Afghanistan. Das verlorene Land

Der aussichtslose Kampf gegen die Taliban

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Eine ganz normale Woche im siebten Jahr des Kriegs. Freitag, 5. September 2008: In der westafghanischen Provinz Farah sterben bei Gefechten acht Taliban und sieben Zivilisten. Samstag, 6. September: Im Büro des Staatsanwalts der Provinz Nimroz sprengt ein Selbstmordattentäter sechs Menschen in die Luft. Zwei tote Polizisten und 31 tote Taliban bei Kampfhandlungen. Sonntag: Selbstmordanschlag auf eine Polizeistation in der Stadt Kandahar, acht Todesopfer. Ein niederländischer Soldat der Schutztruppe ISAF (siehe Kasten Seite 89) erliegt nach einem Bombenattentat in Uruzgan seinen Verletzungen.
Montag: US-Einheiten dringen nach Pakistan vor und greifen das Haus eines Taliban-Kommandanten an. 21 Tote, darunter mehrere Frauen und Kinder. Der Gesuchte entkommt.

Dienstag: Raketenangriffe auf den Präsidentenpalast und das ISAF-Hauptquartier in Kabul. 15 Taliban und zwei Zivilisten kommen bei einem Luftschlag in der Provinz Khost ums Leben, ein afghanischer und drei US-Soldaten durch Sprengfallen. Donnerstag: Ein US-Soldat wird im Osten des Landes erschossen. Als eine Militärkoalition aus US-Spezialeinheiten und nordafghanischen Kriegsfürsten im Herbst 2001 binnen weniger Tage das brachial-islamische Taliban-Regime zu Fall brachte, hoffte die Welt, der ewige Unruheherd am Hindukusch-Gebirge würde damit in absehbarer Zeit endgültig befriedet sein.

Sieben Jahre danach ist das Gegenteil eingetreten – Monat für Monat verschlechtert sich die Lage. Die Regierung in Kabul, ohnmächtig und korrupt, verliert immer mehr von ihrer ohnehin gering bemessenen Macht. Der Widerstand gegen sie und ihre Verbündeten weitet sich aus, statt schwächer zu werden. Die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und zum Wiederaufbau des Landes abgestellten NATO- und US-Truppen geraten ständig stärker unter Druck. Im vergangenen Mai starben in Afghanistan erstmals mehr westliche Soldaten als im Irak. Im August lag die Zahl der Toten mit 47 höher als jemals zuvor.

Die Koalitionstruppen antworten auf die steigende Gefahr am Boden mit einer Ausweitung der Bodenoffensiven, vor allem aber des Luftkriegs: Heuer wurden auf Afghanistan bereits rund 400.000 Kilogramm Bomben abgeworfen. All das führt dazu, dass immer mehr zivile Opfer zu beklagen sind. 2006 waren es laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 929, 2007 gar 1633. Viele von ihnen starben durch US-Bomben, noch mehr aber durch Anschläge und Angriffe der Taliban. Und die scheinen überall zu sein. Sie führen ihren Guerillakrieg nicht mehr nur im Süden und Osten des Landes, der von den Paschtunen dominiert wird, jener besonders widerspenstigen, konservativen und religiösen Volksgruppe, die immer die Herrschaftselite des Landes bildete – und aus der letztlich auch die Taliban hervorgegangen sind. Inzwischen verüben sie auch Attentate im Norden und Westen des Landes, also in Regionen, die bislang als vergleichsweise ruhig galten. Sie setzen sich sogar in unmittelbar bei Kabul gelegenen Gebieten fest. „Die Provinzen Logar und Vardak unmittelbar vor der Hauptstadt sind bei Nacht längst unter Taliban-Kontrolle“, sagt der aus Nordafghanistan stammende Politikwissenschafter und Autor Sarajuddin Rasuly, der in Österreich lebt. Und sie haben sich längst auch in den unkontrollierbaren Stammesgebieten von Pakistan organisiert. Dort wurde kürzlich die Tehreek-e Taliban-e Pakistan (TTP) gegründet: die „Gemeinschaft der Taliban in Pakistan“.

Koalition. Aber die Taliban des Jahres 2008 sind längst nicht mehr jene Steinzeit-Islamisten, die Afghanistan von Mitte der neunziger Jahre bis 2001 regierten. „In gewissem Sinne sind sie einfach die Bevölkerung“, analysiert Houchang Hassan-Yari, Leiter des Instituts für Politik und Wirtschaft am kanadischen Royal Military College. Die alten Kader um Mullah Omar, den sagenumwobenen Taliban-Führer, mischen zwar immer noch mit und versuchen, ihr „Emirat“ in Afghanistan wieder aufzubauen. Sie bilden jedoch beileibe nicht das Oberkommando des Widerstands. Nachrichtendienste glauben zu wissen, dass Mullah Omar am Leben ist und dass die Taliban über so genannte Schuras – also Versammlungen – strategische Anweisungen, Geld und Waffen an lokale Kommandanten weiterleiten, die dann auf eigene Faust entsprechend handeln. Die militante Bewegung reicht mittlerweile allerdings weit darüber hinaus. „Die Taliban sind nur ein Teil des Aufstands, mit dem wir konfrontiert sind“, sagt Brigadegeneral Richard Blanchette, Sprecher der ISAF.

„Die Masse ist nicht mehr religiös motiviert“, berichtet auch ein westlicher Militäranalytiker. Da gibt es Drogenhändler, die ungestört ihren Geschäften nachgehen wollen. Kriegsfürsten, die mit der Zentralmacht in Kabul im Clinch liegen. Paschtunische Clanchefs, die verhindern wollen, dass die gottgegebene Gesellschafts- und Stammesordnung durch fremde Einflüsse untergraben wird. Angehörige von Kriegsopfern, die Rache suchen. Oder schlicht Afghanen, die sich ein paar hundert Dollar als Söldner dazuverdienen wollen. „Taliban ist heute nur mehr ein Überbegriff für militante oppositionelle Kräfte, die aus sehr heterogenen Gruppierungen bestehen“, fasst Markus Gauster, Afghanistan-Fachmann am österreichischen Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK), zusammen.

Befreiung. Was sie eint, ist zweierlei: das Ziel, ihr Land vom ausländischen Einfluss zu befreien, und die gleiche Auffassung vom Islam, der im paschtunischen Teil Afghanistans seit jeher sehr rigide interpretiert wird. „Die religiösen Interessen der Taliban entsprechen der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem außerhalb der Städte. Die hat zum Beispiel einfach nichts dagegen, dass Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen“, lautet der ernüchternde Befund von Politikwissenschafter Rasuly. Für Hassan-Yari liegen die Gründe aber auch im „Missmanagement der USA: Die Amerikaner haben eine ganze Reihe von Fehlern gemacht.“ Dazu gehöre nicht nur die hohe Zahl an zivilen Opfern ihrer Operationen, sondern auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen nicht von der Situation profitiert: „Das macht es den Taliban leicht, Kämpfer zu finden und zu zahlen, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen.“

Und davon gibt es viele. Der Wiederaufbau des Landes geht nur schleppend voran – allen finanziellen Hilfszusagen zum Trotz, die sich über ein halbes Dutzend internationale Afghanistan-Konferenzen auf mehr als 30 Milliarden Euro summiert haben. Abseits jener Gebiete, in denen die Regierung und die ISAF das Sagen haben (also im Wesentlichen in den Großstädten, entlang mancher Abschnitte der Hauptverkehrsrouten und rund um die Militärbasen), herrscht weiterhin das Gesetz des Stärkeren. Der Drogenanbau und -handel florieren. Dieses Jahr wurde zwar deutlich weniger Schlafmohn angebaut als vergangenes Jahr. Die Suchtgiftlabors der umkämpften Südprovinzen produzierten aber immer noch mehr als 90 Prozent des weltweit hergestellten Opiums. Der Wert dieser 7700 Tonnen beträgt beim Ab-Hof-Verkauf 520 Millionen Euro und macht damit sieben Prozent des afghanischen Bruttonationalprodukts aus. Im Export ist er noch deutlich höher anzusetzen. Immer noch leben 2,4 Millionen Afghanen vom Opiumanbau. Und mit dem Geld daraus wird auch der Aufstand finanziert.
„Wir haben in vielen Fällen Drogen gemeinsam mit großen Mengen von Waffen und Sprengstoff gefunden, die im Zusammenhang mit dem Aufstand eingesetzt werden können“, erläutert ISAF-General Blanchette. „Aber der Drogenhandel wird nicht nur dazu benutzt, die Aufständischen zu finanzieren. Wo es Suchtgifthandel gibt, wuchert auch die Korruption.“
Die Behörden sind tief in das Geschäft mit der Sucht verwickelt – bis hinauf zu engen Verwandten von Präsident Karzai. Die Westmächte nehmen das bislang aber mehr oder minder widerspruchslos hin.

„Es verwirrt mich, wenn ich sehe, dass sich die Amerikaner und die NATO nicht stärker auf Entwicklungsmaßnahmen konzentrieren, die das Leben der Afghanen verbessern“, kritisiert Militärwissenschafter Hassan-Yari. „Wenn die Menschen nur ‚more of the same‘ sehen, werden die Taliban den Zulauf nie verlieren.“ Aber genau das scheint der Fall zu sein. Vor allem die USA halten weiterhin an der Idee fest, dass noch mehr Einsatz von militärischer Gewalt eine Trendwende herbeiführen könnte. Vergangenen Mittwoch zog US-Generalstabschef Mike Mullen vor dem Kongress in Washington eine ernüchternde Bilanz des Einsatzes. „Wir können uns den Weg zum Sieg nicht freischießen, und keine noch so gute Armee kann den Schlüssel allein liefern“, sagt er.

Mullen kündigte einen Strategiewechsel an. Dieser besteht im Wesentlichen aber darin, noch mehr Angriffe gegen Taliban-Stützpunkte jenseits der pakistanischen Grenze durchzuführen. Am Donnerstag dankte Staatschef Hamid Karzai US-Präsident George Bush für die Bereitschaft, ein paar tausend Soldaten zusätzlich nach Afghanistan zu schicken – und dem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt damit neuen Zulauf zu verschaffen. Über alle Parteigrenzen hinweg befürworten beide US-Präsidentschaftskandidaten eine Aufstockung der Truppen, der Republikaner John McCain genauso wie der Demokrat Barack Obama: Letzterer übrigens im absoluten Einklang mit den nun von George Bush angekündigten Maßnahmen – bis hin zu Angriffen auf pakistanisches Territorium.

Die Begründung wie immer: der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Das rührt noch aus der Zeit vor 2001 her, als die Taliban der Al-Kaida-Führung um Osama Bin Laden das Gastrecht gewährten. Verbindungen zwischen den afghanischen Guerilleros und dem Terrornetzwerk bestünden weiterhin, erklären übereinstimmend der Militärwissenschafter Hassan-Yari und ISAF-General Blanchette. Allerdings: „Der Aufstand ist ein lokales Phänomen. Die Taliban mögen eine Bedrohung für die Bevölkerung von Afghanistan gewesen sein. Aber sie waren es niemals für die regionale, und schon gar nicht für die internationale Sicherheit“, relativiert Hassan-Yari.

Eines ist für ihn ebenso klar wie für die ISAF: „Physisch wird es in Afghanistan immer Taliban geben. Es ist also weder möglich noch notwendig, sie alle auszuschalten. Besiegen kann man sie nur, wenn es gelingt, sie zu entzaubern.“

Von Martin Staudinger