Die Unvollendete

Ägypten. Ist die Revolte am Nil gescheitert?

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Dieses Mal sind es nicht, wie im vergangenen Februar, die ägyptischen Nationalfähnchen und andere patriotische Souvenirs. Die Straßenverkäufer am Kairoer Tahrir-Platz machen das große Geschäft mit billigen Gasmasken „made in China“. Erstmals greifen die ägyptischen Sicherheitskräfte die Demonstranten mit einer Sorte Tränengas an, die offenbar mit giftigen Chemikalien angereichert ist. Protestler brechen unter Atemnot zusammen, befinden sich in Schockzustand, zittern und haben blutunterlaufene Augen.

Neun Monate nach dem Sturz des ägyptischen Langzeit-Diktators Hosni Mubarak, am Vorabend des Beginns der für Montag dieser Woche geplanten Parlamentswahl, ist die Revolution auf die Straßen Kairos, Alexandrias und anderer ägyptischer Städte zurückgekehrt. Und die ­Reaktion des Militärs, das nach dem Mubarak-Sturz provisorisch die Macht ergriffen hat, fällt brutal und unerbittlich aus. Ende der vergangenen Woche wurden etwa 40 Demonstranten getötet, über 3000 verletzt. „Noch vor neun Monaten, während der Revolution, haben wir dem ­Militär zugejubelt, weil sich die Armee nicht auf die Seite des Mubarak-Regimes geschlagen hat“, sagt der Kairoer Rechtsexperte und ägyptische Präsidentschaftskandidat Abdullah Alashaal. „Jetzt zeigt sich allerdings, dass der Militärrat die Macht nicht mehr abgeben will".

Das 24-köpfige Gremium des Obersten Militärrats (SCAF), der angetreten war, den Weg Ägyptens in die politische Freiheit zu ebnen, schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Die Generäle haben alles unternommen, ihre geborgte Macht zu befestigen und den Terminplan für die Demokratisierung zu verzögern: Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre. Der Ausnahmezustand, der seit 30 Jahren herrscht, wurde nicht aufgehoben, sondern weiter verschärft. 12.000 Ägypter, die Kritik an der Armee übten, kamen vor das Militärgericht. „Der Militärrat ist genauso schlimm, zum Teil sogar schlimmer als das Mubarak-Regime“, analysiert der Ägypter Maajid Nawaz, ein ehemaliger politischer Gefangener und Vorstand eines britischen Nahost-Think-Tanks: „13 Menschen wurden seit dem Ende der Diktatur hingerichtet, Tausende in den Gefängnissen gequält. Folter wird nach wie vor systematisch angewendet.“

Dafür haben Hunderttausende Ägypter zu Beginn des Jahres auf den Straßen sicher nicht ihr Leben riskiert. War also alles vergebens?
Während die Militärs den Rückwärtsgang einlegten, hat sich in der ägyptischen Gesellschaft aber Gewaltiges getan. Die errungene Freiheit wird genutzt. Trotz Repression entstand eine lebendige Zivilgesellschaft, politische Parteien – von konservativ-religiös bis linksextrem, von moderat-liberal bis islamistisch und radikal-säkular – schossen aus dem Boden.

Die politische Situation war seit dem Sturz Mubaraks angespannt. Doch als der Militärrat, angeführt von Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, dem greisen ehemaligen Verteidigungsminister Mubaraks, ein Veto zu allen militärischen Angelegenheiten in die Verfassung schreiben und damit die Dominanz des Militärs verewigen wollte, platzte den Ägyptern der Kragen. Vor allem die Jungen – 50 Prozent der 85 Millionen Ägypter sind unter 20 Jahre alt – strömten wieder auf den Tahrir-Platz. Und alle Parteien hatten zu Protesten aufgerufen – alle außer den Muslimbrüdern.

Die mächtigste und bestorganisierte Partei des Landes, die sich für die kommenden Parlamentswahlen Siegeschancen ausrechnet, wollte eine Aufschiebung der Wahlen verhindern. Die Parteigranden forderten ihre Anhänger dazu auf, nicht an den Demonstrationen teilzunehmen. Und während auf dem Tahrir-Platz scharf geschossen wurde, saßen sie mit den Militärführern an einem Tisch, um die Zukunft des Landes am Nil auszuhandeln. „Die Muslimbrüder spielen ein polittaktisches Spiel. Das zeigt nur, dass sie sich an das System anpassen und keine Radikalen sind“, sagt Samer Shehata, Ägypten-Experte der Georgetown-Universität in Washington.

Kurzfristig zumindest dürfte der Bruderschaft ihr Polit-Manöver nicht gut bekommen. Die Jungen in der Organisation befolgten die Order nicht, sie gesellten sich zu den Rebellierenden, auch Ältere sind wütend über die Kollaborationsstrategie der Führung und drohen mit Abspaltung.
Der regierende Militärrat dürfte sich ebenso verkalkuliert haben: Donnerstag vergangener Woche wurde eine Entschuldigung für das harsche Vorgehen der Sicherheitskräfte veröffentlicht. Die provisorische Regierung trat zurück. Und Feldmarschall Tantawi machte Konzessionen: Die Präsidentschaftswahlen, die ursprünglich von den Generälen auf 2013 verschoben wurden, sollen nun kommenden Sommer stattfinden, verkündete er vergangenen Donnerstag. „Zu wenig, zu spät“ und „Weg mit Tantawi“ tönte es dennoch auf dem Kairoer Platz der Freiheit. Auf die Demonstranten machten die Zugeständnisse der Machthaber wenig Eindruck. Offenbar ist die Frustration so stark, dass sich die Protestler auch von den massiven Attacken der Polizei nicht einschüchtern lassen.

Ausgeschlossen ist nicht, dass die Strategie des Militärrats doch noch aufgeht: Seine Propaganda, dass einzig die Armee Ordnung im Land aufrechterhalten kann und die Proteste nur ins Chaos führen, könnte vor allem bei der ländlichen Bevölkerung und in den städtischen Armenvierteln ankommen. „Die ältere Generation, die unter Gamal Abdel Nasser, Anwar Sadat und Mubarak – alles Offiziere – sozialisiert wurde, ist überzeugt, dass nur das Militär Stabilität garantieren kann“, meint der ägyptisch-britische Politologe Maajid Nawaz. Unter den Jungen sei das Militär aber inzwischen höchst unpopulär. „Entscheidend sind daher nicht diese Wahlen – ob nun verschoben oder nicht –, sondern die darauf folgenden Urnengänge. Dann nämlich werden die meisten Aktivisten der Mubarak-Revolution erstmals wahlberechtigt sein.“

Diese jedenfalls geben sich kämpferisch. „Über Generationen hinweg wurden wir von korrupten Regimes unterdrückt. Wir hatten Angst. Jetzt aber trauen wir uns, zu sprechen und auf ein besseres Ägypten zu hoffen“, bringt hz, ein Blogger aus Kairo, die Stimmung auf den Punkt. „Aber wir brauchen Training, Disziplin und vor allem Zeit.“ Die demokratische Revolution am Nil ist nicht vollendet.

Mitarbeit: Marie-Therese Eberle

Georg Hoffmann-Ostenhof