Affäre: Neue Zeugen im Fall Kampusch

Wurde mehrmals mit ihrem Entführer gesehen

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Er hatte sie von Anfang an gesucht. Draußen im 22. Bezirk, jenseits der Donau, an dem von Autobahnkreuzen und Industriehallen verstellten Stadtrand von Wien, plakatierte er selbst gebastelte Steckbriefe mit dem Foto seiner damals zehnjährigen Tochter. Dort, wo ohnehin jeder dieses rundliche Mädchengesicht mit den verschmitzt lächelnden Augen kannte und wusste, dass Natascha verschwunden war. Er trieb die Ermittler an, wenn sie nach dem x-ten Tauchgang in Schotterteichen, nach dem Einsatz von Baggern, Suchhunden und Helikoptern wieder einmal ausgelaugt das Handtuch geworfen hatten. Er ging den Polizisten mit seinen teils ­abstrusen Thesen auf die Nerven, mit den von ihm engagierten Detektiven, mit seinen Vorwürfen gegen die seiner Meinung nach zu lasche Fahndung. Seine Tochter ist inzwischen wieder aufgetaucht, doch er, Natascha Kampuschs Vater Ludwig Koch, sucht immer noch.

Seit sich Natascha Kampusch nach acht Jahren Gefangenschaft im Sommer 2006 aus eigener Kraft befreite und mit blassem Gesicht vor einer gebannten internationalen Öffentlichkeit erschien, wurden mehrere Bücher über sie geschrieben. Ihre Exklusiv­interviews haben hohe Summen eingespielt, ab April versucht sie am runderneuerten Privatkanal Puls 4 eine Karriere als Moderatorin einer Talkshow. Und Ludwig Koch sucht immer noch die Wahrheit, „und zwar die ganze“, die hinter den Blitzlicht­gewittern, Nataschas eigenem Schweigen und unter dem Deckel des geschlossenen Aktes mit der Zahl 13 ST 62869/99y aus 145 prall gefüllten Ordnern bis heute verborgen geblieben ist. „Ich weiß, die Leute halten mich für einen Deppen, weil ich nicht so gut reden kann“, sagt Ludwig Koch. „Aber ich kann nichts dafür, dass mich manche unterschätzen.“ Und er ist sicher: „Die angebliche Wahrheit, so wie sie am Tisch liegt, stimmt nicht. Nicht ganz jedenfalls.“

Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten sind mehrere Personen auf Koch und den Privatdetektiv Walter Pöchhacker zugekommen, der seit Jahren nicht von Kochs Seite weicht. Diese Augenzeugen berichten von Begebenheiten, aus denen hervorzugehen scheint, dass manches anders gewesen sein dürfte, als bisher bekannte Ermittlungsergebnisse nahelegten.
Mit den zwei glaubwürdigsten dieser Personen hat profil vergangene Woche ausführliche Gespräche geführt. Der Ers­te, Josef Krall (Name von der Redaktion geändert, Anm.), ist pensionierter Lehrer und wohnt im zweiten Stock des Hauses in der Rugierstraße 30 in Wien-Donaustadt – genau gegenüber der früheren Wohnung der Familie Priklopil.

Wolfgang Priklopil hatte Natascha Kampusch entführt, sie acht Jahre lang in einem selbst gebauten Verlies im Garten des Einfamilienhauses der Familie in Strass­hof bei Wien gefangen gehalten und sich am Abend des 23. August 2006 vor einen Zug der Wiener Schnellbahn geworfen. Sein Opfer war einige Stunden zuvor geflüchtet und hatte die größte Alarmfahndung in der Geschichte der Zweiten Republik ausgelöst. Vater Priklopil war Jahre zuvor gestorben, Priklopils Mutter Waltraud wohnte nach wie vor in der Wohnung in der Rugierstraße, gegenüber von Josef Krall. Frau Priklopil ist mittlerweile ausgezogen und lebt unter einer neuen Identität an einem unbekannten Ort.

Ausländische Putzfrau? Nach Angaben von Ermittlern habe Frau Priklopil Natascha Kampusch zwar ein- oder zweimal gesehen, als sie zu Besuch bei ihrem Sohn im Haus in Strasshof gewesen sei. Sie habe die ihr unbekannte Person jedoch für eine ausländische Putzfrau gehalten, nie mit ihr gesprochen und ihrem Sohn Wolfgang keine diesbezüglichen Fragen gestellt. Möglicherweise war es anders.

Josef Krall berichtet nun gegenüber profil, Natascha Kampusch sei zumindest einmal mit Wolfgang Priklopil zu Besuch bei dessen Mutter gewesen. Ein oder zwei Tage nach Kampuschs Flucht habe er dies auch den Ermittlern mitgeteilt, die allerdings nur begrenztes Interesse gezeigt hätten. Krall erinnert sich nicht mehr genau, wann es war: „Vielleicht im Februar oder März 2006, jedenfalls gegen Winterende. An diesem Tag war ich vor meiner Wohnungstür und habe Schuhe geputzt, als der Wolfgang mit einer jungen Frau gekommen ist und bei seiner Mutter angeläutet hat. Die Frau Priklopil war zu Hause. Sie hat die Tür geöffnet.“ Natascha Kampusch sei etwas ärmlich und für die Jahreszeit zu dünn gekleidet gewesen und habe jedenfalls ein violettes Kopftuch getragen, das „auf türkische Art gebunden war, mit einem Streifen quer über die Stirn und nach hinten geknüpft. So ähnlich hat sie sich ja auch später, nach ihrer Flucht, präsentiert.“

Natascha Kampusch habe sich nach ihm umgedreht und ihn angesehen. Krall: „Heute weiß ich, dass es ein Hilferuf war. Damals habe ich das nicht wissen können. Wenn mich eine junge, schöne Frau anschaut, nehme ich ja nicht an, dass das ein Hilferuf ist.“ Wolfgang Priklopil sei aufgefallen, dass Natascha Kampusch versuchte, mit Krall Blickkontakt aufzunehmen: „Er hat sie am Arm geführt, sie in den Vorraum der Wohnung gedrängt und gesagt: ,Geh eini.‘“ Es sei ersichtlich gewesen, dass sich die Frau nicht wohlgefühlt habe.

Am Abend des 23. August, nachdem Kampusch geflüchtet war und Priklopil Selbstmord begangen hatte, seien Ermittler zu Frau Priklopil gekommen und hätten auch ihn, Krall, routinemäßig befragt: „Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Zusammenhänge noch nicht realisiert und konnte nichts Nennenswertes berichten. Nur dass ich die Familie oberflächlich kannte. Und dass die sehr zurückgezogen lebten.“

Erst am nächsten Tag dämmerte es ihm. Der pensionierte Lehrer rief bei der Polizei in Wien an. Dort erfuhr er, dass man nicht zuständig sei. Herr Krall wurde mit der „Sonderkommission Natascha Kampusch“ in Eisenstadt verbunden. Diese hörte sich Kralls Schilderung an und fand sie nicht uninteressant. Doch Krall noch einmal aufzusuchen und eine niederschrift­liche Einvernahme durchzuführen war den Ermittlern offenbar zu umständlich. Herr Krall wurde gefragt, ob er nicht ins Burgenland kommen wolle. Krall zu profil: „Da habe ich gesagt: ,Wenn es euch nicht wichtig ist, dann lassts es halt bleiben.‘“

Einige Monate nach ihrer Flucht habe er Frau Kampusch zufällig bei einem Heurigen während einer Geburtstagsfeier gesehen, berichtet Krall. Sie habe seinen Hund gestreichelt, und er, Krall, habe das Bedürfnis verspürt, Kampusch zu fragen, warum sie ihn damals nicht um Hilfe gebeten oder ein Zeichen gegeben habe. „Doch ich habe es gelassen. Offen gesagt hatte ich Schuldgefühle. Wir hätten es in der Hand gehabt, ihre Gefangenschaft um ein halbes Jahr zu verkürzen.“ Doch ein Blick sei halt zu wenig gewesen: „Was soll ich machen? Ich hatte einen unbestimmten Verdacht, aber das reicht doch nicht aus, um einen Wirbel zu veranstalten. Wenn so etwas an die Öffentlichkeit geht und sich dann herausstellt, dass nichts dran ist, was dann? Das sind ja meine Nachbarn, und ich muss mit ihnen leben.“ Vor wenigen Wochen habe er Natascha Kampuschs Vater Ludwig Koch beim selben Heurigen wieder getroffen und ihm die Geschichte erzählt.

Der BMW 850. Der 23. August 2006, der Tag von Kampuschs Flucht, war ein Mittwoch. Am Donnerstag zuvor und einen Tag später, am Freitag, dem 18. August, wäre sie, ohne es selbst zu wissen, um ein Haar befreit worden. So jedenfalls die Schilderung des Tankwartes Helmut Konrad von der Diskont-Tankstelle Jandl am Dassanovskyweg in Wien-Donaustadt: Am Donnerstag, dem 17. August 2006, gegen 11.30 Uhr hielt ein roter, vor Sauberkeit blitzender BMW 850 an der Tankstelle. Tankwart Helmut Konrad, seit jeher ein leidenschaftlicher Autofan, hatte gerade Besuch von einem Freund, ebenfalls Autoliebhaber. Der 850er fiel den beiden sofort auf. Der Fahrer stieg, zu Boden blickend, aus und ließ nachtanken. Ansonsten verbot er dem Tankwart, sein rotes Schmuckstück auch nur anzurühren. Nicht einmal die Scheiben durften gewaschen werden. Konrad: „Wahrscheinlich hätte ich den Wagen mit meinem Fetzen schmutzig gemacht.“ Trotzdem kam man ins Gespräch, und der Fahrer erzählte, den Wagen von seinem Vater geerbt zu haben. Helmut Konrad umkreiste ehrfürchtig den BMW. Am Beifahrersitz saß eine Frau mit Kopftuch, die ihn ansah und zu lächeln schien. Konrad: „Wissen Sie, ich bin seit 27 Jahren im Bezirk, an meiner Tankstelle kommen täglich 200 Kunden vorbei, ich hab den Fall Natascha in den Medien verfolgt, und er war hier im Bezirk über Jahre hinweg ein großes Thema unter den Leuten. Ich persönlich war immer der Meinung, dass sie noch lebt. Als ich nun diese Frau im BMW sah, gab es mir einen Stich.“

Konrad schöpfte konkreten Verdacht, es könne sich dabei möglicherweise um die vermisste Natascha Kampusch handeln. Der Tankwart: „Ich wollte auch nicht so neugierig wirken. Ich war ja überhaupt nicht sicher. Es wäre ja auch möglich gewesen, dass der Mann Türke ist, ein moslemisches Paar, da kann ich ja seine Frau nicht so begaffen.“ Als der Wagen wieder von der Tankstelle auf die Straße bog, habe Konrad gespürt, „dass der Typ nicht frank war. Ich hab überlegt, was ich jetzt tun soll, und habe mir, nur um irgendwas zu machen, die Autonummer aufgeschrieben.“ Den ganzen Tag sei ihm die Sache nicht mehr aus dem Kopf gegangen: „Ich hatte einen Bekannten bei der Kriminalpolizei, der inzwischen in Pension ist. Ich wusste nicht, ob ich den anrufen sollte. Dann beschloss ich, es nicht zu tun. Ich dachte, der Fahrer mit dem roten BMW würde wieder­kommen, und dann könnte ich mich zu 100 Prozent überzeugen, ob sie es wirklich ist. Ich hatte ja durch das Gespräch Vertrauen zu ihm aufgebaut.“

Am nächsten Tag. Helmut Konrad sollte Recht behalten. Schon am nächsten Tag bog der Wagen wieder zur Tankstelle ein. Er hielt vor dem Eingang zum Tankstellen-Shop. Es war gegen 16 Uhr. Tankwart Konrad wurde nervös. Der Fahrer blieb im Wagen sitzen, während die junge Frau mit dem Kopftuch ausstieg, sich langsam in den Shop begab und ein alkoholfreies Getränk aus dem Kühlregal nahm. „Als sie zahlen wollte, war ich mir zu 99 Prozent sicher, dass sie es ist. Ich dachte, vielleicht sagt sie etwas. Wenn ich eine Waffe gehabt hätte … ich weiß nicht. Ich habe selber eine Tochter. Ich hatte die Autonummer nicht mehr. Ich hab die Frau angeschaut und das Wechselgeld ganz langsam, wie in Zeitlupe zusammengesucht, um ihr möglichst viel Zeit zu geben, irgendwas zu sagen oder zu tun.“

Helmut Konrad erzählt, er sei unter Schock gestanden: „Ich habe überlegt, wenn ich jetzt die automatische Tür schließe und die Frau ins Hinterzimmer sperre, was macht der Fahrer dann? Vielleicht hat er eine Pistole, vielleicht gibt er Vollgas und fährt durch die Tür, vielleicht macht er etwas mit Benzin oder was weiß ich. Wenn ich jetzt die Polizei rufe – bis die da sind, das dauert zehnmal zu lange. Sie hat mich angeschaut. Irgendwie suchend. Aber nichts gesagt.“

Konrad dachte an seinen Bekannten von der Kripo. Da fiel ihm ein, dass es August war und sich der Mann auf Urlaub befand: „Ich habe hinausgeschaut zum Mann im BMW. Er ist am Steuer gesessen und hatte den Kopf gesenkt, wie immer. Die Tür war offen, und ich hab nicht gewusst, ob er hört, was ich rede. Als sie wieder wegfuhren, hab ich mich nicht einmal getraut, das Kennzeichen aufzuschreiben. Ich dachte, wenn der in den Rückspiegel schaut und etwas merkt, ist er weg, und wir finden sie nie wieder.“

Als der BMW mit Wolfgang Priklopil und Natascha Kampusch außer Sichtweite war und Helmut Konrad aufgewühlt auf und ab ging, tauchte plötzlich eine Erinnerung auf. Die beiden waren vor Monaten schon einmal da gewesen. Auch damals hatte sich die junge Frau mit dem Kopftuch ein Getränk geholt. Konrad: „Sie war total fertig, konnte kaum gehen und wirkte sehr krank und schwach. Sie hat mir leid­getan, das weiß ich noch genau. Doch damals hätte ich sie nie erkannt.“

Konrad redete mit niemandem darüber, nicht einmal mit seiner Familie. Er beschloss, für das nächste Mal einen Zettel vorzubereiten und „irgendetwas draufzuschreiben, ob sie die Natascha Kampusch ist und ob sie Hilfe braucht oder so. Oder ich wollte sie einfach fragen.“ Nachts konnte er kaum noch einschlafen. Fünf Tage später, am Nachmittag des Mittwochs der darauf folgenden Woche, war Konrad eben mit seinem Auto auf der Wiener Südosttangente unterwegs, als er die Meldung vom Auftauchen Natascha Kampuschs im Radio hörte. Nach ihrem Entführer, der in einem roten BMW geflüchtet sei, laufe eine Großfahndung.

Vorvergangene Woche fuhr Natascha Kampuschs Vater mit seinem klapprigen Pkw bei der Diskont-Tankstelle am Dassanovskyweg vor, um zu tanken. An der Zapfsäule stand Helmut Konrad und winkte Herrn Koch zur Seite. Er hatte ihm etwas zu erzählen. Koch ist glücklich über das Mosaiksteinchen. Seine Tochter hat er noch nicht ernsthaft über die Umstände ihrer Gefangenschaft befragt: „Anfangs wollte ich das nicht. Ich wollte ihr Zeit geben, bis sie selbst aufmacht.“ Doch dann kam der Streit mit seiner Ex-Lebensgefährtin und Nataschas Mutter, Brigitta Sirny. Seit Silvester hat er keinen Kontakt mehr zu Natascha. Koch: „Da hat sie meine jetzige Frau angerufen, ein gutes neues Jahr gewünscht und gesagt, wenn wir etwas wollen, sollen wir uns an ihre Mutter wenden. Ihre Handynummer funktioniert nicht mehr.“

Nataschas Mutter Brigitta Sirny „hat sowieso regelmäßig bei mir getankt“, erzählt Tankwart Helmut Konrad. „Mit ein bisschen Glück hätten sie sich treffen können.“ Sowohl Brigitta Sirny wie auch Natascha Kampusch waren trotz intensiver Versuche durch profil für Stellungnahmen nicht erreichbar.