Echt fett

Alkohol: 1,1 Millionen Österreicher sind abhängig oder gefährdet

Titelgeschichte. Österreich rangiert beim Alkoholkonsum EU-weit auf dem zweiten Platz

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„Verkehrscoaching“ nennt sich die Veranstaltung des Österreichischen Arbeitersamariterbunds in einem tristen Gebäude im 15. Wiener Gemeindebezirk. Sie ist Pflicht für Alkoholsünder. Nach dem „Fetzen des Zettels“, wie der Volksmund eine Führerscheinabnahme umschreibt, müssen sich die Delinquenten des 0,8- bis1,19-Promille-Bereichs für vier Stunden in einer Art Klassenzimmer versammeln und werden von einem Sanitäter, in dessen Gesicht geschrieben steht, dass es schon viel zu viel gesehen hat, verarztet. Die Meisten der ungefähr ein Dutzend Teilnehmer werden blass um die Nase, als Bilder von Autowracks und schwer Verletzten an die Wand projiziert werden. Im Raum lastet viel Schamgefühl, denn allen ist spätestens jetzt klar, dass alkoholisiertes Autofahren alles andere als ein Kavaliersdelikt ist. Keiner war in jenem Moment, in dem er sich nach ein paar Spritzern ans Lenkrad setzte, imstande, den Grad seiner Beeinträchtigung abzuschätzen.

Die „Gecoachten“ wirken wie ein soziologischer Bilderbuch-Querschnitt durch die österreichische Gesellschaft. Die propere Investment-Bankerin im Kostümchen, die immer wieder auf ihrem Handy die Börsenkurse beobachtet, hatte bei einem Girlie-Abend einigen Proseccos zu viel gekippt. Der großflächig tätowierte Wirt mit dem dünnen Zöpfchen aus der Wiener Leopoldstadt hat noch vor Lokalschluss seinen Laden verlassen, „weil i in meiner eigenen Hütt’n net der B’soffenste sein kann“. Sein Wille, ein Taxi zu besteigen, wurde von seiner rassistischen Lebensgefährtin torpediert: „Die meinige ist ma dann aber net eing’stiegen, weil der Taxler a Neger war. Des wül die net.“

Der schöne, junge Schauspieler, der von einer Party Nachschub für die auf dem Trockenen sitzenden Gäste holen gefahren war, erheitert die Truppe mit dem Satz: „Meine Eltern waren auch ständig betrunken und dabei irrsinnig erfolgreich.“

Der Musiker erzählt, dass ein Freund Onkel und Tante „ang’flaschelt“ in den Tod gefahren hat. Sein trockener Zusatz „Der hat dann alles geerbt!“ verleiht seiner Erzählung eine makabre Note.

Der Sanitäter mit den toten Augen mahnt mehr Ernst ein. Zu Recht: Sieben Prozent aller österreichischen Verkehrsunfälle gehen auf das Konto von Alkohol amSteuer. Niederösterreich, Oberösterreich und die Steiermark führen die Statistik an. Rund zehn Prozent aller Verkehrstoten sind Opfer alkoholbedingter Unfälle.

Im OECD-Vergleich ist Österreich nahezu Schluckmeister. Die jüngste Studie belegt, dass wir selbst gemeinhin als trinkwütig geltende Nationen wie Russland und Irland beim Alkohol-pro-Kopf-Konsum auf hintere Ränge verweisen. Während der OECD-Schnitt bei durchschnittlich neun Liter pro Kopf und Jahr liegt, sind es in Österreich 12,2 Liter, ex aequo mit Portugal. Geschlagen wird dieser Wert nur von Frankreich mit 12,3. Sogar die als Kampftrinker geltenden Russen kommen lediglich auf 11,45 Liter pro Kopf, die Iren auf 11,3.

Alkohol ist in Österreich eine Kulturdroge und ihr Konsum integrativer Bestandteil des Alltags, quer durch alle Schichten und Generationen. Im Vergleich zu Mittelmeerländern wie Frankreich, Italien und Spanien, wo Alkohol nahezu immer, aber in überschaubaren Mengen zu den Mahlzeiten gereicht wird, gehören Österreich, Deutschland, die Schweiz oder Großbritannien zu jenen Nationen, in denen „anlassbezogen“ getrunken wird, wie die Soziologie es nennt. Nur: Außerhalb der katholischen Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern, die aber auch nur in konservativen Kreisen oder innerhalb der gläubigen ländlichen Bevölkerung eingehalten wird, ist in diesem Land „das ganze Jahr Silvester“, wie der aus Berlin nach Wien gezogene deutsche Schriftsteller Joachim Lottmann feststellte. Sein Erstaunen über die Nonstop-Trinkgelage in Wien verarbeitete er zu dem Erlebnisbericht „Hundert Tage Alkohol“ (erschienen bei Czernin): „Die Stadt ist im ,flow‘ – und zwar alle: Politiker, hohe Bürokraten, Unternehmer, Hungerleider, Kriminelle, Künstler. Vor dem Alkohol gibt es keine Stände, Ränge und Klassen. Alle sind gleich. Nur zwei Dinge zählen: wie lustig einer ist und wie viel er aushält.“ ...

Lesen Sie die Titelgeschichte von Angelika Hager und Tina Goebel in der aktuellen Printausgabe oder in der profil-iPad-App.