Afghanistan-Krieg ist nicht zu gewinnen

Afghanistan-Krieg ist nicht zu gewinnen: Warum der Westen jetzt abziehen muss

Warum der Westen jetzt abziehen muss

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Als 2001 westliche Truppen die Taliban-Herrschaft in Afghanistan stürzten und die dortige Infrastruktur der Al Kaida zerstörten, wurden sie als Befreier empfangen. Die Hoffnung, dass nach 23 Jahren erbitterten Kriegs endlich Frieden im Land am Hindukusch einziehen würde, war groß. Acht Jahre danach jedoch wird das NATO-Engagement in Afghanistan immer öfter mit dem US-Krieg in Vietnam verglichen. Die NATO ist als Besatzungsmacht verhasst, die Taliban sind keineswegs niedergerungen, die Kämpfe nehmen an Heftigkeit zu, immer mehr Soldaten sterben. Und die vom Westen unterstützte Regierung des Präsidenten Hamid Karsai hat die Unterstützung im Land verloren: Einst mit Mehrheit gewählt, musste Karsai beim jüngsten Urnengang massive Wahlfälschung betreiben, um an der Macht zu bleiben. Die Legitimation der Regierung ist verloren. Und im Westen häufen sich die Stimmen, die ein Ende des militärischen Engagements fordern. Ihre Argumente gewinnen an Plausibilität. Fünf Gründe für einen baldigen Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan.


1. Afghanistan ist nicht zu erobern und nicht zu pazifizieren. Das wissen die Briten, das wissen die Russen. Und das erfährt jetzt auch die NATO.

Nicht umsonst hat Afghanistan den Beinamen „Imperium der Friedhöfe“. Seit seiner Gründung durch den paschtunischen Stammesfürsten Ahmad Schah Durrani im Jahr 1747 hat sich das Land noch nie unterwerfen lassen. Die britische Kolonialmacht kämpfte im 19. Jahrhundert gegen eine schlecht ausgerüstete Widerstandsbewegung, konnte Afghanistan in drei blutigen Kriegen dennoch nicht erobern. Die Sowjets erlitten zwischen 1979 und 1989 ein ähnliches Desaster. Jetzt sind es die NATO-Truppen der ISAF-Mission (International Security Assistance Force): Nach dem überraschend schnellen Fall des Taliban-Regimes im Dezember 2001 konzentrierte sich die US-Regierung militärisch und finanziell auf den Irak – und gab den ­Taliban die Möglichkeit, sich neu zu organisieren. Aus den Rückzugs­gefechten des früheren Regimes ist im Lauf der Jahre ein Volksaufstand geworden, der heute die von Paschtunen dominierten Gebiete Afghanistans voll erfasst hat. Mittlerweile hat der Westen erkannt, dass Afghanistan lediglich auf der Landkarte als Staat bezeichnet werden kann. Es ist ein komplexes, zutiefst zerklüftetes Land, in dem Stämme und Clans abseits der Zentralregierung in Kabul um ihren Machterhalt kämpfen. „Kabul hat nur über ein Drittel des Landes die Kontrolle“, sagt der US-Militärhistoriker Max Hastings. Der US-Think-Tank Brookings Institution hat Afghanistan nach Somalia in einem Ranking von 2009 als „schwächsten Staat“ der Welt bezeichnet.


2. Afghanistan droht von den vorrückenden Taliban wiedererobert zu werden. Aber eine sichere Zuflucht für die Al Kaida ist das Land nicht mehr.

Krieg gegen die Terroristen von Bin Laden – das war das deklarierte Ziel der Intervention in Afghanistan. Und das war auch das „nationale Interesse“ der USA: jene Kraft zu beseitigen, die für die 9/11-Anschläge verantwortlich war. Dieser Kriegsgrund ist weggefallen: Die Al Kaida in Afghanistan wurde 2001 eliminiert. Was davon übrig blieb, hat sich nach Pakistan zurückgezogen, wo die USA die Terroristen mit Drohnen bekämpften. Aber der Krieg gegen sie wird militärisch nicht zu gewinnen sein. Der ­Islamismus-Experte und ehemalige CIA-Mann Marc Sageman empfiehlt: „Man braucht eingeschleuste Agenten und die Unterstützung der Bevölkerung von Waziristan“, dem tribalen Grenzgebiet in Pakistan, von wo aus die Bin-Laden-Truppe agiert. Die Taliban sind ­lediglich eine große Gefahr für die Afghanen, aber nicht für die Welt. Die paschtunischen Aufständischen in Afghanistan und Pakistan haben keine Expansionspläne. Marc Sageman: „Und sollten, was nicht wahrscheinlich ist, die Taliban nach einer eventuellen neuerlichen Machtergreifung in Kabul Al Kaida wieder eine Operationsbasis bieten, kann man ihnen immer noch mit Bombardement drohen.“


3. Längst werden die westlichen Truppen als Besatzer
gesehen. Je länger die NATO in Afghanistan kämpft, desto stärker werden die Taliban.

Gegenwärtig sind 61.000 Soldaten aus 42 Nationen in Afghanistan aktiv. US-Präsident Obama will seine Truppen weiter aufstocken, bis Jahresende werden 100.000 westliche Soldaten am Hindukusch stationiert sein. Die Erfolgsaussichten sind dennoch gering: Je mehr Soldaten der Westen ins Land schickt, desto stärker scheint der Widerstand der Taliban, die in den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten des Landes ständig neuen Zulauf finden. 2002 starben pro Monat im Schnitt sechs westliche Soldaten, heuer sind es bereits 33. Durch unkoordinierte Aktionen wie den Luftangriff der deutschen Truppen vergangene Woche, der zahlreiche zivile Opfer forderte, legitimieren die Taliban ihre Widerstandsbewegung. Sie profitiert vom Schmerz der Bevölkerung darüber, dass Familienmitglieder oder Freunde bei Militäraktionen wie diesen ums Leben gekommen sind. Gleichzeitig wird in den westlichen Ländern die Sinnhaftigkeit der NATO-Mission zusehends kritisch hinterfragt. In allen NATO-Ländern, die sich an der ISAF-Mission in Afghanistan beteiligen, ist der Rückhalt in der Bevölkerung stark gesunken: In Deutschland und Großbritannien fordern über 60 Prozent der Bevölkerung einen sofortigen Abzug ihrer Truppen, in den USA will über ein Drittel die Beendigung des Militäreinsatzes. „Keine Besatzungsmacht kann hoffen, einen Aufstand niederzuschlagen, indem sie den Weg zum Sieg durch Töten und Erobern erzwingt“, hieß es in der August-Ausgabe des renommierten Magazins „Foreign Affairs“. Von dieser Strategie ist der Westen aber noch weit entfernt: Laut dem unabhängigen US-Kongress-Organ Congressional Research Service belaufen sich die Ausgaben der USA für den Afghanistan-Krieg inklusive der bereits budgetierten Gelder für 2009 auf 191 Milliarden Dollar. Die Militär­operationen haben 160 Milliarden Dollar verschlungen. Für den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte und zivile Projekte gaben die Amerikaner im selben Zeitraum nur 31 Milliarden Dollar aus.


4. Der Abzug der NATO schließt eine Fortsetzung der ökonomischen Hilfe und der Unterstützung beim Aufbau des afghanischen Staates nicht aus. Diese könnte noch verstärkt werden.

Kann man es moralisch verantworten, die Afghanen sich selbst zu überlassen? Droht nicht eine neuerliche Talibanisierung des Landes, die Perspektive einer brutalen islamistischen Diktatur? Wenn die Annahme stimmt, dass ein Abzug der NATO die kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan reduzieren und die paschtunischen Klans, die sich als Speerspitze gegen die Fremdherrschaft sehen, dadurch schwächen würde, dann könnten sich die Voraussetzungen für internationale Hilfe verbessern. In umkämpften Gebieten Schulen, Krankenhäuser, Straßen und Bewässerungsanlagen zu bauen ist derzeit nahezu sinnlos, weil die neue Infrastruktur sofort wieder zerstört wird. Sollte sich der Westen zurückziehen, sind Investitionen hingegen sinnvoll. Und es würden außerdem Finanzen frei, die bislang in die Truppenpräsenz in Afghanistan gesteckt wurden.


5. Noch kann der Westen – allen voran die USA und Großbritannien – ohne großen Gesichtsverlust abziehen. Aber viel Zeit bleibt nicht mehr.

Die politischen Kosten eines Abzugs dürfen nicht unterschätzt werden. Die Taliban und die Islamisten würden sich lautstark als Sieger im Kampf gegen die Ungläubigen präsentieren. Doch das Afghanistan-Engagement ist nicht der Krieg von US-Präsident Barack Obama und Britanniens Premier Gordon Brown; sie haben die Außenpolitik ihrer Vorgänger geerbt. Die neuen Regierungen in den USA und Großbritannien könnten zu Hause den Strategiewechsel noch glaubhaft als pragmatische Reaktion auf veränderte Umstände darstellen, in der moslemischen Welt als Teil der neuen Politik der ausgestreckten Hand und der qualifizierten Konzession gegenüber legitimen Interessen dieser Region. Ein Abzug könnte auch als Signal für die endgültige Absage an den „Krieg gegen den Terror“ von George W. Bush gewertet werden. Je länger die NATO-Truppen bleiben, desto schwerer wird es, sie wieder heimzuholen. Irgendwann müssen sie aber abgezogen werden. Denn, wie die Geschichte lehrt und wie es sich aus heutiger Sicht darstellt: Ein Sieg ausländischer Mächte am Hindukusch ist überaus unwahrscheinlich.