Angriff auf die Stimmbänder

Angriff auf die Stimmbänder: Im Klassikmetier häufen sich Karriereabbrüche

Oper. Im Klassikmetier häufen sich Karriereabbrüche

Drucken

Schriftgröße

Von Manuel Brug

Vor wenigen Tagen, nachdem sie die letzte ihrer fünf Vorstellungen in der Titel­rolle in Aribert Reimanns gefeierter „Medea“ an der Wiener Staatsoper bestritten hatte, bestieg die deutsche Sopranistin Marlis Petersen, 41, in Schwechat das Flugzeug nach New York, um an der Metropolitan Opera in Ambroise Thomas’ „Hamlet“ zu brillieren.

Der einen Sängerin Pech ist der anderen Glück: Ende Februar hatte Natalie Dessay alle New Yorker „Hamlet“-Vorstellungen abgesagt – dabei war das Stück eigens für sie (und Simon Keenlyside) nach mehr als 100 Jahren Absenz auf den Spielplan der Met gesetzt worden. Bereits 2002 und 2004 sorgte die heute 44-jährige Sopranistin infolge mehrerer Operationen an den Stimmbändern mit ihrer monatelangen Abwesenheit von der Opernbühne für Schlagzeilen. Kürzlich konnte Dessay die Pariser Vorstellungsserie der exklusiv aus Wien übernommenen Bellini-Oper „La Sonnambula“ nicht zu Ende singen: Eine Aufführung der Inszenierung, bei deren Wiener Proben im Herbst 2001 bei Natalie Dessay erstmals Stimmprobleme aufgetreten waren, musste gar abgebrochen werden, weil keine Sängerin als Einspringerin im Haus war.

Während die Opernwelt sich ernsthaft um die schon seit Langem von Gesundheitsausfällen geplagte Starsängerin sorgt, der Wiens neuer Staatsoperndirektor Dominique Meyer dennoch 2012 eine neue „Traviata“ widmen möchte, ist eine junge Sopranistin, die für Dessay bereits einmal einsprang, längst verstummt: Die Italienerin Stefania Bonfadelli, 39, musste 2006 nach einem Hörsturz und einer fehlgeschlagenen Operation ihre viel versprechende Karriere beenden.

Dennoch dreht sich das Karrierenkarussell unbarmherzig weiter. Der Opernzirkus gebiert Star um Star. Die Zuschauer kommen vor allem, um neue Sängerinnen und Sänger zu sehen und zu hören; Opernhäuser füllen sich selten der Regisseure wegen. Der zweite Comebackversuch eines Sängerlieblings, der zum Problemfall wurde, ist am Montag dieser Woche an der Wiener Staatsoper zu beobachten: Der Mexikaner Rolando Villazón, der nach seinem Europa-Debüt 1999 in Genua eine der spektakulärsten Tenorkarrieren der jüngeren Opernhistorie absolvierte, versucht sich an Donizettis „Liebestrank“, nachdem er bereits von Sommer 2007 bis zum Neuanfang als Werther im Jänner 2008 seine überanstrengte Stimme auskurieren musste. Im Mai 2008 verstummte er neuerlich, um sich eine Stimmbandzyste operativ entfernen zu lassen. Der 38-jährige Villazón, als Sänger wie Schauspieler ein begnadeter Kommunikator und unwiderstehlicher Clown, ist also wieder da – mit deutlich gebremstem Elan. Eine weitere Auszeit kann sich Villazón, der als Liebling der Boulevardpresse besonders im deutschsprachigen Raum eine Popularität erreichte wie kaum ein anderer Tenor seit Pavarotti, Domingo und Carreras, wohl nicht mehr leisten.

Opernzirkus.
Der globale Opernzirkus hat offenbar länger schon Sand im Getriebe. Natürlich gibt es die an vielen Häusern gefeierten, unspektakulären, aber äußerst verlässlichen Künstler nach wie vor. Die von Operndirektoren gern engagierte Marlis ­Petersen zählt ebenso dazu wie der wunderbare, sich in der Oper eher rar machende Liedbariton Christian Gerhaher, der bereits etliche CDs einspielte, dennoch nicht sonderlich beworben wird. Im Theater an der Wien feierte Gerhaher vergangenes Jahr Triumphe als Titelheld in Hans Werner Henzes Kleist-Oper „Der Prinz von Homburg“. Bei den Tenören zählen der Pole ­Piotr Beczala und der 31-jährige Shootingstar Joseph Calleja zur Kategorie der Funktionsträger – gute Sänger, aber nicht eben prickelnde Bühnenpersönlichkeiten, deren Karrieren nicht zuletzt durch Villazóns spektakuläre Absagen beflügelt worden sind. Calleja, der 2004 für das britische Nobel­label Decca seine erste, kaum Resonanz generierende CD aufnahm, will es jetzt noch einmal wissen: Der zur Glatze neigende Sänger ließ sich kürzlich sogar Haarimplantate einpflanzen.

Kosmetische Eingriffe dieser Art gehören inzwischen bei vielen Sängern zum guten Ton wie das hohe C. In einem gnadenlos visualisierten Zeitalter, in dem selbst Opernhäuser mit Clips und Podcasts werben und die Makellosen und Körperschlanken unter den Sängerstars mit weltweiten Live-Übertragungen via Satellit gewürdigt werden, kommen schönheitschirurgische Eingriffe so wenig zur Sprache wie die sich häufenden Stimmbandoperationen, die immer mehr Aktive diskrete Auszeiten nehmen lassen. Einst zogen sich weibliche Bühnenstars aufgrund von Schwangerschaft (oder deren Abbruch) kurzzeitig ins Privatleben zurück, nun sind auch die männlichen Kollegen von gravierenden Karrierezwangspausen betroffen: Wie Villazón geht etwa der lyrische Mozarttenor Christoph Strehl nach überstandener Operation mit seinen Terminen sparsam um.

Die Orchester fordern hier ebenso ihren Tribut wie intime Opern an großen Häusern, in denen die Sänger zum Forcieren gezwungen werden. Um einen der heimischen HiFi-Anlage ähnlichen Klang zu erhalten, wird nicht selten auch stimmverstärkt: Die Metropolitan Opera mit ihren über 4000 Plätzen streitet jede Manipulation ab, die Berliner Lindenoper gibt sie zu. Im Madrider Teatro Real wurde jüngst eine „Andrea Chénier“-Vorstellung mitten im Akt abgebrochen, weil die Zuschauer wegen der sichtbaren Mikrofone lauthals buhten.

Die Marketingbemühungen der finanziell angeschlagenen Plattenfirmen konzentrieren sich zudem nur mehr auf ausgewählte Namen. Zugleich müssen Publikumslieblinge wie Anna Netrebko, Elina Garanca und Jonas Kaufmann, die Stimme, Aussehen und Spielqualitäten mitbringen, ihre Karrieren noch überlegter planen. Garanca, die als erfolgreiche Carmen innerhalb der Mezzosoprane unlängst noch eine Referenzklasse aufgestiegen ist, sagte etwa ihr für Herbst geplantes US-Westküstendebüt in Massenets „Werther“ ab, um lukrativere Konzerte geben zu können – Zeit ist Geld ist Prominenz: Für ihr Wiener Carmen-Debüt an der Seite von Netrebko und Dirigent Mariss Jansons fand der Vorverkauf unter Polizeischutz statt.

Die jahrelang überexponierte Anna Netrebko scheint sich augenblicklich nicht nur wegen ihres kleinen Sohns zurückzuhalten: Sie hat wohl gelernt, dass Ruhepausen nötig sind. Während Spitzensänger in Europa wie Amerika und Japan gleichermaßen präsent sein müssen, ihre jeweils neuen Tonträger, dem Popgeschäft gleich, von massiven PR-Maßnahmen begleitet und zugleich mit Aufführungen und Konzerttourneen gekoppelt werden, bereitete sich Christa Ludwig auf ihre fernöstlichen Auftritte mittels ausgedehnter Schiffspassage nach Tokio vor. Wohl auch solcher Maßnahmen wegen dauerte ihre Karriere ein halbes Jahrhundert.

Welcher Bariton der Zukunft wird es wie Franz Grundheber noch schaffen, mit 72 Jahren Kammersänger der Wiener Staatsoper zu werden, wo man ihn immer noch als bösen Scarpia in „Tosca“ hören kann? Grundheber war klug genug, sich zeit seiner Karriere auf wenige Häuser zu beschränken. Die scheinbar alterslose Renée Fleming macht sich zwar rar, das aber strategisch geschickt an zentralen Orten. Die 51-Jährige pflegt die edle Allüre, lässt sich von Couturiers einkleiden, es gibt nach ihr benannte Parfums und von einem Meisterkoch kreierte Nachspeisen ihres Namens. La Diva Renée ist sich nicht einmal zu schade, mit dem als Opernsänger ungenügenden blinden Poptenor Andrea Bocelli aufzutreten und auf ihrer jüngsten CD Indiepop einzuspielen.

Zyste & Polype.
Schlecht beraten war hingegen Deborah Voigt. Die 49-jährige Künstlerin machte weltweit Schlagzeilen, als man sie wegen ihres Gewichts aus einer Covent-Garden-Premiere nahm. Als sie sich daraufhin den Magen verkleinern ließ und abnahm, hatte sie die Strahlkraft ihrer Spitzentöne eingebüßt: Nicht nur an der Wiener Staatsoper wurde sie als Brünnhilde im neuen „Ring“ ausgeladen. Der anonym bleiben wollende Besetzungschef eines der größten deutschen Opernhäuser formuliert es schonungslos: „Die singt nur noch ihre alten Verträge ab. Da kommt nichts Neues mehr.“ Weitere Wackelkandidaten auf der Liste des Fachmanns: die Salzburger Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager, 45, die sich mit drei abgesagten Wiener „Rosenkavalier“-Vorstellungen urplötzlich „von der Rolle verabschiedet“ hat, dennoch von Dominique Meyer im Haus am Ring für die Premiere von Weills „Sieben Todsünden“ vorgesehen ist. Oder die Chilenin Christina Gallardo-Domas, noch vor einiger Zeit neben Netrebko gefragte „Traviata“, „die heute in der Höhe nur noch fingiert“. Auch Heldentenor Ben Heppner, der soeben zum zweiten Mal bei den Salzburger Osterfestspielen den Siegfried absagte, gilt unter Insidern längst nicht mehr als sichere Sängerbank. Die intonationsunsichere Sopranistin Christine Schäfer, 45, scheint für den deutschen Operngewaltigen ebenso in der Krise zu sein wie der spanische Bariton Carlos Alvarez, 43, der kürzlich in New York aus allen Vorstellungen in Verdis „Attila“ ausstieg und vergangene Saison eine eigens für ihn in Paris angesetzte „Macbeth“-Inszenierung sausen lassen musste. Ein renommierter Operndirektor findet für die neuen Zustände harte Worte: „Bei Sopranistinnen über 40 bin ich sehr vorsichtig, wen ich für die nächsten fünf Jahre engagiere.“ Es zeugt somit von einiger Selbstironie, dass Natalie Dessay ihre beiden Katzen ausgerechnet Zyste und Polype genannt hat.