Alarmstufe Rot bei Masern-Epidemien

Wie Impfgegner die Ausrottung verhindern

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Linda Haag, 17-jährige Schülerin der Waldorfschule in Salzburg-Mayrwies, war in der Karwoche mit zwei Freundinnen unterwegs. Zu später Stunde haben sich die Mädchen wohl etwas erkältet. Am Ostersonntag waren alle drei krank – Kopfschmerzen, leichtes Fieber, entzündete Augen. Schließlich traten bei einem der Mädchen typische Masernausschläge auf. Als Linda ihre Hausärztin auf ihren Verdacht ansprach, winkte diese ab. „Masern“, sagte die Medizinerin lachend, „gibt es hier zum Glück schon lange nicht mehr.“ Mittlerweile ist der Ärztin das Lachen vergangen. Ebenso wie Linda, die zehn Tage schwer krank im Bett lag und sich erst langsam wieder erholt. Bemerkenswert ist, dass Linda ebenso wie ihre beiden Geschwister gegen die Masern geimpft war. „Allerdings hatte mir niemand gesagt, dass Masern eigentlich zweimal hätten geimpft werden müssen.“ Immerhin steckten sich die beiden Geschwister nicht an – im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen und Mitschüler. Bis Freitag der Vorwoche wurden bereits 183 Krankheitsfälle gemeldet – 143 in Salzburg, 36 in Bayern, drei in Oberösterreich und einer in Wien.

Für die rasche Ausbreitung der Krankheit machen die Sanitätsbehörden die geringe Durchimpfungsrate der Bevölkerung verantwortlich. 95 Prozent gegen Masern Immunisierte wären nötig, um der Krankheit den Boden zu entziehen. In Nord- und Südamerika sowie in Skandinavien ist das bereits der Fall: Bis auf wenige, von Touristen eingeschleppte Fälle sind diese Weltregionen heute masernfrei. Der Korneuburger Kinderarzt Ferdinand Sator nimmt allerdings auch den Staat in die Pflicht: „Wenn der Staat die Verantwortung für die Impfschäden übernehmen würde, hätte er eine bessere Argumentationsbasis für die Impfung. Aber leider tut er das nicht.“ Statistisch kommt auf eine Million Masernimpfungen ein schwerer Impfschaden.

Die noch immer weit verbreitete, oft ideologisch gefärbte Impfgegnerschaft („was uns nicht umbringt, macht uns stärker“) führt zu Lücken im Impfschutz, welche dem Virus Tür und Tor öffnen. Zu diesen Widerstandsnestern im Impfgeschehen gehören auch viele Waldorfschulen, die nach den Prinzipien des österreichischen Philosophen und Esoterikers Rudolf Steiner (1861–1925) geführt werden. In der Waldorfschule Salzburg-Mayr­wies war kaum jeder fünfte Schüler gegen Masern geimpft. „Jede Krankheit bietet immer auch eine Chance“, erklärt der Waldorf-Schularzt Stefan Görnitz eines der Credos der Anthroposophie (wörtlich: Weisheit vom Menschen), eine Impfung wäre demnach entwicklungshemmend.

Angesichts einer Masernepidemie mit teils schweren Erkrankungen klingt das wie blanker Hohn. Bevor die weltweiten Impfkampagnen griffen, hatten die Viren Millionen Todesopfer gefordert – vor allem bei Kindern der Dritten Welt. Zwar waren die Komplikationen in den Indus­trieländern vergleichsweise geringer, dennoch bedeuten die Masern für nahezu jedes Kind eine ernste Krise. Zudem sind die Masern heute nicht mehr dieselbe Krankheit wie vor der Impfära. Es trifft zwar viel weniger Menschen, jene, die es dann doch erwischt, erkranken allerdings wesentlich schwerer. Vor allem deshalb, weil viele nicht mehr im „idealen“ Vorschulalter erkranken, sondern davor oder danach, wo das Komplikationsrisiko ungleich höher ist. Dass die Masern immer wieder ausbrechen, liegt zum einen an den Impfverweigerern, zum anderen aber auch daran, dass die Wirksamkeit der Impfung lange Zeit überschätzt wurde. Erst relativ spät merkten die Experten, dass bei etwa zehn bis 15 Prozent der Geimpften keinerlei immunologische Reaktion erfolgt, sodass diese Menschen nicht geschützt sind. Trotz hoher Durchimpfungsraten durchzog etwa von 1989 bis 1991 eine große Masernwelle den gesamten amerikanischen Kontinent. Die enormen Komplikationsraten waren nicht mehr mit der Vorimpfära vergleichbar. Masern war eine wesentlich gefährlichere Krankheit geworden.

Todesfälle. Allein in den USA registrierten die Gesundheitsbehörden unter den 27.672 Masernerkrankungen des Jahres 1990 die erhebliche Zahl von 89 Todesfällen. Die Hälfte der Todesopfer waren jüngere Erwachsene und Babys im ersten Lebensjahr. Insgesamt endete also jeder 311. Krankheitsfall tödlich. In der Vorimpfära war man in den Industrieländern noch von einem Sterberisiko von höchstens eins zu 10.000 ausgegangen. Das Risiko der Masern-Gehirnentzündung lag zwischen eins zu 1000 und eins zu 10.000. Die Öffentlichkeit reagierte geschockt, die Behörden mit der Einführung von landesweiten „Impftagen“. Schließlich wurde weltweit die obligate zweite Impfung eingeführt, um die Zahl der so genannten Impfversager zu reduzieren. Geblieben ist eine gefährliche Lücke bei Babys im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten, wo der „Nestschutz“ über mütterliche Antikörper rapide schwindet. Den Impftermin, der nun zum ersten Geburtstag empfohlen wird, einfach nach vor zu legen ist problematisch. Für den Fall, dass nämlich doch noch Reste mütterlicher Antikörper vorhanden sind, stürzen sich diese auf die abgeschwächten Lebendviren der Impfung und machen ihnen rasch den Garaus. Der Effekt der Impfung verpufft. Das wäre noch kein Problem, wenn dabei die Devise gelten würde: „Hilft es nichts, so schadet es auch nichts.“ Doch dem ist leider nicht so. Bei diesen „Impfversagern“ schlägt dann nämlich auch die Nachfolgeimpfung nur noch schlecht an. „Kinder im ersten Lebensjahr zu impfen, empfehlen wir deshalb nicht“, sagt Ingomar Mutz, Leiter des Impfausschusses beim Obersten Sanitätsrat.

Das Dilemma, dass viele Babys im Alter zwischen sechs Monaten und einem Jahr nunmehr ungeschützt sind, gilt derzeit als nicht lösbar. Umso bedrohlicher ist der aktuelle Masernausbruch. Wenn Babys im ersten Lebensjahr infiziert werden, können Masern einen chronischen Verlauf nehmen, wo die Viren über Jahre im Organismus wüten und die gefürchtete subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) auslösen. „In den letzten zwölf Jahren hatten wir in Österreich 16 Fälle“, erklärt Mutz. „Wir haben hier keine Therapie, das sind Todgeweihte.“ Jeder Ungeimpfte gefährdet auch diese schutzlosen Babys, warnen die Kinderärzte. Und auch die meisten impfkritischen Mediziner, wie etwa der Münchner Homöopath Martin Hirte, sind bei Masern voll auf Linie: „Hier hilft wirklich nur die Flucht nach vorne: ein Impfprogramm für möglichst viele.“ Nur dadurch könne es gelingen, die Bevölkerung langfristig vor Masern zu schützen.

Wie riskant Masern inzwischen vor allem für Erwachsene geworden sind, zeigt die aktuelle Epidemie: Bis vergangenen Freitag mussten sieben Patienten im Alter zwischen 16 und 30 Jahren in der Salzburger Klinik aufgenommen werden. Die Masernviren stammen wahrscheinlich aus der Schweiz, wo im Vorjahr rund 500 Personen erkrankt waren. 87 Prozent davon waren nicht geimpft. Jeder dritte Masernkranke war älter als 15, jeder zehnte sogar älter als 30 Jahre. Es kam zu vier gefährlichen Gehirnentzündungen. Jeder zehnte Erkrankte wurde im Krankenhaus behandelt. Sieben Prozent erlitten als Zweitinfektion eine Lungenentzündung, ebenso viele eine Mittelohrentzündung. Gestorben ist glücklicherweise niemand. Dennoch zeigt dieses Bild, was Impfverweigerern – oder deren Kindern – droht.

Hohes Sterberisiko. Im Vergleich zu dem, was die Masern in Afrika anrichten, erscheinen diese Zahlen dennoch harmlos. Marie-Christine Férir, die Koordinatorin der Masern-Impfkampagne für Ärzte ohne Grenzen, illustriert das mit einem afrikanischen Sprichwort: „Wie viele Kinder du hast, weißt du erst, nachdem die Masern durchgezogen sind.“ Nach den verheerenden Ausbrüchen des Vorjahres im Tschad ist die Hilfsorganisation derzeit in Niger aktiv. Dort kommt es immer wieder zu neuen Masern­ausbrüchen, tausende Menschen sind erkrankt. „Weil das Sterberisiko so groß ist, überrennen uns die Impfwilligen regelrecht“, sagt Walter Lorenz, der derzeit mit elf Impfärzten in der Stadt Zinder aktiv ist. Gerade im dicht besiedelten Afrika mit seinen wiederholten Krisen und der schlechten Infrastruktur stößt jeder Versuch, eine lückenlose Impfkampagne zu organisieren, seit Jahren auf unlösbare Hindernisse. Die von der UNO für das Jahr 2010 prognostizierte Ausrottung der Masern ist deshalb äußerst unwahrscheinlich.

Bei der Kinderlähmung, die noch in den fünfziger und sechziger Jahren in Österreich gewütet hatte, ist die Chance etwas besser. Nur noch in vier Ländern halten sich die Polio-Wildviren. „Wir sind aber optimistisch, dass wir in spätestens fünf Jahren, so wie bei Pocken, dieses Problem los sind“, hofft der Wiener Impfexperte Wolfgang Maurer. Im Vergleich zu Polio, wo die Viren wochenlang im Wasser überleben und auch von Wildtieren übertragen werden können, wäre die Ausgangslage bei Masern eigentlich wesentlich günstiger. Der charakteristische Verlauf der Erkrankung ist fast so auffällig wie bei Pocken, und es gibt nur sehr selten stille Infektionen. Die Masernviren brauchen zudem eine relativ große Menge von empfänglichen Menschen, um auf Dauer in einem Land „überleben“ zu können. Man geht dabei von einer Mindestzahl von 250.000 Personen aus. In weitgehend isolierten Gebieten, beispielsweise auf Island, konnten sich die Masern schon in der Zeit vor den Impfungen nicht halten und waren manchmal über viele Jahrzehnte verschwunden. Die Chancen stünden also gut. „Umso mehr sollten wir uns genieren“, schimpft Maurer, „dass wir allein in Salzburg so viele Masernfälle haben wie in ganz Amerika mit seinen 900 Millionen Einwohnern.“
„Wir wissen vom Autoverkehr, dass erst die Einführung einer Gurtenpflicht die Todesrate entscheidend reduzierte“, sagt Impfexperte Ingomar Mutz. Wie der Situation bei Masern am besten zu begegnen ist, sei nun Sache der Politik. Es müsse ja nicht sofort eine gesetzliche Impfpflicht sein, sagt Mutz. „Aber ohne irgendeine Art von Druck obsiegt die Schlamperei.“
Unterdessen wehren sich Anthroposophen gegen die verbreitete Verdächtigung, sie seien verantwortungslose Bioterroris­ten. Immerhin, so Schularzt Stefan Görnitz, zeigten Studien, dass Kinder aus Waldorf-Schulen meist sehr gesund sind und seltener unter Allergien leiden. „Dazu tragen fieberhafte Krankheiten wie Masern viel bei.“

Doch nach derzeitigem Stand der Wissenschaft spielen Masern weder als Allergie-Schutzfaktor noch als Risiko eine Rolle. Dies zeigte beispielsweise vor zwei Jahren die bisher umfassendste diesbezügliche Vergleichsstudie der so genannten „Parsifal-Gruppe“ mit europaweit 6630 Kindern. Die Studienautoren, darunter die renommierte Münchener Allergieforscherin Erika von Mutius und der Salzburger Kinderprimar Josef Riedler, hatten in die Studie zwei Drittel Kinder aus Waldorf- und ein Drittel aus anderen Schulen einbezogen. Ergebnis: Kinder mit durchgemachter Krankheit haben lediglich eine etwas geringere Neigung zu Heuschnupfen. Andere Einflüsse waren wesentlich wichtiger: Kinder, die während des ersten Lebensjahres Antibiotika erhalten hatten, erkrankten später beinahe dreimal so häufig an Asthma. Bei Kindern, die in diesem Zeitraum fiebersenkende Medikamente erhalten hatten, war das Asthmarisiko um 54 Prozent, jenes auf allergische Hautausschläge um 32 Prozent erhöht.

Auch eine aktuelle Schweizer Studie unter 1500 Kindern der achten Schulstufe ergab kein höheres Allergierisiko als Folge der Masernimpfung. Im Gegenteil: Sowohl der Kontakt mit den Masern-Wildviren als auch mit den abgeschwächten Impfviren reduzierte das Asthmarisiko auf die Hälfte. Und auch zahlreiche in Afrika durchgeführte Studien belegen, dass die Masernimpfung dem Immunsystem nicht schadet, sondern sogar einen richtigen Aktivitätsschub beschert. „Wir sehen, dass geimpfte Kinder danach nicht nur gegen Masern, sondern auch gegen die gefürchteten Tropenkrankheiten wesentlich widerstandsfähiger sind“, erklärt Peter Aaby, der Leiter einer dänischen Forschungseinrichtung in Guinea-Bissau.

Von Bert Ehgartner