Rohstoffe - Ölpreis: Das 100-Dollar-Ding

Analyse: Das 100-Dollar-Ding

Trotz Rekordhoch kein Kollaps der Wirtschaft

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Wir schreiben das Jahr 2007. Der Ölpreis kratzt an der 100-Dollar-Marke. Die große Koalition beschließt die Errichtung weiterer Armenküchen im ganzen Land. Der 1000-Euro-Schein ist zum gängigen Zahlungsmittel geworden, seit die Inflation kein Halten mehr kennt. Auf den Straßen liegt der Verkehr lahm, weil Taxi- und Lkw-Fahrer wegen der hohen Spritpreise streiken. Täglich demonstrieren Arbeitslose vor dem Parlament. Währendessen debattieren führenden Ökonomen seit Wochen über einen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise.

So oder so ähnlich könnte unsere Welt heute aussehen, wenn die Vorhersagen eingetroffen wären, die Ökonomen noch vor wenigen Jahren abgegeben hatten. „Wenn der Ölpreis drei Monate hindurch über 30 Dollar bleibt, ist es ein Risiko für die Konjunktur“, sagte Markus Marterbauer, Experte beim Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) damals. Und mit dieser Meinung stand er keineswegs alleine da. Vielmehr galt der Zusammenhang zwischen Ölpreis und massiven Konjunkturproblemen seit den Ölkrisen der siebziger Jahre in Wissenschaft, Politik und öffentlicher Meinung als gesichertes Wissen. Internationale Organisationen gaben sogar Faustregeln aus, die einem Anstieg des Ölpreises um zehn Dollar ein Verlangsamen des Wirtschaftswachstums um einen Viertelprozentpunkt oder mehr zuschrieben. Die Logik dahinter ist leicht zu verstehen: Öl wird bei der Produktion sämtlicher Güter direkt oder indirekt gebraucht. Steigt dessen Preis, steigen die Produktionskosten, wodurch Investitionen und Nachfrage gehemmt werden – das Wachstum lässt nach.

Doch plötzlich scheint der alte Grundsatz ausgehebelt zu sein. Bei obigem Szenario stimmt einzig und allein der hohe Ölpreis: Selbst inflationsbereinigt kostet Rohöl heute wesentlich mehr als nach der ersten Ölpreiskrise 1974. Und trotzdem blieb der große Schock aus.

Haben die Wissenschafter in der Vergangenheit die Bedeutung der Ölpreise für die Konjunktur schlicht und einfach überschätzt? „Als Öl noch 20 oder 30 Dollar kostete, konnte man sich nicht vorstellen, was passiert, wenn es bei 80 steht“, sagt Johannes Benigni, Österreich-Chef des internationalen Energiehandelshauses PVM. Das Institut für Höhere Studien (IHS) hat seit einigen Jahren keine Prognosen mehr über die konjunkturellen Auswirkungen eines Ölpreisanstiegs in Österreich abgegeben. IHS-Chef Bernhard Felderer gibt unumwunden zu: „Wenn unsere früheren Berechnungen gestimmt hätten, dann hätten wir jetzt riesige Probleme mit der Konjunktur.“ Wifo-Experte Markus Marterbauer versucht sich an einer anderen Erklärung: „Um Prognosen zu treffen, müssen wir Modellrechnungen anstellen. Und die können nur auf Erfahrungswerten der Vergangenheit beruhen. Deswegen wurde der Ölpreis allgemein überschätzt.“

Tatsächlich ist es so, dass ein steigender Ölpreis in den vergangenen 30 Jahren gravierende Folgen hatte: In den siebziger Jahren schoss die Inflation nach den Ölpreisschocks auf mehr als elf Prozent, die Arbeitslosenquote kletterte in zuvor ungeahnte Höhen, die Wirtschaft taumelte in eine Rezession. Der heutige Ölpreisschock ist keinesfalls milder ausgefallen als die mittlerweile legendären Ölkrisen: Im Verlauf eines Jahres hat sich der Preis von 50 Dollar Mitte Januar auf nun knapp 100 Dollar verdoppelt. Und trotzdem ist von Inflation und einem gravierendem Anstieg der Arbeitslosigkeit nichts zu spüren. Die Unterschiede in den Auswirkungen der Ölpreisschocks sind auf die geänderte Struktur der Weltwirtschaft, aber auch die unterschiedlichen Ursachen der Krisen damals und heute zurückzuführen.

Die erste Ölkrise 1973 wurde primär durch das Ölproduzenten-Kartell OPEC provoziert, das kurzerhand den Hahn zugedreht hatte, um den Preis in die Höhe zu schrauben. Später sorgten die Golfkriege für sprunghafte Anstiege (siehe Grafik). Beim derzeitigen Ölpreis sind politische Faktoren weitgehend vernachlässigbar. Das könnte sich natürlich schnell ändern, wenn die USA dem Säbelrasseln gegenüber dem Iran kriegerische Handlungen folgen lassen. Denn dann würde eines der größten Förderländer – zumindest vorübergehend – ausfallen und sich das Angebot verknappen. Doch die weltweiten Ölreserven sind derzeit nicht das Problem. Sie sind sogar gestiegen und haben Rekordstände erreicht. Problematischer ist, dass zu Zeiten niedriger Ölpreise kaum in Förderanlagen, Pipelines und Raffinerien investiert wurde. „Selbst jetzt beobachten wir nur begrenzte Investitionen, weil die Steuern der Förderländer auf die Gewinne ausländischer Ölfirmen hemmend wirken“, sagt Ölexperte Benigni. Dieses Problem könnte noch eine Weile preistreibend wirken, sich aber langfristig bei höheren Preisen von selbst erledigen. Denn dann lohnt es sich mehr als je zuvor, auch weniger ergiebige Ölfelder zu erschließen oder aus Ölsand Benzin zu gewinnen. Da von Nicht-OPEC-Ländern kaum mehr Angebot erwartet wird, kann das Kartell den Preis gut steuern. Experten gehen deswegen von einem dauerhaft hohen Ölpreis aus, der sich im kommenden Jahr bei etwas über 70 Dollar einpendeln könnte.

Im Moment ist in erster Linie die Nachfrageseite für den hohen Preis verantwortlich. An der Londoner Petro-Börse soll es unter Spekulanten bereits als sportlich gelten, den Ölpreis auf 100 Dollar pro Fass zu katapultieren. Sie haben den Trend ausgenutzt und dadurch verstärkt – allein verantwortlich sind sie jedoch nicht. „Ich schätze den Spekulationsanteil des jetzigen Preises auf zehn bis 20 Dollar“, sagt Christian Helmenstein, Volkswirt der Industriellenvereinigung (IV).

Nachfrageboom. Bedeutender als die Spekulation ist die steigende Nachfrage durch die weltweit boomende Konjunktur: Schwellenländer produzieren auf Rekordniveau und fragen immer mehr Energie nach. Bereits kommendes Jahr werden sie nach Schätzungen erstmals genauso viel Öl verbrauchen wie die Industrienationen, deren Öldurst ebenfalls nicht nachgelassen hat. In diesem Jahr werden nach Angaben des Institute of International Finance 1,4 Millionen Barrel* mehr verbraucht als gefördert.

Paradoxerweise ist es genau der Preis-treiber, den die österreichischen Experten von Industriellenvereinigung, IHS und Wirtschaftsforschungsinstitut unisono als Grund für die ausbleibenden Krisenerscheinungen angeben. „Die weltweit starke Konjunktur hat den Ölpreis angetrieben und somit den eigentlich erwarteten Wachstumsdämpfer überkompensiert“, sagt Helmenstein, der bereits sehr früh auf diesen Überlagerungseffekt hingewiesen hatte.

Reaktionslose Verbraucher. Ölexperte Benigni hat eine sehr einfache Erklärung: „Wir sind ganz einfach zu reich, als dass uns der hohe Ölpreis kratzen würde.“ Den Unternehmen ist es gelungen, die höheren Produktionskosten auf den Verbraucher abzuwälzen, ohne dass die Nachfrage gravierend eingebrochen wäre. Bewusst zu spüren ist der Ölpreis eigentlich nur an der Tankstelle und beim Heizen (siehe Kasten Seite 50). „In den Siebzigern sind die Leute plötzlich weniger Auto gefahren. Heute schimpfen sie, fahren aber gleich viel – und damit hat es keinen Effekt auf die Konjunktur“, sagt IHS-Chef Felderer. Für die Wirtschaft – in diesem Beispiel für die Automobilhersteller – ist das natürlich ein Segen. Bei früheren Ölkrisen reagierten einige europäische Länder mit Fahrverboten an bestimmten Tagen. In Österreich musste jedes Auto einen Aufkleber an der Windschutzscheibe befestigen, der zeigte, an welchem Tag dieses Auto nicht unterwegs sein durfte. Einzig die Schüler hatten an der Krise auch ihre Freude: Seither gibt es im Februar die „Energieferien“. Doch heute ist von all diesen Reaktionen nicht im Entferntesten die Rede.

Warum wir es uns tatsächlich leisten können, unsere Gewohnheiten nicht umzustellen, erklärt unter anderem ein Blick auf den inflationsbereinigten Ölpreis. Demnach zahlen wir heute nur neun Euro mehr für ein Barrel Rohöl als 1974 (siehe Grafik). Zupass kommt den Europäern dabei der Wechselkurs. Seit 2002 verliert der Dollar gegenüber dem Euro an Wert – jüngst bekamen Verbraucher 1,46 Dollar für einen Euro. Da Rohöl in Dollar gehandelt wird, bekommt man also rein rechnerisch mehr Öl. Rechnet man den aktuellen Höchststand der Ölsorte West Texas Intermediate von 98,62 Dollar pro Fass um, so betrug er 67,28 Euro. Für die österreichische Wirtschaft bedeutet das gegenüber dem Dollar-Raum einen klaren Wettbewerbsvorteil, da Öl im Euro-Raum billiger ist. „Wir haben enge Handelsbeziehungen mit Osteuropa, wo der ansonsten nachteilige Effekt eines starken Euro nicht so durchschlägt wie bei Exporten in die USA“, erklärt Peter Brezinschek, Chefanalyst der Raiffeisen Zentralbank (RZB).

Zwei der renommiertesten Makro-Ökonomen der Welt, Olivier Blanchard und Jordi Gali, führen das Ausbleiben der prognostizierten Krise unter anderem darauf zurück, dass die Arbeitsmärkte deutlich flexibler sind als in den siebziger Jahren. Dadurch könnten sie Schocks heute besser verarbeiten, während damals die Reallöhne trotz hoher Ölpreise und höherer Inflation nicht sinken konnten. Wifo-Experte Markus Marterbauer entgegnet jedoch, dass bei sinkenden Löhnen die Nachfrage gedämpft wird – und eben doch ein gewisser wachstumshemmender Effekt eintreten kann.

Unumstrittener ist da die positive Rolle der Notenbanken, die mehrere ökonomische Studien als zentral hervorheben. Seit den achtziger Jahren wird beobachtet, dass die Zentralbanken deutlich früher und entschlossener gegen Inflationsgefahren vorgehen. Was dazu führt, dass die Inflationserwartungen selbst bei steigendem Ölpreis nicht zu spürbarer Inflation führen. „Wir haben uns schon so sehr an die Höhen und Tiefen des Ölpreises gewöhnt, dass wir uns nicht mehr so schrecken lassen“, argumentiert IHS-Chef Felderer.

Österreichs Chancen. Dass die Realwirtschaft heute die Preise besser verkraftet als in den Modellannahmen berechnet, liegt nicht zuletzt an der höheren Energieeffizienz der Produktion. 1976 verbrauchte die österreichische Industrie knapp 17.000 Terajoule Energie, um eine Milliarde Euro Wirtschaftsleistung zu produzieren. Heute braucht sie für die gleiche Wertschöpfung nur knapp 6000 Terajoule. „Der Energieeinsatz ist auf ein Drittel gesunken“, sagt RZB-Analyst Brezinschek. Das verschafft uns gegenüber anderen Wettbewerbern einen klaren Vorteil, wenn die Energiepreise steigen. In der Ukraine beispielsweise sei der Energieeinsatz pro Bruttoinlandsprodukt-Einheit viereinhalb mal so groß. Es hat sich also gelohnt, in energieeffiziente Technologien zu investieren – nicht nur aus einem ökologischen Aspekt. „Darin liegt ein großer Wettbewerbsvorteil Österreichs gegenüber anderen Ländern – gerade wenn der Ölpreis in Zukunft noch weiter steigt“, sagt IV-Experte Helmenstein. Manchmal kommt es eben doch besser, als man denkt.


Von Andrea Rexer