Ab 2009 gibt es die Mindestsicherung

Sind die 747 Euro gerecht?

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Bis 2004 war das Leben von Grete G. in Ordnung. Doch dann verliert die 25-Jährige ihren Job. „Rationalisierungsmaßnahmen“, so hat es die Firma begründet. Frau G. findet keine neue Arbeit, sackt von der Arbeitslosenunterstützung in die Notstandshilfe ab. Die verliert sie zwangsläufig, weil sie heiratet und ein Kind bekommt. Doch die Ehe ist nicht glücklich, nach zwei Jahren ist sie geschieden. Frau G., psychisch geknickt, schafft es nicht einmal mehr durch die Berufsorientierungskurse des Arbeitsamtes.

Menschen wie Frau G. gehören zur typischen Klientel der Sozialämter. Wie viel Sozialhilfe sie aber bekommt, hing bisher von Zufällen ab: in welchem Bundesland man lebt, an welchen Beamten man gerät. Die Sätze für die Sozialhilfe schwankten zwischen 710 (Wien) und 444 Euro (Tirol), dazu gab es ein regionales Wirrwarr an Sonderunterstützungen, die gewährt wurden. Oder auch nicht. Die künftige Mindestsicherung soll dieses Prinzip der Willkürlichkeit beenden, das wie die Sozialhilfe aus dem System des Armenwesens kommt. Sie beträgt ab Mitte 2009 bundesweit 747 Euro. Sozialminister Erwin Buchinger hat mit der Vereinheitlichung geschafft, woran viele seiner Vorgänger gescheitert waren. Dennoch ist selbst manchen Sozialdemokraten etwas mulmig, weil die Mindestsicherung als letztes soziales Netz fast genauso hoch dotiert ist wie die niedrigsten Lohnstufen. In den Worten des roten Pensionistenchefs Karl Blecha: „Der arbeitslose Nichtsnutz ist nicht die Zielperson.“

Karger Lohn. In der Tat ist der Abstand zwischen der Mindestsicherung und dem Lohn, der in gewissen Branchen für 40 Stunden Arbeit pro Woche bezahlt wird, gering. So beginnen die Einstiegsgehälter für Ordinationshilfen in Arztpraxen bei 783 Euro brutto, Angestellte bei Rechtsanwälten starten mit 740, Fleischer mit 882 Euro. Rund 30.000 Österreicher verdienen weniger als 1000 Euro brutto monatlich, und das, obwohl sie Vollzeit arbeiten. Insgesamt haben, Pensionisten und Teilzeitbeschäftigte inklusive, zwei Millionen Österreicher weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Mit Demonstrationen vor den Niederlassungen besonders hartnäckiger Billigzahler wie der Rechtsanwaltskammer macht die Gewerkschaft Druck, bis zum Start der Mindestsicherung die Kollektiv­verträge für alle Berufsgruppen auf min­destens 1000 Euro anzuheben. Manche haben zugestimmt, manche zieren sich noch. „Die Mindestsicherung muss dazu beitragen, dass ein Mindestlohn kommt. Notfalls auch per Gesetz“, droht der ober­österreichische Soziallandesrat Josef Ackerl.

„Österreich hinkt der Entwicklung in der EU ohnehin nach“, meint der Grüne Karl Öllinger. In 20 der 27 EU-Staaten sind Mindestlöhne gesetzlich verankert (siehe Grafik) – mit durchaus unterschiedlichen Effekten. In Frankreich gehört die üppige Erhöhung der Mindestlöhne zu den Standard-Wahlgeschenken konservativer und linker Staatschefs. Daher stieg der Mindestlohn jahrelang schneller als das Durchschnittsgehalt – was für viele Experten als Ursache dafür gilt, dass die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und Geringqualifizierten höher ist als in den meisten Nachbarstaaten. Das Vorzeigebeispiel Mindestlohn ist hingegen in Großbritannien zu besichtigen. Premier Tony Blair führte ihn in den neunziger Jahren ein, garniert mit einem ausgeklügelten System von Steuergutschriften für Niedriglohnempfänger. Das Ergebnis waren eine Boomphase und deutliche Zuwächse bei Beschäftigung und Einkommen. Sozialminister Erwin Buchinger plädiert dafür, das britische Modell des „working tax credit“ auf Österreich zu übertragen. Dieser sozial gestaffelte Lohnzuschuss für Einkommensschwache von bis zu 200 Euro pro Monat ist für Buchinger das „wirkungsvollste Instrument“ zum Arbeitsanreiz. Allerdings würde es dafür eine Systemumstellung brauchen: Stellt doch dieser Lohnzuschuss auf das Hauhaltseinkommen ab, weil dasselbe Gehalt, relativ gesehen, mehr oder weniger wert ist, je nachdem, wie viele Leute davon leben müssen.

Arm trotz Job. Gründe, das Arbeiten finanziell lukrativer zu gestalten, gibt es genug. Der Begriff „working poor“ stand lange für das amerikanische Dilemma, dass Menschen einen oder mehrere Jobs haben, es aber trotzdem nicht aus der Armut schaffen. Mittlerweile haben derartige McJobs längst in Österreich Einzug gehalten. Die Zahl der geringfügigen Dienstverträge wuchs im vergangenen Jahr um 30.000 und schnellte damit auf den Rekordwert von über 270.000 Jobs, in denen nicht mehr als 350 Euro brutto pro Monat verdient wird. Zwei Drittel dieser Niedrigstverdiener sind Frauen. Mit dem Resultat sind die Wiener Sozialämter immer öfter konfrontiert: Fast 60.000 Menschen benötigten im Vorjahr Sozialhilfe, obwohl sie arbeiten, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder Pension beziehen. Vor zehn Jahren waren es bloß 12.000 gewesen. Renate Pommerening-Schober, Leiterin der Wiener Sozialämter, erklärt den hohen Anstieg der Betreuungsfälle vor allem mit der Zunahme der atypischen Beschäftigung. Künftig wird den Niedrigverdienern der Betrag, der ihnen zum Überleben fehlt, aus der Mindestsicherung aufgestockt. FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl hält dies für einen fragwürdigen Ansatz: „Damit zementiert man den Trend zur atypischen Beschäftigung.“ Für den Salzburger Sozialrechtler Walter Pfeil ist dieses Risiko „nicht von der Hand zu weisen“. Denn zwei Teilzeitbeschäftigte kommen ein Unternehmen oft billiger als eine Vollzeitkraft. Nur: „Es kann politisch nicht das Ziel sein, Lohndumping zu forcieren“, kritisiert Pfeil. Nur große Opti­misten wie der Soziologe Konrad Hofer, der selbst als Leiharbeiter Erfahrung mit Billigjobs gesammelt hat, sind überzeugt, dass mit der Mindestsicherung das Lohnniveau steigt: „Sonst bekommen die Firmen ja keine Leute mehr.“ Allgemein begrüßtes Ziel der Mindestsicherung ist es, Menschen in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. „Das kann nur funktionieren, wenn sich arbeiten auszahlt“, stellt der steirische Soziallandesrat Kurt Flecker pragmatisch fest. Dann stellt sich die „Arbeitswilligkeit“, die Voraussetzung für den Bezug der Mindestsicherung ist, automatisch ein.

Strenge Kontrollen. Die Kontrollen sind streng und ähnlich jenen beim Bezug von Arbeitslosengeld. Wer nicht arbeiten will, muss mit einer stufenweisen Kürzung um bis zu 50 Prozent rechnen. „Wer glaubt, hier werden Spaziergänger subventioniert, irrt“, deponiert Johanna Mikl-Leitner, die für Niederösterreich die Verhandlungen geführt hat. Herta N. hat alleine drei Kinder durchzubringen. Für die Schichtarbeit in einer Lebensmittelfirma bekommt sie monatlich 700 Euro netto. Um vier Uhr morgens wird sie vom Firmenbus abgeholt, ihre Kinder müssen alleine aufstehen und zur Schule gehen. Trotzdem konnte sie den Job nicht ablehnen, weil ihr sofort eine Sperre gedroht hätte. Im Vorjahr wurde bundesweit 86.000-mal die Arbeitslose gesperrt, davon rund 14.300-mal mangels Arbeitswilligkeit. Für viele Sozialpolitiker war die so genannte „Regressforderung“ bisher ein Haupthindernis auf dem (Rück-)Weg zur Erwerbstätigkeit. Denn streng genommen war die Sozialhilfe nur ein zinsenloser Kredit der Landesregierung. Sobald Geld verdient wurde, musste zurückgezahlt werden, in manchen Ländern sogar von Großeltern und Eltern. Ein Teufelskreis: „Kaum hat man sich vom Abgrund wegbewegt, schob einen der Staat wieder zurück“, sagt Michael Wall vom oberösterreichischen Sozialreferat. Um dem zu entkommen, bewarben sich erst viele gar nicht um einen Job, weil „kein finanzieller Anreiz zur Arbeitsaufnahme bestand“, konstatiert die Arbeitsmarktexpertin Gudrun Biffl.

Diese Falle wurde nun beseitigt. Zum Regress kommt es künftig nur, wenn sich unerwartete Geldflüsse auftun, etwa ein Lottogewinn oder eine Erbschaft. Diese Chance, einen bescheidenen finanziellen Polster aufzubauen, hält Christoph Klein, Sozialexperte der Arbeiterkammer, für einen wichtigen Schritt in Richtung Erwerbstätigkeit: „Alle Leute, denen man ihre Armut ansieht, etwa an der Kleidung, sind am schwersten für Jobs vermittelbar.“ Josef M. bekam einen Job, und den erledigte er auch zur vollen Zufriedenheit. Doch nach einem Monat holte ihn seine Vergangenheit ein: Im Lohnbüro trudelte wegen seiner Schulden eine Lohn­exekution ein. Das reichte für eine Kündigung. Wie viele Österreicher Mindestsicherung beantragen werden, lässt sich nicht abschätzen. Bisher holte sich jeder zweite Sozialfall, dem die Sozialhilfe zugestanden wäre, die Unterstützung gar nicht erst ab. Das lag auch am Stigma, vor allem im ländlichen Bereich: Wer stellt sich schon gerne bei seinem Bürgermeister als Sozialhilfeempfänger vor? Nur in der Großstadt Wien war der Sozialverzicht wesentlich geringer.

Mehr Empfänger. Künftig wird die Mindestsicherung beim Arbeitsmarktservice beantragt. Alle Experten rechnen damit, dass dadurch die aktuelle Zahl von 192.000 Sozialhilfeempfängern deutlich nach oben klettern wird. Erste Erfahrungen gibt es in Kärnten: Vor nicht einmal einem Jahr wurde eine regionale Mindestsicherung mit dem Grundsockel von 620 Euro eingeführt. Seitdem hat sich die Schar der Bezieher um vierzig Prozent erhöht. Sozialrechtler Walter Pfeil kann sich sogar einen ähnlichen Effekt wie bei der Einführung von Hartz IV in Deutschland vorstellen. Damals beantragten plötzlich Menschen eine Stütze, die vorher in keiner Arbeitslosen- oder Sozialstatistik aufgeschienen waren.

Das kann teuer werden. Die Kostenschätzungen des Bundes gehen von 250 bis 300 Millionen Euro aus. „Die meisten Länder werden noch etwas aufzahlen“, sagt die Vorarlberger Landesrätin Greti Schmid. Transparenter wird das System dadurch nicht. So beträgt etwa der Heizkostenzuschuss in Oberösterreich 150 Euro, in Niederösterreich 200 Euro, in Kärnten 186 Euro. Unübersichtlich bleibt das System der Zuschüsse, die von Land zu Land unterschiedlich sind: Es reicht von Zuzahlungen zum Begräbnis, zu Zahn­spangen oder Urlauben bis zur Schulausrüstung. Nächstes Jahr wählen Salzburg, Kärnten, Vorarlberg und Oberösterreich. Unter diesen Umständen sind ein paar zusätz­liche Cent für Benachteiligte wohl das Mindeste.