Angstlustgewinne

Niederlagen, Tumulte, Blamagen: Der österreichische Fußballfan übersteht alles.

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Die Zahlen erklären nicht alles, aber es schadet nicht, sie zu kennen: Das österreichische Fußball-Nationalteam hat bisher 35-mal gegen Deutschland gespielt und nur achtmal gewonnen. Der letzte Sieg datiert aus dem Jahr 1986 (ein 4:1, niemand weiß mehr, wie das möglich war). Das letzte Remis, ein tapferes 0:0, ist auch schon wieder 19 Jahre her. Die Tordifferenz der jüngsten fünf Begegnungen beträgt 4 zu 18.
Schlimm? Wie man’s nimmt. Mit der richtigen Lebenseinstellung lässt sich eine solche Serie auch positiv sehen. Blutiger kann es kaum werden. Negative Überraschungen sind also ausgeschlossen, wenn Österreich am kommenden Freitag wieder einmal auf Deutschland trifft. „Ein noch größerer Außenseiter sind wir selten“, erklärt ÖFB-Sprecher Peter Klinglmüller vergnügt. Wohl deshalb waren die 7000 außerhalb des ­EURO-Abos verfügbaren Einzelkarten innerhalb von 40 Minuten verkauft. Wenn Deutschland kommt, kneift keiner.
Nach dem Platzsturm im Wiener Hanappi-Stadion am Sonntag der Vorwoche kämpfen heimische Fußballfans wieder einmal mit einem Image-Problem. Die Bilder der vermummten Schläger waren ja wirklich keine Werbung. Doch die interessanteste Frage ist nicht, warum ein paar Dutzend Idioten in den Stadien gelegentlich durchdrehen. Sozio- und psychologisch viel spannender ist die Tatsache, dass Hunderttausende Österreicher nach wie vor Anhänger eines Sports sind, der ihnen fast ausschließlich Frusterlebnisse bietet. Zu feiern gibt es wenig. Für den hiesigen Fußballnarren muss es schon als Erfolg durchgehen, wenn er sich einen Misserfolg irgendwie schönreden kann. Das Umdeuten von Ergebnissen gehört folglich zu den Fertigkeiten, die man früh lernt – gleich nach dem grimmigen Galgenhumor und der gewerbsmäßigen Realitätsverleugnung. ÖFB-Präsident Leo Windtner hält die Rapid-Ausschreitungen für eine Katastrophe – aber das Gros der Anhänger bewundert er sehr: „Der österreichische Fan ist immer wieder ein Phänomen. Diese Loyalität kann man gar nicht hoch genug schätzen.“
Allein die vergangenen paar Monate müssten eigentlich reichen, um für alle Zeiten geheilt zu sein: Die Bundesliga-Saison war zwar spannend, dafür aber von äußerst bescheidenem Spielwitz. Sogar der stets freundliche Herbert Prohaska musste neulich im „Standard“ zugeben, dass ihn die Darbietungen in der obersten Spielklasse ratlos zurückließen. „Sagen wir nicht Niveaulosigkeit, das wäre gemein“, analysierte er. „Die Wahrheit ist, dass die Spitzenklubs an Qualität verloren haben. Leider.“ Dafür wird mitunter ein buntes Rahmenprogramm geboten. Während die Ordner im Hanappi-Stadion am Sonntag noch Wurfgeschoße und verglühte Raketen vom Rasen klaubten, gab es ein paar Kilometer weiter südlich schon den nächsten Ausnahmezustand: Im Spiel Wiener Neustadt gegen Sturm Graz musste der Schiedsrichter in der 87. Minute ein seltsam unmotiviertes Handspiel des Bosniers Edin Salkic ahnden. Sturm bekam einen Elfmeter und siegte 2:1. Bald darauf wurde bekannt, dass in Asien unverhältnismäßig hohe Wetteinsätze auf einen Sieg von Sturm getätigt worden waren. Die Bilanz der vorletzten Bundesliga-Runde: Ein Spitzenspiel wurde abgebrochen, ein anderes ist Gegenstand von staatsanwaltlichen Ermittlungen. Fad wird einem wenigstens nicht im österreichischen Fußball.
Einzig die Anhänger von Puntigamer Sturm Graz haben derzeit Grund zur Freude. Aber die Sensibleren in ihren Reihen werden es befremdlich finden, dass zeitgleich mit der Eroberung des dritten Meistertitels der Vereinsgeschichte ein Prozess gegen jenen Mann geführt wird, der die Meistertitel eins und zwei zu verantworten hatte. Wie ein Menetekel hängt das Betrugsverfahren gegen Hannes Kartnig über den Siegesfeiern der Steirer. So kann es auch enden, wenn einmal eine österreichische Mannschaft besser kickt als erwartet.

Warum tut man sich so ein Hobby an? Wäre es nicht vernünftiger, Freizeit, Geld und Leidenschaft in eine Beschäftigung zu stecken, die wenigstens manchmal Spaß macht?
Die Bundesliga-Saison 2010/11 ist zum Glück Geschichte. In den kommenden Tagen wird das Nationalteam Gegenstand des allgemeinen Hoffens und Bangens. Eigentlich geht es im Match gegen Deutschland um nichts mehr. Die Qualifikation für die EURO 2012 ist schon so gut wie gescheitert. Doch gegen Deutschland würde selbst ein Freundschaftsspiel genügen, um Fußball-Österreich in einen kollektiven Taumel zu versetzen. Kein anderer Gegner löst vergleichbare Emotionen aus – obwohl das stets im Vorfeld herbeigeflehte Wunder hartnäckig ausbleibt. Wer verstehen möchte, mit welchem Gefühl der heimische Fan den Deutschen entgegenzittert, macht am besten einen Ausflug in die Psychoanalyse. 1960 beschrieb der ungarische Analytiker Michael Balint das Phänomen der Angstlust. Dies sei „eine Mischung aus Furcht, Wonne und Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr“. Besser kann man es nicht ausdrücken, der Mann war vermutlich im Stadion.

Das bis dato letzte Spiel gegen die Nachbarn fand am 16. Juni 2008 bei der Europameisterschaft in Wien statt. Es endete mit einem 0:1 – und markierte das Ende der österreichischen EM-Teilnahme. Doch das Ergebnis war knapp genug, um es als „unglückliche Niederlage“ zu interpretieren. DFB-Kapitän Michael Ballack hatte nach der Pause einen Freistoß aus 25 Metern Entfernung im Tor versenkt. Dergleichen grenzt an Zufall; man muss es nicht persönlich nehmen.
Die EURO zeigte sehr deutlich, wie genügsam die österreichischen Fußballfans mehrheitlich sind. In drei Spielen holte das Team lediglich einen Punkt – aus einem 1:1 gegen Polen. Damit war Österreich der schlechteste EM-Gastgeber aller Zeiten. Trotzdem sorgte der Kurzauftritt im Turnier für immense Euphorie auf den Zuschauerrängen. Nächtelang wurde in den Fanzonen gefeiert, dass sich Österreich wenigstens nicht bis unter die Schienbeinschützer blamiert hatte. Das reicht im hiesigen Mikrokosmos schon für entfesselte Begeisterung.

Drei Jahre ist das nun her. Und ÖFB-Präsident Windtner weiß, dass es mit der immerwährenden Loyalität des Anhangs demnächst eng werden könnte. „Die österreichische Fußballseele lechzt nach einem Befreiungsschlag.“
Oh ja, das stimmt.

Im heimischen Fußball gibt es ausreichend Unerfreulichkeiten, die sich beim besten Willen nicht ändern lassen. Dass etwa der Vereinsfußball international keinen Auftrag hat, liegt an schlichter Arithmetik. Sturm Graz, der aktuelle österreichische Meister, verfügt pro Jahr über ein Budget von elf Millionen Euro. Der FC Barcelona – ein Sorry nach Katalonien für diese Vergleichsanordnung – kann im selben Zeitraum fast 400 Millionen verprassen. Relativ logisch also, dass Barça etwas geschmeidiger kickt als Sturm. Glücksmomente wie der Sieg von Rapid gegen den englischen Erstligisten Aston Villa 2010 und der Gruppensieg von Salzburg in der Europa League 2009 müssen Ausnahmen bleiben.
Völlig anders verhält es sich mit dem Nationalteam. Jahrzehntelang war den Fans versprochen worden, dass Österreich bald aus seinem Tief herausfinden werde. Es müssten nur endlich mehr Teamspieler in guten europäischen Ligen kicken. Zuletzt waren 14 der 23 Kadermitglieder Legionäre – die meisten sogar sehr erfolgreiche. Doch die Chance, jemals wieder an einem internationalen Bewerb teilzunehmen, ohne ihn selbst zu veranstalten, ist um nichts größer geworden. Reinhard Krennhuber, Chefredakteur des Fußballmagazins „Ballesterer“, versucht, sich einen Reim darauf zu machen: „Die Spieler sind wahrscheinlich die besten seit Langem. Aber das Nationalteam ist mit hohen Erwartungen noch nie gut fertig geworden.“

Die hohen Erwartungen, die Krennhuber meint, kommen von einem 4:4 gegen Belgien, mit dem sich die Nationalmannschaft im Oktober des Vorjahres selbst überraschte. Mehrfach hatte Österreich einen Rückstand aufgeholt – solche Tapferkeit ist sonst nicht üblich. Selig machten sich die Fans am 25. März auf ins Happel-Stadion, um den Heimsieg gegen Belgien abzuholen. Es wurde einer der schlimmsten Abende in der mit schlimmen Abenden reich gesegneten heimischen Fußballgeschichte. So erbärmlich wie bei diesem 0:2 war die Mannschaft schon lange nicht mehr aufgetreten. 45.000 Zuseher fassten schon in der ersten Halbzeit den Vorsatz, sich nie, wirklich nie mehr auf ein Spiel zu freuen. Leo Windtner spricht von einem „Kollateralversagen, das sich hauptsächlich in den Köpfen abspielte. Dieses Spiel hat sehr viel zerstört.“ Ausnahmsweise muss man Franz Beckenbauer zustimmen, der erklärte, er habe noch nie eine Mannschaft erlebt, die mit so viel Aufwand so wenig erreichte.
Christian Fuchs, Teamspieler und Legionär beim deutschen Erstligisten Mainz 05, war nach dem Match ehrlich erschüttert – und ist es bis heute. Die zwei Niederlagen (es folgte noch eine gegen die Türkei) schmerzten ihn sehr, sagt er. Ginge es nach ihm, sollte Österreich seine Planung umstellen. „Es wird immer viel zu kurzfristig gedacht. Wir sollten uns die Teilnahme bei der EM 2016 in Frankreich zum Ziel setzen und bis dahin kontinuierlich arbeiten.“
Das ZDF wählte Fuchs heuer in die Bundesliga-Elf des Jahres. Der junge Mann weiß also, wie sich guter Fußball anfühlt. Vielleicht hat er sogar Recht mit seinem Vorschlag. Fragt sich bloß, ob das gebeutelte österreichische Publikum noch eine Durststrecke von fünf Jahren durchsteht.
Jetzt geht es erst einmal darum, die (emo­tionalen) Verwüstungen zu entsorgen, die der schwarze Sonntag im Hanappi-Stadion hinterlassen hat. Die Rapid-Führung wirkte angemessen betroppezt – aber ganz so einfach wird es nicht werden, derartige Vorkommnisse in Zukunft zu verhindern. Die leicht erregbaren Typen auf der Westtribüne sind an normalen Tagen nämlich sehr praktisch für den Verein. Ohne sie wäre die legendäre Rapid-Viertelstunde nur halb so eindrucksvoll. „Rapid sitzt mit diesen Leuten schon lange auf einer tickenden Zeitbombe“, sagt ein ehemaliger Betreuer des Vereins. „Ich glaube nicht, dass die sich von selbst beruhigen werden.“

Es ist natürlich Flunkerei, wenn nun behauptet wird, bei den Randalierern handle es sich gar nicht um richtige Fußballfans. Natürlich sind sie das. Wäre es den Herrschaften egal, wo sie sich schlecht benehmen, könnten sie ja auch beim Eiskunstlauf oder Synchronschwimmen Ärger machen.
Bewiesen ist durch ihren Ganzkörpereinsatz immerhin, dass es nicht gesund ist, den Fußball im Allgemeinen und dessen österreichische Spielart im Besonderen als Lebensinhalt zu begreifen. Dafür reicht das Gebotene einfach nicht.

Josef Hickersberger hat als Trainer mehrere Mannschaften in der Bundesliga und zweimal die Nationalmannschaft betreut. Jetzt arbeitet er in Abu Dhabi – und ist heilfroh, die Ereignisse in der Heimat nur noch aus der Ferne mitzubekommen. Ein Interview will er nicht geben. Doch seine Absage über E-Mail genügt auch als Bestandsaufnahme: „Spreche ich einen kritischen Satz über die Nationalmannschaft, wird mir böses Nachtreten gegen Didi Constantini unterstellt. Spreche ich über Rapid-Fans, gefährde ich meinen Sohn. Spreche ich über ein Handspiel in Wiener Neustadt, verbrenne ich mir die Finger. Spreche ich über Córdoba, schneide ich mich ins eigene Fleisch, weil ich dabei war und die eigene Vergangenheit glorifizieren möchte. Cui bono?“
Aber das Match gegen Deutschland wird trotzdem ein Fußballfest. Egal, wie es ausgeht.