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Syrien: Rebellen aus dem Dunstkreis von Al-Kaida übernehmen Aleppo

Syrien. In Aleppo übernimmt eine Rebellengruppe aus dem Dunstkreis von Al-Kaida die Macht

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Von Petra Ramsauer, Aleppo

Mahmud Anas gewinnt jeden Tag eine entscheidende Schlacht. 248 Familien versorgt der Automechaniker in seiner Werkstatt mit Essen. Penibel geführte Listen legen fest, wer in al-Ansari, einem im Osten der Stadt Aleppo gelegenen Viertel, arm genug ist, um Anspruch auf Hilfe zu haben.

Zwölf Fladen, abgepackt in dünnem Plastik: Die Tagesration für eine ganze Familie beträgt nicht mehr als ein Kilogramm Brot.

Die Lieferungen bezahlt und organisiert eine Organisation, die im Westen als Terrorgruppe gilt - die Al-Nusra: eine syrische Oppositionsgruppe, die sich als Teil des globalen Netzwerks von Al-Kaida betrachtet. Neben Bomben hat sie neuerdings auch Brot im Angebot und Wohltäter wie Mahmud Anas im Sold.

Zwei Jahre tobt der Bürgerkrieg in Syrien nun schon, und in dieser Zeit hat die Miliz eine bemerkenswerte Metamorphose durchgemacht: Von einer klandestinen Terroreinheit wurde sie zur stillen Großmacht in den Rebellengebieten. "Unsere Bewegung sichert heute alle Getreidespeicher im Norden Syriens sowie die Importe aus der Türkei. Sie sorgt dafür, dass Brot gebacken und in Ausgabestellen wie meiner hier verteilt wird“, sagt Anas, der wie alle Gefolgsleute der Al-Nusra wenig redselig ist. Eigentlich kontrolliere Al Nusra aber die gesamte Grundversorgung in der Region, sagt er dann noch: die Zuckerfabriken ebenso wie die Ölquellen im Osten Syriens.

Die Gleichung ist simpel.
Je schwächer die "Freie Syrische Armee“ (FSA) wird, desto tiefer schlägt die Jabhat al-Nusra li Ahl asch-Scham ("Front zur Verteidigung des Volkes Syriens“) in den Rebellengebieten Wurzeln. Das ist im Straßenbild nicht mehr zu übersehen: Statt der Trikolore der säkular geprägten FSA flattern bereits in Azaz, der ersten Stadt Syriens nach der Grenze zur Türkei, schwarze Flaggen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in weißer Schrift - dem Logo der Islamisten. Sie stecken auch in den Sandsäcken bei den Checkpoints entlang der Landstraßen bis hinein ins Zentrum von Aleppo.


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+++ Immer mehr deutet darin hin, dass in Syrien Chemiewaffen eingesetzt werden. Nur: Welche? +++

Vor einem Jahr griff die FSA die Stadt weitgehend unvorbereitet an. Seither hat sich die Offensive festgefressen und in einen lähmenden Stellungskrieg verwandelt. Jetzt liegen ganze Straßenzüge in Ruinen, Aleppo ist zweigeteilt, drei Millionen Menschen, darunter viele Flüchtlinge, leben in den "befreiten“ Bezirken. Die überforderte Stadtverwaltung, die Oppositionelle gebildet haben, braucht dringend Geld: 750.000 Euro wären sofort nötig, rechnet man hier vor. Bloß: von wem? Die FSA, die für sich beansprucht, die offizielle Ordnungsmacht der Rebellion zu sein, ist pleite.

Nur ein Fünftel der Schulen ist in Betrieb, mehr als zwei Drittel der Spitäler sind geschlossen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 90 Prozent, die verteuerten Lebensmittel kann sich kaum noch jemand leisten. "Dabei kommen die gröbsten Probleme erst auf uns zu“, sagt Mohammed Ali, ein 30-jähriger Techniker, der auf Klimaanlagen spezialisiert ist: "Es wird heiß, uns fehlt der Strom für Kühlung, und schon jetzt grassieren viele Infektionskrankheiten.“ Ali verteilt in einer behelfsmäßig eingerichteten Klinik Medikamente zur Behandlung von Leishmaniose. Das ist eigentlich eine Hundekrankheit, die von Stechmücken übertragen wird. Neuerdings befällt sie aber mehr und mehr Kinder. "Momentan sind es 300 pro Tag. Im Juli werden es 1000 sein“, fürchtet Ali und streicht sich über den ungetrimmten Vollbart. Auch sein überfüllter Behandlungsraum ist schwarz beflaggt: "Es ist wohl offensichtlich, wer diesen Menschen hilft“, sagt er dann.

Wenn die Al-Nusra nicht wäre, gäbe es keine Hoffnung mehr, ist die 22-jährige Krankenschwester Hudna sicher: "Ich liebe sie dafür.“ Hudna war eine der ersten, die in Aleppo auf die Straße gingen: für ein politisches System wie in Europa, ein Ende des Assad-Regimes von Baschar al-Assad: "Nach dem Krieg und nach Wahlen wird es ein säkulares, modernes Syrien geben. Doch jetzt brauchen wir die Al-Nusra“, meint sie: "Das sind ehrliche Menschen. Die denken nur an Gott, an unsere Sicherheit und haben die richtigen Waffen, um Assad Paroli zu bieten. Das sind heute die Guten.“

Gut zu sein, ist kostspielig. Mindestens eine Milliarde Euro dürfte bereits via informeller Kanäle aus Katar und Saudi-Arabien in die Kriegskassen der Islamisten-Gruppe geflossen sein - ein beträchtlicher Teil davon in Form von Waffenlieferungen. Bis zu 70 Flugzeugladungen mit Rüstungsgütern pro Monat wurden nach Angaben des Friedensforschungsinstituts Sipri zuletzt registriert.

Mit dem Geld werden aber auch Kämpfer bezahlt.
So sponsern Gönner aus dem Emirat Katar etwa Al-Nusra-Milizionäre im Großraum Aleppo mit knapp 100 Euro pro Kopf und Monat. "Natürlich hat auch Geld eine Rolle gespielt“, räumt der 28-jährige Lehrer Hassan al-Hak ein, der kurz vor seinem ersten Training als Al-Nusra-Kämpfer steht: "Aber wichtiger ist: Wir habe eine Vision. Wir wollen die vom Propheten vorgegebene Ordnung umsetzen. Deshalb sind wir vorbildlich. Wie ein Werbeträger.“

Al-Hak hat es eilig an diesem Freitag zu seiner ersten Unterrichtseinheit als Gotteskrieger, den Autoschlüssel hält er bereits in der Hand. Immerhin habe er Monate gewartet. "Die nehmen nicht alle. Drei Empfehlungsschreiben waren nötig, darunter auch von einem Scheich, der meine Festigkeit im Glauben überprüft hat. Die Einheiten sind in Zellen aufgebaut. Da müssen wir einander vertrauen können. Wir kennen uns untereinander und unseren direkten Kommandanten, sonst niemanden in der Organisation.“ Abgesehen davon interessiere ihn nur zweierlei: "Ob ich Munition in meinem Gewehr habe und so ein stolzer Soldat werde - keiner von diesen armseligen FSA-Rabauken, die anfangen, die Bevölkerung zu berauben.“

6000 Kämpfer
, darunter 1000 aus dem Ausland, aus Europa, Nordafrika und dem Kaukasus, soll die Al-Nusra derzeit unter Waffen haben. Ein Großteil der Kommandanten stammt aus dem Ausland, vor allem aus dem Irak. Dort befinden sich auch Trainingslager, nahe der Stadt Falluja, der Hochburg der Al-Kaida im Irak. Ihr hat sich Al-Nusra im April formell angeschlossen, und seither spielt der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi neben Mohammed al-Golani eine zunehmend wichtige Rolle in der Führung der Bewegung.

Damit ist klar:
Das Ende des Regimes von Baschar al-Assad ist nur ein Etappenziel der Bewegung und ihrer Gönner in der Golfregion. Ihnen schwebt vielmehr die Utopie einer "umma“ vor - des Gemeinwesens aller Gläubigen, in dem das islamische Recht in seiner Auslegung aus der Zeit des Propheten Mohammed gilt.

Auch innerhalb der FSA, die aus hunderten Einheiten besteht, gibt es Vertreter solcher Ideologien. Neben säkularen Milizen wie "Nordsturm“ oder der "Brigade der Elektroniker“ kämpfen in dem Verband islamistische Gruppen: die Ahrar al-Scham, mit ihren Hochburgen um die Stadt Idlib; die Ansar al-Scharia, die um Damaskus aktiv ist; und auch die Ahrar al-Suria, eine der rund 20 Rebellen-Milizen, die Aleppo halten.

"Wir kooperieren bei Offensiven sehr gerne mit der Al-Nusra“, sagt Ibrahim Husseini, ein Kommandant der Ahrar al-Suria unumwunden: "Ihre Leute tauchen plötzlich auf, kämpfen mit einer beispiellosen Entschlossenheit, rauchen nicht, lungern nicht herum. Sie machen nur Pause, um zu beten.“ Husseini war früher Meteorologe bei der syrischen Luftwaffe, desertierte und fand zum Glauben. "Ich kämpfe heute vor allem für Gott“, sagt er: "Aber auch für Syrien. Und nicht für einen nebulosen Gottesstaat. Wir haben keine suspekten Ausländer im Sold oder die Al-Kaida im Schlepptau.“ Deshalb gebe seine Gruppe trotz des gleichen Glaubens niemals Waffen an die Al-Nusra weiter. "Ich glaube, das verstehen viele in den USA und in Europa nicht. Dass wir für uns Waffen brauchen. Vielleicht einmal auch gegen die Al-Nusra.“

Vor einem Monat erhielt Salim Idriss, Generalstabschef der FSA, eine deutliche Warnung: Bis zu einem Viertel der Kämpfer sei bereits zur Al-Nusra übergelaufen, teilten ihm Gewährsleute mit. Die Nervosität des Rebellenkommandanten wurde offensichtlich, als er beim Treffen der "Freunde Syriens“, einer losen Koalition aus neun europäischen und arabischen Ländern sowie den USA und der Türkei, geradezu um Waffen flehte: "Wir brauchen Munition, Geschütze, um die Panzer zu stoppen, und Boden-Luft-Raketen zur Abwehr von Jets und Kampfhelikoptern. Uns laufen die Leute davon.“

Bisher versorgten sich die Rebellen vor allem, indem sie eroberte Depots der Assad-Armee plünderten. Manchmal kamen illegale Waffenlieferungen aus dem Ausland dazu. So tauchten in der Vergangenheit etwa kroatische Gewehre oder schultergestützte Boden-Luft-Raketen aus französischen Waffenschmieden in den Bürgerkriegsgebieten auf.

Doch die Versorgung war sporadisch und unzuverlässig. Das könnte sich angesichts des Endes des EU-Waffenembargos ändern; die Machtbalance innerhalb der syrischen Opposition könnte sich wiederum zugunsten der FSA verschieben und damit auch den Verlauf des Krieges beeinflussen.

Zuletzt konnten die Assad-Truppen im Zuge einer Gegenoffensive von den FSA-Einheiten besetzte Gebiete zurückerobern. Für militärische Erfolge der Opposition sorgt derzeit im Wesentlichen nur mehr die Al-Nusra. Im April kämpfte sie etwa die Provinzhauptstadt Raqqa von den Regierungstruppen frei. Anders als sonst verschwanden die Kämpfer nach getaner Schlacht aber nicht, sondern übernahmen in der 250.000-Einwohnerstadt selbstbewusst die Verwaltung.

Und auch in der Metropole Aleppo greift Al-Nusra nun verstärkt nach der Macht. Formal dominiert eine FSA-Miliz namens Liwa al-Tawhid die Stadt und stellt die Polizei. Doch im Militär- und im so genannten Scharia-Rat sitzen längst auch Leute von Al-Nusra. Ein Vorgeschmack auf das neue, freie Syrien?

"Das ist Unsinn“, widerspricht Abu Tawfik, Sprecher der Liwa al-Tawhid: "Wir werden Wahlen haben und dann wird man sehen, wer Syrien regiert - und vor allem wie.“

Unterdessen regiert die Macht des Faktischen. Gerüchte einer neu gebildeten Moral- und Sittenpolizei durch Al-Nusra-Einheiten tut Tawfik als Propaganda ab. Doch die Realität straft ihn Lügen. Bei einer Freitagsdemonstration tauchten kürzlich schwarz uniformierte Trupps mit Maschinengewehren auf, die Frauen ohne Kopftuch anherrschten, sich "ordentlich anzuziehen“.

Zwei Gerichte sind in Aleppo entstanden: ein liberales, getragen von der FSA, und ein religiöses, das nach rein islamischen Grundsätzen urteilt. Dieses Scharia-Tribunal ist das weitaus beliebtere: "Die Menschen gehen dort hin, weil die Urteile von den mächtigen Gruppen unterstützt würden“, muss auch der FSA-Sprecher einräumen.

Das Hauptquartier der Al-Nusra von Aleppo befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Augenklinik direkt neben jenem der Liwa al-Tawhid. Auch das Scharia-Gericht ist hier untergebracht. "Körperstrafen wie Amputationen sind im Krieg ausgesetzt“, versichert Abu Heidi, ein junger Mitarbeiter des Gerichts. Offizielle Interviews will er nicht geben. Nur so viel sollte klar sein: "Steinigungen sind auch ausgesetzt.“

Und nach dem Krieg?

"Das wird man sehen.“

Peitschenhiebe für Alkoholkonsum, bei erwiesener Untreue oder anderen Ordnungsübertretungen: Solche Strafen gab es in den vergangenen Wochen aber sehr wohl. Etwa die zehn Hiebe mit einem Stahlrohr, die Wael Ibrahim ertragen musste. "Sie haben dünne Rohre verwendet. Es war nichts“, sagt der 30-Jährige jedoch. Unter seinem Decknamen "Abu Mariam“ zählt er in Aleppo zu den Galionsfiguren der liberalen Revolutionäre. Die Prügelstrafe erhielt er, weil er während eines Protestzuges im Zorn eine der schwarzen Flaggen mit weißer Schrift von einer Wand genommen und zerrissen hatte.

Die Hiebe bekam er im April. Jetzt schlägt er andere Töne an: "Ihr FSA-Kämpfer! Hört auf zu stehlen! Geht an die Front und werft euch in die Schlacht. Für Syrien und nicht für ein neues Auto“, wettert Ibrahim alias Abu Mariam als Einpeitscher für die Sprechchöre bei der Freitagsdemonstration in Aleppos Hauptstraße Bustan al-Kasr.

"Wie lange hat der Westen geglaubt, dass wir ewig warten können, bis er sich aufrafft, etwas zu tun?“, fragt der Jurist Abu Jamen, der am wenig frequentierten liberalen Gericht arbeitet, voll Zorn: "Die radikalen Schiiten stützen Assad und wir haben die sunnitischen Islamisten am Hals.“

Sein Chef, der vorsitzende Richter Alamin Al-Naseh, nickt zustimmend. Vor ihm liegt ein dicker Papierpacken mit dem Titel "Codex Arabische Liga“ auf dem Deckblatt. "Das wäre der Entwurf für eine neue Ordnung: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, transparente Urteile“, sagt er resigniert: "Schon vergessen? Darum ging es am Anfang der Geschichte der syrischen Revolution. Aber wie sollen wir das durchsetzen, wenn wir nicht einmal noch kontrollieren, wer das Brot hier bäckt?“