Alltagsgeschichten im 'dunklen' Mittelalter

Alltagsgeschichten im 'dunklen' Mittelalter: Neubewertung einer ganzen Epoche

Die Neubewertung einer ganzen Epoche

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Von Bert Ehgartner

Grausamkeit, feudale Willkür und eine alles Fleischliche verdammende Kirche galten lange Zeit als feste Konstanten für die höchst ungemütliche Ära zwischen den Jahren 500 und 1500 – das Mittelalter. Biografien, Romane oder Zeitschriften, die sich an das einfache Volk wandten, gab es nicht. Also waren die Historiker lange Zeit fast ausschließlich auf kirchliche Quellen angewiesen. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten formierte sich eine Wissenschaft, die sich zum Ziel setzte, aus Realienfunden, Gerichtsakten oder Einkaufsbüchern das wirkliche Leben der Menschen zu rekonstruieren – mit oft überraschenden Ergebnissen, die ein aus heutiger Sicht zwar immer noch eigenartig und fremd anmutendes, insgesamt aber wesentlich weniger düsteres Lebensgefühl vermitteln.

Alkohol
Wein wurde überall angebaut, wo er gerade noch wuchs, und in enormen Mengen getrunken. Die Anbaufläche in Österreich war im Mittelalter um etwa 50 Prozent größer als heute. Da der Wein von bescheidener Qualität war, trank die Oberschicht Importware aus Italien. Die meisten Männer waren mit einem täglichen Quantum von zwei bis drei Litern Spiegeltrinker. Aber auch Frauen tranken bereits am Vormittag Wein. Dies galt als gesund – zumindest gesünder als Wasser – und gut für den Teint. Der Wein wurde meist verdünnt und mit Honig und Kräutern gewürzt, eine Art übler Gewürztraminer. Apfel- und Birnenmost kamen erst viel später auf – und wurden beispielsweise von Erzeugern im Mostviertel als Billiggetränk an die Arbeiter des Erzbergs geliefert. Vor allem im Westen Österreichs betrieben viele Klöster, aber auch Private Bierbrauereien. Wegen der Unsitte, dem Gerstensaft alle erdenklichen Zutaten beizumengen, dekretierten mehrere Stadtverwaltungen Reinheitsgebote. Laut dem 1516 für ganz Bayern erlassenen Gebot waren nur noch Hopfen, Malz und Wasser zulässig.

Nahrungsmittel
Wichtigster Energielieferant waren Hülsenfrüchte, die zusammen mit Getreide zerstoßen und mit Zwiebel, Salz und Schmalz verkocht wurden. Eine beliebte Alltagsspeise war Kraut, vor allem Sauerkraut. Dazu wurde Fleisch gebraten oder eine Speckschwarte mitgekocht, je nachdem, was sich die Menschen leisten konnten. Dazu aß man Weizen- oder Roggenbrot, das einzige amtlich preisregulierte Nahrungsmittel. An den Fasttagen gab es Fisch. Hühner wurden das ganze Jahr über verzehrt. Zu den großen Festtagen schleppten die Lieferanten massenweise ihr termingenau gemästetes Geflügel in Holzkäfigen auf die Märkte. Beim Fleisch war das Hauptproblem die Konservierung. Deshalb wurden Schweine und Rinder möglichst spät geschlachtet, damit das Fleisch nicht verdarb. Kräftige Würzung vertrieb den üblen Geruch. Doch der über die Gewürzstraße importierte Pfeffer war so teuer, dass man für einen Sack davon ein Pferd kaufen konnte. Deshalb wurde gestreckt und verfälscht. Als Ersatz gab es Gewürzsumach oder Paradieskörner. Schärfe gehörte zur mittelalterlichen Küche. Nach Originalrezept gebacken, ist etwa der „Bremer Honigkuchen“ so scharf, dass er heutigen Menschen als nahezu ungenießbar erscheint.

Kinder
Kinder waren offenbar Nebensache, über ihre Erziehung gibt es kaum Aufzeichnungen. Zwar ist der Gebrauch von Spielzeug überliefert, auch die Liebe der Eltern wird in einigen Quellen betont, doch noch bis ins frühe 15. Jahrhundert wussten manche Einwohner von Florenz bei einer ansatzweisen Volkszählung gar nicht genau, wie viele Kinder sie hatten. Viele der Befragten, die mit ihren Familien ständig auf Wanderschaft waren, kannten weder ihr Alter noch die Anzahl ihrer Verwandten. Sechs bis zehn Kinder pro Familie waren das Minimum. Dass die Bevölkerungskurve dennoch nicht steil anstieg, liegt an der Kindersterblichkeit von mindestens einem Drittel. In den erst im Spätmittelalter aufkommenden Schulen prügelten die Lehrer derart eifrig, dass sie zeitweilig ermahnt werden mussten, den Kindern möglichst keine bleibenden Schäden zuzufügen. Kinder des Mittelstandes lernten vor allem lesen, rechnen und Chorgesang, jene der Bauern und ärmeren Städter hingegen besuchten keine Schulen.

Das Alter
Frauen waren buchstäblich Gebärmaschinen, ein frühzeitiger Tod galt als nichts Außergewöhnliches. Dennoch erfreuten sich überraschend viele Menschen bis ins hohe Alter von 80 und mehr Jahren guter Gesundheit. Die Versetzung in den Ruhestand glich denn auch den modernen Pensionierungszeiten. Im England des 13. Jahrhunderts wurden Ritter mit 60 aus dem Dienst entlassen, in Spanien standen Wachposten und Soldaten bis 70 im Dienst. Hildegard von Bingen gründete anno 1165 im Alter von 67 Jahren das Kloster Eibingen und leitete dieses als Äbtissin bis zu ihrem Tod im Jahr 1179. Über die Versorgung im Alter entschied das vorhandene Vermögen, aber auch das Geschlecht. Frauen waren immer davon bedroht, dass nach dem Tod des Ehemannes der Großteil des Besitzes an die männlichen Nachkommen ging. Viele versuchten, sich durch notarielle Verträge beispiels­weise ein Wohn- und Pflegerecht bis zu ­ihrem Tod zu sichern.

Körperpflege
Vor dem Schlafengehen die Füße zu waschen war eine Selbstverständlichkeit, lange Fingernägel galten als unschick, weil sie „die Krätze“ verursachten. Nach dem Aufstehen wusch man sich das Gesicht, vor dem Essen die Hände, vor allem deshalb, weil meist die ganze Tischrunde die Fleischstücke mit den Fingern aus der gemeinsamen Schüssel oder dem Topf fischte. Vollbäder waren hingegen selten und nur vor Feiertagen und Familienfesten gebräuchlich, Zahnbürsten unbekannt, Mundgeruch war weit verbreitet.

Bevölkerung und Verwaltung
Vergleichsweise paradiesisch war die Abgabenlast. Die Bauern zahlten den Zehent an die Kirche in Naturalien. In den Städten wurden die Steuern nur unregelmäßig eingehoben – insgesamt deutlich weniger, als wir heute dem Finanzamt abliefern müssen. Im Jahr 1300, bevor das enorme Wachstum der Städte einsetzte, waren die ländlichen Gebiete Europas dichter besiedelt als im Jahr 2000. Ein großer Irrtum der bisherigen Geschichtsschreibung war die Ansicht, dass die Menschen weitgehend sesshaft waren. „Es herrschte im Gegenteil eine enorme ständige Bewegung“, erklärt der französische Historiker Robert Fossier. Nicht nur junge Handwerker, Kaufleute oder Söldner gingen auf die Walz. Auch Bauern neigten zu häufigen Ortsveränderungen, sei es aus materieller Unzufriedenheit, sei es aus Unternehmergeist. In Tirol, wo sie die entlegensten Almen bewirtschafteten, schafften sie es sogar – einzigartig für Österreich –, als freier Stand Anerkennung zu finden. Eine Position, die sie künftig wütend verteidigten.

Mode
Kleidung war im Mittelalter stets auch ein sichtbarer Ausweis des Standes. Immer gab es Streit über das, was gerade noch erlaubt oder schon ungebührlich war. Allzu spitze Schuhe waren zeitweilig verboten und wurden als Zeichen der Hoffart öffentlich verbrannt. Männer trugen ihre Röcke, so kurz es ging. Als Unterwäsche diente ein knappes Tuch, das links und rechts an der Hüfte geknüpft wurde. Frauen trugen keine Unterwäsche. Dies erleichterte auch den Toilettengang. Nachts wurde nackt geschlafen. Das offen getragene weibliche Kopfhaar galt den Männern als wichtigster erotischer Reiz, deshalb herrschte auf der Straße Kopftuchzwang. Die umso aufwändigeren Tücher, Hauben und Hüte waren Statussymbole. „Unzählige Verordnungen regelten, wer welche Stoffe, Pelze oder Schleier tragen durfte“, erklärt Elisabeth Vavra, Direktorin des Kremser Instituts für Realienkunde des Mittelalters. „Je mehr Steuern bezahlt wurden, desto mehr Luxus war erlaubt.“

Badehäuser
Nacktheit spielte im Mittelalter nicht die erregende Rolle, die man ihr heute zuweist. In den öffentlichen Badestuben, die entweder nach Geschlechtern getrennt oder gemischt geführt wurden, standen Schwitzbäder und Vollbäder zur Wahl. Die Gäste stiegen dabei nackt in kleine Becken, wurden mit Speis und Trank versorgt und von „Reiberinnen“ mit parfümierter Lauge abgeschrubbt. Die Bader verdienten sich ein Zubrot, indem sie die Gäste zur Ader ließen, schröpften oder rasierten.

Bordelle
Frauenhäuser, in denen die „Hübschlerinnen“ ihrem Gewerbe nachgingen, wurden in den meisten Städten von der Gemeinde oder sogar der Kirche selbst geführt. Sie dienten dazu, den Triebstau der vielen unverheirateten Männer in geregelten Bahnen zu halten. Sogar Kleinstädte hatten mehrere Bordelle, der Liebeslohn war sogar für arme Handwerker leistbar. Auf der Straße mussten die Dirnen besondere Kleidungsstücke tragen, um sich zu deklarieren.

Medizin, Magie, Aberglaube
Im Mittelalter waren mystische Mächte und Wesen ein allgegenwärtiges Thema. Jeder war davon überzeugt, dass es Einhörner, Engel und Geister gab. Am Land wurde bis zum 13. Jahrhundert eine – von der Kirche oft still geduldete – Medizin mit stark magischem Charakter betrieben. Gebärden, Beschwörungsformeln und wiederholte Anrufungen spielten eine zentrale Rolle. Heilerinnen waren oft ältere, „weise“ Frauen, deren Praktiken viele Ähnlichkeiten mit der heutigen Alternativmedizin hatten. Die Geburtshilfe war ohnehin Sache von Frauen. Erst ab dem 14. Jahrhundert kamen vermehrt geregelte medizinische Ausbildungen an Universitäten auf. Ärzte waren bis dahin häufig Juden, die ihr Wissen in jahrhundertelangem Kontakt mit der orientalischen Kultur zusammengetragen hatten und dann in Familientradition an ihre Söhne weitergaben. Sie zogen mit ihrer Reiseapotheke und ihrem Werkzeug von Dorf zu Dorf, untersuchten den Urin, verabreichten Abführmittel, ließen zur Ader oder schienten Gelenke. Gerade dieses Wissen um die Krankheiten konnte ihnen aber auch zum Verhängnis werden, wenn ihre Heilkunst bei verheerenden Epidemien versagte. Da sie sich auskannten, gerieten sie rasch in den Verdacht, für deren Ausbruch verantwortlich zu sein. Wer sich an die Stelle des Schöpfers setzte, indem er die von Gott entfesselten Übel bekämpfte, bewegte sich in den Augen der Kirche stets auf dünnem Eis. „Auf den Scheiterhaufen kamen deutlich mehr Heilkundige als Anhänger der schwarzen Magie um“, so der Historiker Robert Fossier.

Gerichtswesen
Folter war bei Vernehmungen durchaus üblich. Aufgrund einer päpstlichen Bulle aus dem Jahr 1256 wurde sie vor allem bei Ketzereiverdacht angewandt. Die Urteile weltlicher Gerichte waren vor allem bei reichen Delinquenten oft erstaunlich mild. So war zur Buße etwa eine Wallfahrt zu absolvieren. Dieben wurden kurzerhand die Gliedmaßen abgehackt. Eine in sich logische Eigenart des Mittelalters war das Gottesurteil: Da alles nach höherem Plan bestimmt war, konnte ein Zufallsergebnis vor Gericht auch als Beweis gelten. Adelige ließen Stellvertreter um ihr Recht einen Zweikampf führen. Frauen mussten etwa bei behauptetem Ehebruch über glühende Pflugscharen laufen und dann zum Beweis ihrer Unschuld ihre unverletzten Füße vorzeigen. Besser dran waren Beschuldigte mit der so genannten Kaltwasserprobe. Gefesselt in einen Teich geworfen, galten sie als unschuldig, wenn sie untergingen. Ungeschickte Bergung konnte dennoch den Tod bedeuten.

Das Amt des Henkers oder Scharfrichters wurde in den Städten erst im Hochmittelalter eingeführt. Deren Gebühren berechneten sich nach Aufwand der jeweiligen Tötungsart. Für Hängen, Enthaupten, Ertränken oder Lebendigbegraben erhielten sie die Grundvergütung, für das aufwändigere Rädern das doppelte Honorar. Am teuersten war das Verbrennen. Immerhin musste dazu eigens Holz angeschafft werden.

Festlichkeiten
Das Mittelalter war, entgegen vielen Vorurteilen, eine Zeit der Feste. Arbeit galt in allen Ständen als notwendiger, aber lästiger Zwang. Der Kirchenkalender samt zusätzlichen regionalen Gebräuchen sorgte dafür, dass im Schnitt jeder dritte Tag ein Feiertag war. Dem Zeitgeist kam das sehr entgegen. „Zurückhaltung war diesen Menschen fremd“, so Robert Fossier. Gefühle zu zeigen war durchaus „in“, ob in Form lauten Freudengeschreis oder in Strömen fließender Tränen. Männer umarmten und küssten sich herzhaft auf den Mund. Bei Umzügen wurde im Chor gesungen, auf Drehleiern oder Flöten gespielt. Kein Fest war ohne Tanz oder großes Trinkgelage vorstellbar.

Geschlechter
Beim Studium mittelalterlicher Quellen entsteht der Eindruck, dass Frauen in der Gesellschaft gar keine Rolle spielten. Doch fast alles Geschriebene aus dieser Zeit stammt von Geistlichen. Erst in der jüngeren Vergangenheit zeigte die Genderforschung, dass Frauen sehr wohl ihren Rang hatten, Verträge schlossen oder als Witwen einen Betrieb weiterführten. „Sie waren aber gut beraten, rasch einen jüngeren Gesellen oder Meister zu heiraten“, erklärt die Wiener Historikerin Christina Lutter.

Seitens der Kirche gab es eine Unzahl von sexuellen Verboten – sogar bei Eheleuten. Die gewaltige Menge an Dokumenten, in denen Verfehlungen gegeißelt und Drohungen oder Strafen ausgesprochen werden, weist allerdings darauf hin, dass sich kaum jemand daran hielt. Es herrschten ungewöhnlich freizügige Sitten – ­zumindest zwischen Mann und Frau: ­Homosexualität und sonstige unter dem ­Sammelbegriff „Sodomie“ subsumierte Abweichungen wurden dagegen streng, oft mit dem Tod, bestraft. Dagegen erscheint die Bestrafung eines Seitensprungs eher als Verspottung der Dummheit, sich dabei erwischen zu lassen: Die Schuldigen wurden nackt aneinandergefesselt und auf einem Esel unter dem Hohn der Menge durch die Straßen geführt.