9/11, Teil zwei: Das Blutbad von Mumbai

9/11, Teil zwei: Das Blutbad von Mumbai und seine politischen Hintergründe

Die politischen Hinter- gründe des Konflikts

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Es herrschte hektische Betriebsamkeit auf der MV 47, einem in Vietnam registrierten Fischfrachter, der in der Nähe des Hafens von Mumbai ankerte, als am vergangenen Mittwoch die Dunkelheit hereinbrach: Dutzende Männer ließen auf dem Schiff versteckte Schlauchboote zu Wasser und steuerten auf das Stadtzentrum der westindischen Finanzmetropole zu. Augenzeugen beobachteten, wie eine Gruppe von acht Männern in schwarzen Anzügen, alle Anfang 20 Jahre alt, gegen 21.25 Uhr direkt vor dem Gateway of India anlegte, dem wichtigsten Monument der Stadt, und schwere Rucksäcke auslud.

„Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten“, riefen sie neugierigen Passanten zu. Zwei der Männer machten sich mit dem Boot wieder davon. Die anderen sechs stürmten um 21.40 Uhr das nahe liegende Taj Mahal Palace & Tower, ein 105 Jahre altes viktorianisches Luxushotel, in dem die Reichen und Schönen aus dem Westen gern absteigen. Zur gleichen Zeit wartete ein weiteres Team auf dem Chatrapati Shivaji Terminus, dem Hauptbahnhof der 13-Millionen-Einwohner-Stadt. Die Männer gaben sich als Reisende aus, ehe sie – wie mit den anderen Teams genau abgesprochen – um 21.40 Uhr aus ihren Rucksäcken AK47-Gewehre und Handgranaten auspackten und zu feuern begannen. Sie töteten mehr als 15 Menschen. Die weiteren Ziele der Terroristen: Polizeistationen, das Nobelhotel Oberoi-Triped, das Metro-Kino, das weltberühmte Café Leopold – und auch das jüdische Chabad-Zentrum im Süden von Mumbai, wo zahlreiche israelische Touristen residieren, die in Indien auf koscheres Essen nicht verzichten wollen.

Die Geiselnahmen, die Schießereien, die Bombenanschläge versetzten die Millionenstadt während der folgenden zwei Tage in Angst, Schrecken und Chaos: Am Donnerstag rückte das Militär in Mumbai ein und lieferte sich den ganzen Tag über heftige Gefechte mit den Attentätern, die bis zum Freitagabend andauerten. Die erschütternde Bilanz: Mehr als 150 Menschen kamen bei der grausamsten Terrorserie in der Geschichte Indiens ums Leben. Allein Im Taj Mahal Palace & Tower fanden die Behörden über 50 Leichen, im Oberoi waren es 24.

Der 26. Oktober wird als Indiens 11. September in die Geschichtsbücher eingehen. „Wir waren in den vergangenen Jahren immer wieder Opfer von Anschlägen, aber mit dem Terror in Mumbai wurde in Indien eine völlig neue Stufe erreicht“, sagt Gautam Siddharth, Nachrichtenchef der renommierten Ta­­geszeitung „Times of India“, im Gespräch mit ­profil.

Das indische Militär hatte die Lage noch nicht unter Kontrolle, als bereits heftig über den Hintergrund der Täter spekuliert wurde: Wer steckt hinter der bislang gänzlich unbekannten Gruppierung „Deccan Mudjahideen“, die sich zu den Attentaten bekannte? Ist es tatsächlich eine Fraktion der radikalislamischen Terrororganisation Al Kaida von Osama Bin Laden? Oder doch ein Destabilisierungskomplott von Indiens Erzrivalen Pakistan, wie nicht nur die „Hindustan Times“ mutmaßte? Die Tageszeitung berief sich am Donnerstag auf indische Geheimdienste, die hinter den Anschlägen die radikalislamische ­Lashkar-e-Taiba vermutet, die von Pakistan aus operiert. Indiens Premierminister Mahmud Singh zielte offenbar in die gleiche Richtung, als er bereits am Tag nach dem Terroranschlag von einer Tätergruppe sprach, „die außerhalb des Landes beheimatet ist“. Ohne Namen zu nennen, stieß Singh dann auch gleich eine Drohung gegen Pakistan aus. Seine Regierung werde den Nachbarstaaten „deutlich sagen“, dass sie es „nicht hinnehmen wird, wenn deren Territorium als Ausgangsbasis für Angriffe auf uns“ benutzt werde.

Internationale Terrorexperten stehen hingegen immer noch vor einem Rätsel. Denn: Die Spur der Verwüstung in der indischen Finanzmetropole ähnelt Anschlägen wie jenen von Madrid (2004) und London (2007) nur am Rande, Art und Ausführung des Massakers lassen mehrere Schlüsse zu.

Vergeltungsaktionen. Zunächst bekannte sich zu den Attentaten eine Terrororganisation, die internationalen Experten bisher unbekannt war: Bei den Deccan Mudjahideen könnte es sich um einen Ableger der „Indian Mudjahideen“ handeln, einer militanten moslemischen Organisation in Indien. Deccan ist eine zentral gelegene Hochebene, die vom ostindischen Bundesstaat Gujarat bis in den Süden des Landes reicht und ab dem 15. Jahrhundert von Moslems erobert wurde. Deccan wird von indischen Moslems bis heute als ureigenes islamisches Gebiet angesehen. Die Ausein­andersetzung darum gilt als Hauptgrund des seit Jahrzehnten schwelenden Konflikts zwischen Hindus und Moslems in ­Indien.

Eskaliert war der Religionskonflikt in Indien im Jahr 1992, als fanatische Hindus in der nordindischen Stadt Ayodhya eine jahrhundertealte Moschee zerstörten. Im ganzen Land demonstrierten aufgebrachte Moslems und töteten dutzende Hindus, was wiederum zu Vergeltungsaktionen der Hindus führte. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangten sie erst, als es 2002 zu Pogromen gegen Moslems in Ahmedabad, der größten Stadt des Bundesstaates Gujarat, kam. Die ethnisch-religiösen Konflikte haben sich in den vergangenen Jahren niemals beruhigt. Zwischen 2003 und 2007 kamen bei Anschlägen von radikalen Moslems und Hindus laut US-Außenministerium 3342 Menschen ums Leben – übertroffen nur von der entsprechenden Opferbilanz im Irak.

International wurde diese Statistik jedoch kaum beachtet, weil man den Konflikt bislang für ein auf Indien begrenztes Problem hielt. „Es gibt sehr viele, sehr wütende Moslems in Indien, die soziale Kluft wächst, und die Regierung in Delhi hat ihr wachsendes Problem mit den Moslems bisher vernachlässigt“, sagt Christine Fair, Terrorexpertin beim US-Think-Tank RAND Corporation: „Das ist aber ein rein indisches Problem, nicht Indiens 11. September.“ Dem widerspricht Dominic Armstrong, Mitarbeiter des in London ansässigen Sicherheitsunternehmens Aegis Defence Services, vehement: „Die letzten Anschläge von hinduistischen Extremisten richteten sich in erster Linie gegen Moscheen. Die Anschläge von Mumbai sehen wie das Werk von radikalen Islamisten aus, nicht von traditionellen Moslems, die in dem nationalen Konflikt stecken.“

Tatsächlich zeigen die Anschläge von Mumbai mehrere Gemeinsamkeiten mit bekannten Attentaten von international vernetzten Organisationen. Während in den vergangenen Monaten immer wieder Bombenanschläge in Pendlerzügen oder auf belebten Märkten per Fernzünder verübt wurden, hatten es die Hintermänner des Mumbai-Attentats vorwiegend auf hochrangige Polizeibeamte, westliche Touristen und Israelis abgesehen. Ein italienischer Tourist, der aus dem Taj Mahal Pa­lace &Tower entkam, berichtete später den indischen Behörden: „Sie fragten mich, aus welchem Land ich komme. Als ich ihnen sagte, dass ich Italiener bin, ließen sie mich gehen. Sie hatten es nur auf Amerikaner und Briten abgesehen.“
Auch die detaillierte Planung der Anschläge zeugt von einer straffen und finanzstarken Organisation. „Symbolische Ziele wie der Bahnhof und Nobelhotels sowie die Verwendung von gut ausgebildeten Teams zeigen denselben Modus operandi wie bei den Al-Kaida-Anschlägen von London und Madrid“, sagt Andrea Plebani, Terrorexperte am Centro-Volta-Institut in Italien. Und auch Gautam Siddharth von der „Times of India“ ist sich sicher: „Wir haben es hier mit denselben Menschen zu tun, die auch für die Anschläge auf das World Trade Center in New York verantwortlich sind. Es geht um die Destabilisierung unseres Systems durch die Al Kaida, das hier ist ein internationales ­Problem.“

Markenname. Eine Einschätzung, die viele andere Terrorexperten jedoch nicht teilen wollen. „Al Kaida verübt fast immer Selbstmordanschläge, weil Märtyrertum eine Schlüsselrolle in ihrer Propaganda ist“, sagt Bruce Hoffmann von der George­town University in Washington. Zwar mussten die Attentäter von Mumbai damit rechnen, dass sie früher oder später von der Polizei erschossen würden. In die Luft gesprengt hat sich keiner von ihnen. Ein Problem in der hitzigen Debatte um die Hintergründe der Attentäter liegt freilich auch darin, dass bis heute Unklarheit über das Wesen der Al Kaida besteht. „Ist sie eine wirkliche Organisation mit einer zentralen Kontrollfunktion oder nur ein bekannter Markenname, den man für seine Aktionen verwendet?“, fragt Richard Cornwell vom Institut für Sicherheitsstrategien in Pretoria, Südafrika: „Ehrlich gesagt, glaube ich eher Letzteres.“

Unbestritten ist hingegen, dass die Anschläge von Mumbai in einem äußerst komplexen regionalpolitischen Kontext stehen, in dem Indien, Pakistan und auch Afghanistan eine wesentliche Rolle spielen. In der umkämpften Grenzregion Kaschmir werden seit Jahren islamistische Terroristen ausgebildet und mit Duldung Islamabads nach Indien eingeschleust. Eine zentrale Position hat dabei der mächtige pakis­tanische Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), der sich durch die Unterstützung militanter Islamisten einen strategischen Vorteil gegenüber Indien erhofft. Immer öfter erweist sich diese Taktik jedoch als kontraproduktiv, da sich Anschläge der Islamisten zusehends gegen die Regierung in Islamabad richten, die ein strategischer Verbündeter der USA im Kampf gegen den Terrorismus ist.
Obwohl die Taliban das Grenzgebiet zu Afghanistan mittlerweile völlig unter ihrer Kontrolle haben, sind die meisten pakistanischen Soldaten nach wie vor im Osten, an der umstrittenen Grenze zu Indien, stationiert. Die Folge: Im Grenzgebiet zu Afghanistan fehlt es an Truppen, wie selbst der pakistanische Armeechef Ashfaq Kayan gegenüber dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ einräumte. Dort, in den gesetzlosen Stammesgebieten auf beiden Seiten der Grenze befinden sich auch jene Lager, in denen Moslem-Terroristen für ihre Einsätze indoktriniert und ausgebildet werden.

Existenzängste. Eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Indien und Pakistan, die zu einer neuen Prioritätensetzung des pakistanischen Militärs führen soll, ist auch eines der wichtigsten außenpolitischen Vorhaben des kommenden US-Präsidenten Barack Obama.

Doch der Weg dorthin ist steinig. „Eine der größten Ängste Islamabads ist immer noch jene, dass Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan ihren antiken Traum von einem unabhängigen paschtunischen Staat realisieren“, schrieb Maharaja Krishna Rasgotra, ehemalige indische Außenministerin und heute Leiterin der Observer Research Foundation, eines Think Tanks in Neu-Delhi, zuletzt in einem Kommentar in der „New York Times“. Deshalb, so Rasgotra, „wird die Bemühung Indiens, in Afghanistan über ein Wiederaufbauprogramm in der Höhe von einer Milliarde Dollar Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstand zu fördern, als Versuch Indiens interpretiert, Pakistan zu isolieren oder gar zu umzingeln“.

Das rührt von der tiefsitzenden Angst der Pakistanis her, von Indien angegriffen zu werden. Für diesen Fall haben die Militärs in Islamabad in den vergangenen Jahrzehnten das Konzept der so genannten „strategischen Tiefe“ gepflegt – im Fall einer Invasion wollen sie das östliche Afghanistan als Rückzugsraum benutzen. Ein stabiler afghanischer Staat mit sicheren Grenzen oder gar indischer Präsenz würde diese Möglichkeit nicht mehr bieten, so die Überlegung der pakistanischen Armee­führung.

In den vergangenen Monaten haben sich unter dem neuen pakistanischen Premier Yousaf Raza Gillani die Beziehungen zu Indien deutlich verbessert. Für Moonis Ahmar, Professor für Internationale Beziehungen an der pakistanischen Universität Karatschi, ist der Zeitpunkt der Anschläge kein Zufall. „Das ist eine gut durchdachte Verschwörung von Islamisten, die einen Keil zwischen die beiden Länder treiben wollen.“

Die Tatsache, dass einer der festgenommenen Attentäter offenbar aus der Grenzregion Kaschmir stammt, dürfte die Stimmung zwischen den beiden Ländern nun wieder deutlich verschlechtern. Doch vielleicht ist der Terroranschlag von Mumbai auch eine Chance für die beiden Länder. Kurz nach dem Anschlag von Mumbai sagte ein hochrangiger pakistanischer Offizier zu einem Reporter der „Gulf Times“: „Es führt kein Weg mehr daran vorbei: Indien und Pakistan können den islamischen Terrorismus nur dann bekämpfen, wenn sie es gemeinsam tun.“

Von Gunther Müller