25 Jahre nach der Waldheim-Wahl

Studie. Der Antisemitismus hat abgenommen – aber nur in enttäuschend geringem Ausmaß

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Die Plakate waren in giftigem Gelb gehalten, was Kritiker für ein Zitat der Farbe des Nazi-„Judensterns“ hielten. „Wir wählen, wen wir wollen!“, stand darauf in blutroter Schrift. Und: „Jetzt erst recht!“

Auftraggeber der umstrittenen Affichen war die ÖVP-Zentrale, die in jenem denkwürdigen Frühjahr 1986 die Angriffe auf ihren Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim aus dem Ausland zu einer scharfen Waffe in einem Wahlkampf umschmiedete, der in der Geschichte der Zweiten Republik beispiellos war. profil hatte damals aufgedeckt, dass der Kandidat Mitglied der SA gewesen war, am Balkan im Stab des später als Kriegsverbrecher hingerichteten Generals Alexander Löhr gedient hatte und zur Zeit der gnadenlosen Jagd auf Juden im ­griechischen Saloniki in unmittelbarer Nähe der Stadt stationiert war. Nichts von alledem stand in seinen kurz vor Beginn des ­Wahlkampfs veröffentlichten Lebenserinnerungen.

Waldheim rechtfertigte sich trotzig:
Er habe von nichts gewusst, nichts gesehen und nur seine Pflicht erfüllt. Die Begleitmusik lieferte die damals unter Alois Mock noch weit bärbeißigere ÖVP und vor allem die „Kronen Zeitung“. Mit antisemitischen Untertönen wurde der Waldheim besonders scharf kritisierende World Jewish Congress attackiert. Die „Ostküste“ lautete der Kampfbegriff des Waldheim-Lagers. „Freche Juden“ wagte man dann doch nicht zu sagen.

So tickte Österreich anno 1986. Mit 53,6 Prozent wurde Kurt Waldheim zum sechsten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt. Die US-Regierung setzte ihn sofort auf die Watchlist: Der ehemalige UN-Generalsekretär erhielt Einreiseverbot, es wurde bis zu seinem Tod im Jahr 2007 nicht mehr aufgehoben.

Waldheims Wahl löste eine Kettenreaktion aus: Noch am selben Abend trat Bundeskanzler Fred Sinowatz zurück und übergab sein Amt an Franz Vranitzky. Anfang September stürzte Jörg Haider den mit der SPÖ koalierenden FPÖ-Obmann Norbert Steger, worauf Vranitzky die Koalition auflöste. Bei den Nationalratswahlen im November sicherte er der SPÖ allen Prognosen zum Trotz abermals die Kanzlerschaft.

Eine Zeitenwende waren die Tage in jenem Frühjahr vor 25 Jahren vor allem aber aus einem anderen Grund: Erstmals erzwang die ab diesem Zeitpunkt so genannte „Zivilgesellschaft“ eine Debatte über die Mitverantwortung Österreichs an den NS-Verbrechen. „Da ist vieles an die Oberfläche gekommen. Die Staatsbürger konnten gar nicht umhin, sich mit der Frage nach den Schuldanteilen von Österreichern zu beschäftigen“, erinnert sich Franz Vranitzky, der 1991 mit einer viel beachteten Erklärung im Nationalrat als erster Kanzler der Zweiten Republik für Österreich die ­„moralische Mitverantwortung für die Taten unserer Bürger“ übernahm: „Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reichs beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle.“
Die „Kronen Zeitung“ tobte und schrieb von Verrat an der „Soldatengeneration“.

Einer, der sich seit 1986 für die qualvolle Debatte und ihre medialen Ausläufer interessierte, war der Kommunikationswissenschafter Maximilian Gottschlich von der Universität Wien. Nach der Waldheim-Wahl fand er nach einer umfangreichen Inhaltsanalyse österreichischer Tageszeitungen heraus, dass in knapp einem Viertel der untersuchten Wahlkampfberichte antijüdische Ressentiments anklangen, vor allem in der „Krone“. Die Auswirkungen auf das Denken der Österreicher waren entsprechend. Wie Gottschlich 1986 erhob, waren zwei von drei Befragten der Meinung, die Juden würden die internationale Geschäftswelt beherrschen, fast 40 Prozent dachten, die Juden seien an ihrer Verfolgung zum Teil selbst schuld, und 16 Prozent wollten, wie schon seinerzeit die Nazis, überhaupt keine Juden im Land haben.

25 Jahre später hat der Kommunikationsforscher dieselben Fragen wieder stellen lassen, um zu überprüfen, ob die Debatte über die NS-Vergangenheit oder wenigstens die Zeitläufte das Denken der Österreicher verändert haben. Die von der ipr-Umfrageforschung durchgeführte Erhebung ist hochrepräsentativ: Das ­Institut führte 1070 persönliche Interviews durch, die Probanden füllten den Bogen mit den heiklen Fragen anonym selbst aus.

Das Ergebnis: Die Debatten der Waldheim-Jahre haben Spuren im Bewusstsein der Österreicher hinterlassen – allerdings weniger als wünschenswert. „Nur“ ein Drittel und nicht wie noch 1986 zwei Drittel sieht die Juden als Drahtzieher im Big Business; dass diese selbst an ihrer Verfolgung schuld seien, meinten 28 Prozent, und immer noch zwölf Prozent wollen ein „judenfreies“ Österreich.

Gottschlichs Fazit: „Der Diskurs ist nur sehr bedingt ins öffentliche Bewusstsein eingesickert.“ Der „harte“ Antisemitismus sei merkbar zurückgegangen – ein beunruhigend starker Sockel sei aber geblieben: Immerhin 22 Prozent der Österreicher sind voll oder zumindest teilweise der Meinung, das Land brauche „mutige Politiker, die ihre Stimme gegen den jüdischen Einfluss erheben“. Und: „Es ist eindeutig eine gewisse Erinnerungsmüdigkeit zu konstatieren.“ Die Hälfte der Österreicher meint, man habe sich nun ausführlich genug mit der NS-Zeit beschäftigt.

Zudecken, Zuschütten.
Man könnte es als Erfolg sehen, dass wenigstens die andere Hälfte noch Interesse an den dunkelsten Zeiten des an Düsternis nicht armen 20. Jahrhunderts zeigt. Immerhin war das Zudecken und Zuschütten mehr als vier Jahrzehnte lang Staatsdoktrin gewesen.

Schlau hatte Nachkriegsösterreich die „Moskauer Deklaration“ der Alliierten aus dem Jahr 1943 zu seinem Gründungsdokument erklärt. „Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte“, hieß es dort historisch zwar nicht ganz korrekt, aber recht praktisch für den politischen Gebrauch in der neuen „Zweiten“ Republik. Auf „Österreich – das erste Nazi-Opfer“ verkürzten das die Nachkriegs-Ösis listig.

Dieser zentrale Bewusstseinsinhalt der Republik ist eine flagrante Lebenslüge. Denn gleich im nächsten Satz der Moskauer Deklaration hieß es: „Österreich wird aber auch daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt.“ Diese Passage wurde im offiziellen Gebrauch freilich weit seltener zitiert. Erst Franz Vranitzky griff sie 1991 in seiner Rede vor dem Nationalrat wieder auf.
Manche Gründerväter empfanden im April 1945 das Kriegsende auch keineswegs als „Befreiung von der deutschen Herrschaft“, wie sie dem „Opfer“ Österreich in der Moskauer Deklaration versprochen worden war.

Karl Renner
, immer noch ein Großdeutscher, klagte gegenüber Beamten in der Staatskanzlei, der Anschlussgedanke sei „nicht durch unsere Schuld gescheitert. Uns bleibt nichts anderes übrig, als darauf zu verzichten.“ Dem Schicksal der ermordeten Juden stand er eher desinteressiert gegenüber, schreibt Renner-Biograf Walter Rauscher. „Es wäre doch unverständlich, dass man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer für seinen Verlust entschädigt“, nicht aber seine SPÖ, entfuhr es ihm, als die Rückgabe der 1934 von den Austrofaschisten beschlagnahmten Partei-Immobilien stockte.

Renner war freilich nicht der einzige Politiker, dem die Juden egal, wenn nicht gar zuwider waren. Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP), der selbst sechs Jahre im Konzen­trationslager inhaftiert gewesen war, weigerte sich im September 1946, 500 in Rumänien gestrandete Juden aufzunehmen, weil dies zu „Überfremdung“ und zum „Aufleben des Antisemitismus“ führen würde. Alle von den Nazis instrumentalisierten Vorurteile saßen auch tief im KZ-Opfer Figl. Als Beleg für die „Duldsamkeit“ der Österreicher gegenüber den Juden führte er 1947 an, er wisse von einem Juden in Bad Gastein, der schon 120.000 Schilling und vier Anzüge erwirtschaftet habe: „Das österreichische Volk ist nicht so geschäftstüchtig.“

Als 1952 im Ministerrat wieder einmal über einen Restitutionsantrag von vertriebenen Österreichern jüdischer Herkunft beraten wurde, warf – sieben Jahre nach Kriegsende! – ein Regierungsmitglied die Frage auf, wie viele österreichische Juden wohl von den Nazis ermordet worden seien. Dafür hatte sich zuvor noch niemand inter­essiert. Die Zahl jüdischer Opfer sei wohl „verhältnismäßig gering“, meinte SPÖ-­Vizekanzler Adolf Schärf. So sah das auch Bundeskanzler Leopold Figl: Die großen Deportationen hätten ja erst 1942 begonnen, „da waren unsere Juden gewöhnlich schon fort“.

Man beauftragte Innenminister Oskar Helmer, bei der Israelitischen Kultusgemeinde entsprechende Informationen einzuholen. In der nächsten Ministerrats­sitzung berichtete der Innenminister, es seien mehr als 60.000 gewesen. Die Minister reagierten überrascht.

Im selben Jahr 1952 würdigten die „Salzburger Nachrichten“ „die deutschen Soldaten ... die im letzten Krieg einen Heldenkampf fochten, um die Flut aus dem Osten einzudämmen.“ Chefredakteur des Blattes war damals der ehemalige Heimwehr-Mann Gustav Canaval, der ebenfalls mehrere Jahre im KZ zugebracht hatte.

Flut aus dem Osten.
So tief ging das mit Nachsicht aller Taxen auch als Harmoniebedürfnis einer irrenden und leidenden Generation interpretierbare Verdrängen, dass selbst entschiedene NS-Gegner haarsträubende Reaktionen an den Tag legten. Als etwa der junge Journalist Oscar Bronner (heute Herausgeber des „Standard“) 1965 in einer Artikelserie in der Debatten-Zeitschrift „Forum“ nachwies, dass viele der amtierenden Richter und Staatsanwälte während der NS-Zeit Todesurteile verhängt hatten, reagierte der linke Justizminister Christian Broda (SPÖ) dem Zeitgeist entsprechend: Er kündigte an, künftig nicht mehr für das „Forum“ zu schreiben.

Die NS-Verbrechen waren in Österreich nur in den ersten drei Nachkriegsjahren streng geahndet worden. Nach dem Beschluss, die ehemaligen NSDAP-Mitglieder ab 1949 wieder an Wahlen teilnehmen zu lassen, erlahmte der Eifer rasch. Insgesamt wurden 43 NS-Schergen zum Tode verurteilt, 30 wurden tatsächlich hingerichtet. 29-mal lautete der Richterspruch auf lebenslangen Kerker, 269 Angeklagte wurden zu Haftstrafen von mehr als zehn Jahren verurteilt. 1957 saß keiner von ihnen mehr im Gefängnis.

Ehemalige SS-Männer in der ersten Kreisky-Regierung, der Peter-Wiesenthal-Konflikt, der Handschlag von Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager mit einem aus italienischer Haft zurückgekehrten Kriegsverbrecher – immer wieder würgte die Republik die üble Vergangenheit hoch und wurde sie doch nie los.

Im bis 1949 von den alliierten Besatzern regierten Deutschland verlief die Geschichte etwas anders, weil die „Umerziehung“ zur Demokratie konsequenter betrieben wurde. Dennoch waren noch 1958 nicht weniger als 33 der 47 Leitungspositionen im Bundeskriminalamt mit ehemaligen SS-Männern besetzt. Konrad Adenauers Kanzleramtsminister Hans Globke hatte an den Nürnberger Rassegesetzen mitgearbeitet. Der KZ-Arzt Aribert Heim (ein gebürtiger Steirer), Jahrgang 1914, hatte bis 1962 eine gut gehende Gynäkologie-Praxis in Baden-Baden betrieben, bevor ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde und er untertauchte. Zeugen wollen Heim noch vor zwei Jahren in Argentinien gesehen haben. Wahrscheinlich ist er aber schon seit 1992 in Kairo. Als Israel 1961 dem Cheflogistiker des Holocaust Adolf Eichmann den Prozess machte, erwog die deutsche Bundesregierung, Eichmann die besten Anwälte zu schicken. So wollte man verhindern, dass der Angeklagte womöglich Belastendes über hohe Funktionäre der Bundesrepublik ausplauderte.

In Österreich sollte die Debatte im Gefolge der Waldheim-Wahl wie ein reinigendes Gewitter wirken. Freilich: Noch im selben Jahr trat der neue FPÖ-Chef Jörg Haider auf den Plan, bezeichnete die österreichische Nation als eine „Missgeburt“, lobte später die ­Beschäftigungspolitik der Nazis und traf alte SS-Haudegen in Krumpendorf. Die Diskussion über die NS-Vergangenheit bekam nun eine tagespolitische Komponente, was dem Diskurs nicht wirklich nützte.

Am Fall Waldheim scheiden sich jedenfalls nach wie vor die Geister. Jene, welche die damalige Debatte als „wichtig für Österreich“ bezeichnen, ordnen sich zu 60 Prozent links der Mitte ein; diejenigen, die die Waldheim-Causa noch heute als „gezielte Diffamierung“ sehen, gehören zu 65 Prozent dem Rechts-der-Mitte-Spektrum an.

Fast noch beunruhigender ist eine andere Zahl: 80 Prozent der Österreicher unter 35 haben noch nie etwas von einem „Fall Waldheim“ gehört.

Lesen Sie im profil 17/2011 ein Interview mit Franz Vranitzky über seine Kanzlerschaft in den Waldheim-Jahren.