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Alkoholismus: Medizin propagiert Schluss mit Totalabstinenz

Alkoholismus. Alkoholismus kostet Österreichs Krankenkassen 375 Mio. Euro im Jahr. Plus: Neue Therapiewege

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Sesselkreise, Namensschilder und peinlich berührte Neuankömmlinge, die am liebsten im Boden versinken würden: Das ist die gängige Vorstellung von Selbsthilfegruppen. Beim wöchentlichen Montagstreffen einer Gruppe von Alkoholkranken des Blauen Kreuzes Wien kommt allerdings das Gefühl auf, man sei in die Kaffeepause eines kleinen, innovativen Unternehmens geraten. Bunte Sitzmöbel und Kissen schmücken den Raum, in einer Ecke steht ein Schreibtisch mit fein säuberlich sortierten Ordnern. Menschen unterschiedlichen Alters plaudern gelöst miteinander.

Da die aufgeweckte Berufsschullehrerin, dort der junge, trendige Grafikdesigner, daneben der resolute Geschäftsmann. Gruppenleiter Hubert W.* will mit falschen Vorstellungen aufräumen: "Viele verbinden mit Alkoholikern den Obdachlosen auf der Straße. Doch das ist nur die winzige Spitze eines riesigen Eisbergs. Die meisten sind gewöhnliche Menschen, denen Sie das nicht ansehen würden.“

Selbst Familienangehörige, Freunde oder Arbeitskollegen wissen nichts von dem Problem, das die Gruppenmitglieder hierher geführt hat. Manche nehmen stundenlange Autofahrten aus den Bundesländern in Kauf, nur damit niemand in ihrem Umfeld Verdacht schöpft. Denn die Scham ist groß. Wie es sich anfühlt, wenn der Wodka zur Tarnung ins Dampfbügeleisen gefüllt wird, nur damit der Lebenspartner nichts merkt, oder die Dose Bier im Büro hinter dem Computer versteckt werden muss, verstehen nur Menschen, die im selben Boot sitzen. Ihnen können sie sich anvertrauen.

Wer trinkt, ist "charakterschwach“
, so die gängige Meinung. Was eine Suchtkrankheit wirklich ist und was sie für den Betroffenen bedeutet, ist vielen Menschen nicht bewusst - obwohl Alkoholismus in Österreich ein weit verbreitetes Phänomen ist: 340.000 Österreicher gelten als alkoholkrank, weitere 760.000 konsumieren Mengen in einem gesundheitsschädlichen Ausmaß. 23 Prozent der Männer und zehn Prozent Frauen greifen regelmäßig zur Flasche, immer früher sind auch Jugendliche betroffen. Damit liegt Österreich im europäschen Spitzenfeld.

Die gesundheitlichen Folgeschäden sind fatal. Die Lebenserwartung von Alkoholkranken liegt um 20 bis 25 Jahre unter dem Durchschnitt, die volkswirtschaftlichen Kosten der Sucht sind beträchtlich: Krankenstände, Erwerbsunfähigkeit, Therapien und Folgekrankheiten verursachen in der gesamten Europäischen Union geschätzte jährliche Kosten von 250 Milliarden Euro. Experten fordern daher eine umfassende Aufklärung über das Problem. Sie diskutieren neue Therapieansätze, etwa mit der Frage, ob reduzierter Alkoholkonsum nicht zielführender wäre als absolute Abstinenz. Studien förderten außerdem zutage, dass das Wissen vieler Allgemeinmediziner über Suchtkrankheiten mangelhaft ist. Schließlich wäre der Hausarzt die erste Adresse für eine frühzeitige Intervention. Die Gesundheitspolitik ist gefordert, den Konsum der Volksdroge Alkohol einzudämmen.

Mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen den Alkohol ist aber nicht nur ein österreichisches Problem. In einem kürzlich im Wissenschaftsmagazin "Nature“ veröffentlichten Kommentar warf die Oxford-Professorin Devi Sridhar der Weltgesundheitsorganisation WHO vor, den Kampf gegen den Alkohol bisher vernachlässigt zu haben. Jährlich sterben weltweit 2,5 Millionen Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Das sind vier Prozent aller Todesfälle - weitaus mehr, als Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria verursachen. Außerdem, so Sridhar, sei Alkohol der drittgrößte Risikofaktor für den Verlust von gesunden Lebensjahren.

Doch die Grenzen zwischen Genusstrinken und Alkoholkrankheit sind fließend. Ab welcher Menge und Frequenz wird der Konsum krankhaft? Wie können Betroffene und Angehörige einen problematischen Konsum erkennen? Und warum können manche Menschen, beträchtliche Mengen in sich hineinschütten und trotzdem beruflich erfolgreich sein, während andere in der Gosse landen?

Tatsächlich gibt es genetische Faktoren, welche die Sucht begünstigen. Die Leber baut den Alkohol ab, indem sie ihn mit Hilfe des Enzyms Alkoholdehydrogenase (ADH) in ein anderes Gift, das Aldehyd, umwandelt. Dieses ist sogar noch schädlicher als der Alkohol selbst. Aber der Körper kann den Alkohol nicht direkt, sondern nur über das Zwischenprodukt Aldehyd abbauen, das dann durch ein zweites Enzym, die Aldehyddehydrogenase (ALDH), nochmals aufgespalten wird.

Da Männer größere Mengen dieser Enzyme produzieren, vertragen sie auch mehr Alkohol als Frauen. Umgekehrt bieten die weiblichen Geschlechtshormone bis zur Menopause einen gewissen Schutz vor der Alkoholkrankheit. "Es kommt nicht selten vor, dass eine Frau erst nach den Wechseljahren zu trinken beginnt“, erklärt Henriette Walter, Psychiaterin an der Wiener Medizinuniversität.

Im Lauf der Evolution begann der Homo sapiens, sich von Fallobst zu ernähren, das durch den Gärprozess geringe Mengen Alkohol enthalten konnte. Mit Aufkommen der ersten Hochkulturen braute der Mensch Bier und Wein - alkoholische Getränke, die vor allem in Städten das oft verschmutzte oder verseuchte Grundwasser ersetzten. Indigene Völker wie die Aborigines hingegen kamen selten mit Obst oder Alkohol in Kontakt. Sie besitzen kaum die für den Alkoholabbau wichtigen Enzyme und vertragen daher keinen Alkohol.

In Europa hingegen, wo Produktion und Konsum von Bier und Wein eine jahrhundertelange Tradition haben, verfügen manche Menschen in ihrem Verdauungstrakt über große Mengen alkoholabbauender Enzyme, weshalb sie nur schwer einen Rausch entwickeln: Ihr Organismus baut den Alkohol so schnell ab, dass kaum nennenswerte Mengen davon ins Blut und ins Gehirn gelangen, wo das Rauschgefühl entsteht. In Österreich sind das etwa sieben von 1000 Menschen.

Es liegt auch nicht allein an der Menge, sondern auch an der Art der Enzyme. Einige bauen den Alkohol schneller ab als andere. Menschen, die genetisch bedingt über die schnelle Variante verfügen, sind benachteiligt - der rasch fallende Alkoholspiegel in ihrem Blut erzeugt das Bedürfnis, gleich wieder zu trinken. Markus Hengstschläger, Humangenetiker an der Wiener Medizinuniversität, erklärt: "Wenn zwei Menschen Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß trinken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer der beiden eine Abhängigkeit entwickelt, der andere hingegen nicht, zu 50 bis 70 Prozent von den Genen abhängig.“

Der 28-jährige Grafiker Christian K. dürfte über eine schnelle Art von alkoholabbauenden Enzymen verfügen. Er trank zwar wochenlang nichts, dann aber wieder in rauen Mengen. "Ich war das Highlight auf jeder Party. Ein Freund sagte zu mir einmal, das Fortgehen mit mir sei immer ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang“, erzählt K. Oft wachte er Tage später irgendwo auf und konnte sich an nichts mehr erinnern, musste sich aber wiederholt wegen diverser Ausraster verantworten.

Neben der genetischen Prägung spielt bei Alkoholkranken noch ein weiterer Aspekt mit, nämlich die Frage, ob es psychische Vorerkrankungen gibt. So leiden etwa 30 Prozent aller Alkoholkranken an einer Depression, das Trinken wird als Stimmungsaufheller, als Einschlafhilfe oder als Angstlöser benutzt. Menschen, die an keiner psychischen Vorerkrankung leiden und das Trinken genetisch bedingt gut vertragen, bezeichnet Psychiaterin Henriette Walter als "Lucky Ones“. Denn sie können oft und lange über die Stränge schlagen, ohne eine Sucht zu entwickeln. "Diese Menschen haben oft ein so genanntes hyperthymes Temperament, sie sehen das Leben sehr positiv und haben auch einen Beruf, der sie erfüllt. Künstler oder Schriftsteller sind ja oft für ihre Exzesse bekannt. Vor den biologischen Schäden des Alkohols, wie einer Leberzirrhose, sind sie jedoch auch nicht gefeit“, so Walter.

Bei Menschen, die trotz jahrzehntelangen Genusstrinkens fest im Berufsleben stehen, kann der Konsum rasch in die Sucht kippen, weiß die heute 54-jährige Lehrerin Johanna F. Ein Schicksalsschlag wie eine Trennung oder ein Todesfall ist oft der Auslöser. Johanna F. entwickelte mit 41 Jahren ein Alkoholproblem, als die Schwierigkeiten mit ihrer pubertierenden Tochter überhandnahmen. "Begonnen habe ich mit einem Glas Sekt in der Badewanne, weil ich entspannen wollte“, beschreibt F. den Beginn ihrer Sucht, die sie am Ende fast den Job kostete. Erst als der Arbeitgeber ihr mit Kündigung drohte, sollte sie sich nicht in ärztliche Hilfe begeben, wurde ihr die Sucht bewusst.

Ob jemand alkoholkrank wird und welche Therapie für ihn die beste ist, hängt von vielen persönlichen Faktoren ab, betont Psychiater Michael Musalek vom Wiener Anton Proksch Institut: "Wir brauchen realistische, individuelle Ziele für jeden Kranken. Das eigentliche Therapieziel ist heute ein autonomes und freudvolles Leben. Jede graduelle Annäherung an dieses Ziel ist demnach als Erfolg zu werten.“

Musalek fordert ein Umdenken in der Alkoholtherapie.
Er setzt auf Mengenreduktion statt völliger Abstinenz. Dieser Ansatz wurde schon Anfang der 1990er-Jahre von finnischen Suchtforschern propagiert. Kombiniert mit einer medikamentösen Therapie sollten Alkoholkranke ein Trinktagebuch führen und sich realistische Ziele setzen, um ihren Konsum allmählich zu senken. Diese "cut-down-drinking“ genannte Methode wird aber nur für bereits schwere Fälle empfohlen, oft ist sie die einzige lebenserhaltende Maßnahme. "Aber für viele Betroffene ist Abstinenz der einzige Weg“, betont die Wiener Suchtexpertin Gabriele Fischer. "Bei anderen wäre es wieder völlig falsch, darauf zu setzen. Für sie wäre der Verzicht zu groß, etwa so, als würde man eine lebenslange Keuschheit verlangen.“

Von der Idee des reduzierten Konsums hält der 47-jährige Wiener Walter Figelmüller absolut nichts. Er hatte im Alter von 14 Jahren als Fliesenlegerlehrling zu trinken begonnen und landete sogar auf der Straße. Sechs Entzüge hat Figelmüller bereits hinter sich, dazu einen Schlaganfall und Lungenembolien. "Ich habe mir jedes Mal gedacht, dass ich es diesmal schaffe, maßvoll zu trinken. Doch es gelang nie. Heute habe ich akzeptiert, dass ich alkoholkrank bin und immer wieder rückfällig werden kann. Das ist keine Sache, von der ich irgendwann geheilt bin.“ Figelmüller hat nun eine Ausbildung zum Sozialberater begonnen. Laut den jüngsten Daten des Gesundheitsministeriums trinken 30 Prozent der 15-jährigen Österreicher mindestens einmal pro Woche Alkohol. Bei den 17-jährigen sind es an die 50 Prozent, zehn Prozent davon trinken bereits täglich.

Doch nicht jeder Jugendliche, der sich einmal ins Koma getrunken hat, ist automatisch alkoholkrank, wie Suchtexpertin Fischer erklärt: "Hier handelt es sich um einen klassischen Fall von Alkoholmissbrauch, der auch schlimm ausgehen kann. Doch 95 Prozent dieser Jugendlichen werden nie süchtig.“ Die fünf Prozent, die dazu neigen, gelte es ausfindig zu machen. Das Risiko ist höher, wenn es bereits Alkoholkranke in der Familie gab. Die Enzym-Typen im Labor analysieren zu lassen und daraus eine eventuelle Gefährdung abzuleiten, ist derzeit nur theoretisch möglich, in der Praxis ist dieses Verfahren noch zu teuer.

Dass der Alkohol nicht nur tief in der österreichischen Kultur verwurzelt ist, sondern auch in vielen Berufsbranchen zum Alltag gehört, findet Jurist und Betriebswirt Bernhard Rupp von der Arbeiterkammer bedenklich: "Wir haben in Österreich viele Klein- und Mittelbetriebe, die keine vernünftigen Präventionskonzepte aufweisen und die wir auch schwer erreichen können. Außerdem weiß jeder, dass in gewissen Berufsgruppen sehr viel getrunken wird. Ich habe selbst Gemeinderatssitzungen erlebt, bei denen vor jedem Teilnehmer eine Flasche Wein stand, und das am Vormittag.“

Alkoholismus am Arbeitsplatz wird oft lange geduldet, bis die Stimmung plötzlich umschlägt. Wenn die Kollegen zunehmend Arbeiten miterledigen müssen, die der Betroffene nicht mehr schafft, schlägt das Verständnis rasch in Zorn um. Die Kündigung ist dann nicht mehr weit. Der Verlust des Arbeitsplatzes erschwert den Entzug, ein Teufelskreis beginnt.

Anvertrauen können sich die Betroffenen nur wenigen, wie Selbsthilfegruppenleiter Hubert W. erklärt: "Viele Freunde meinen es gut und sagen einem, dass man halt weniger trinken soll. Doch das ist das Allerschlimmste, was Sie einem Alkoholkranken sagen können. Sein Problem besteht ja gerade darin, dass er nicht weniger trinken kann. Das ist so, als würden sie einem Depressiven sagen, er soll sich etwas mehr zusammenreißen.“

Auch viele Hausärzte wissen keinen anderen Rat, erklärt Bernhard Rupp: "Sie könnten zum Beispiel standardmäßig Fragebögen ausfüllen lassen, wenn Verdacht auf eine Alkoholkrankheit besteht. Das passiert bereits in anderen Ländern.“ Tatsächlich gibt es standardisierte Fragebögen, die schnell einen Überblick verschaffen können.

Bei vielen Alkoholkranken wird die Abhängigkeit jedoch viel zu spät erkannt, sie selbst suchen meist erst Hilfe, wenn sie am Ende sind. Studien ergaben, dass es vom Auftreten der ersten Symptome durchschnittlich sieben Jahre dauert, bis endlich Maßnahmen ergriffen werden. Zudem müssen die Patienten dann oft noch Monate auf einen freien Therapieplatz warten - eine unnötige Qual. Für Schlagzeilen sorgten jüngst auch die finanziellen Probleme des Anton Proksch Instituts, das Alkoholkranke aus Kostengründen nur noch ambulant behandeln und nicht mehr stationär aufnehmen kann. Suchtexpertin Gabriele Fischer findet diese Entwicklung jedoch nicht nur alarmierend: "Dass Alkohol- und Suchtkranke in eigene Institute am Stadtrand geschickt werden, ist nicht mehr zeitgemäß. Das ist eine Ghettoisierung, die die Betroffenen noch mehr stigmatisiert. Die Suchtkrankheiten müssen auf jeder psychiatrischen Station behandelt werden können.“

So wurden in südlichen Ländern schon vor Jahrzehnten Maßnahmen gegen die Alkoholsucht ergriffen. In Italien zum Beispiel wird heute nur noch ein Drittel der vor 40 Jahren getrunkenen Menge konsumiert. In Österreich hingegen werden viele junge Männer regelrecht zum Trinken erzogen, und zwar beim Bundesheer. Nicht wenige in der Selbsthilfegruppe geben zu, dort "das Saufen gelernt zu haben“. Doch unter diesem Aspekt wurde die Abschaffung der Wehrpflicht noch nicht beleuchtet.

*Namen von der Redaktion geändert.