market-Umfrage für profil geben immerhin 41 Prozent der Österreicher den Juden Schuld oder Mitschuld am Tod Jesu. Niewiadomski glaubt dennoch: „Dass die Juden keine Gottesmörder sind, hat die Bevölkerung verinnerlicht.“ Der zweite Schritt sei aber noch nicht vollzogen: „Antisemitismus ist immer da, wenn man Jesus von seinem Volk abtrennt. Doch Jesus ist Jude.“

Und so bleibt eine tiefe Kluft bestehen: auf der einen Seite der für Juden unerhörte Gedanke, dass mit Jesus der Messias gekommen sein soll, wo sich auf der Welt durch ihn doch nichts geändert hat. Auf der anderen Seite stehen die Christen, die das jüdische Nein zu Jesus kaum ertragen.

Trifft die Analyse des israelischen Historikers Yehuda Bauer zu, dass 2000 Jahre christliche Judenfeindschaft zu einem „kulturellen Code“ in Europa geworden sei, dann stellt sich die Frage, wie dieser Code zu knacken ist. Die Antwort darauf wäre alles andere als bequem, denn sie würde an den Grundlagen zweier Weltreligionen rühren.