Nachbarschaftsverhältnisse

Antropologie. Wie lange lebten Mensch und Neandertaler gemeinsam?

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Der Transport war so kostbar, dass er nur in einem Spezialbehälter und unter höchsten Sicherheitsauflagen vonstattengehen konnte. Anders war das Naturhistorische Museum im italienischen Siena nicht bereit, den in einem Tresor aufbewahrten Schatz herauszugeben. Allerdings handelte es sich dabei weder um Gold noch um Edelsteine, sondern um zwei prähistorische Milchzähne, die bereits im Jahr 1964 in der Grotta del Cavallo in Süditalien gefunden worden waren. Aufgrund einer oberflächlichen Analyse und ihres geschätzten Alters von etwa 30.000 Jahren wurden die Fundstücke bisher Neandertalern zugeschrieben. Nun muss nicht nur deren Geschichte, sondern auch die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden.
Den Adressaten der kostbaren Sendung, Anthropologen der Universität Wien, ist es mithilfe eines neuartigen Analyseverfahrens gelungen, das wahre Alter dieser Zähne mit bis zu 47.000 Jahren anzusetzen – die Fundstücke sind demnach wesentlich älter als alle bisher gefundenen Fossilien eines modernen Menschen. Das renommierte Wissenschaftsmagazin „Nature“ meldete die Sensation in der Vorwoche schon per Online-Vorabveröffentlichung und sorgte damit weltweit für Schlagzeilen. Die Erkenntnisse der Wiener Forscher bringen erstmals Klarheit in eine schon lange schwelende Wissenschafts¬debatte: Bisher konnten die Anthropologen nur spekulieren, ob Neandertaler und moderner Mensch eine Zeit lang gemeinsam den europäischen Kontinent bevölkert hatten.

Nun ist erstmals gesichert, dass die beiden Spezies mindestens 5000 Jahre lang gemeinsam in Europa lebten, vielleicht sogar doppelt so lang oder noch viel länger. Diese Erkenntnis wirft neue Fragen auf: Wie koexistierten Mensch und Neandertaler? Gab es kämpferische Auseinandersetzungen? Vermischten sie sich, konnten sie überhaupt miteinander Nachkommen zeugen? Wie weit entwickelt war der Neandertaler, und warum konnte er so lange neben dem Menschen bestehen, bevor er ausstarb?
Zwischen Neandertaler und Homo sapiens könnte es enge Kontakte gegeben haben, ist der Wiener Anthropologe Gerhard Weber überzeugt: „In den 5000 Jahren wird bestimmt einmal ein Neandertaler eine Menschenfrau hinter einen Busch gezerrt haben. Die Frage ist viel eher, ob die beiden miteinander fertilen Nachwuchs zeugen konnten.“ So wäre etwa denkbar, dass sie zwar Nachkommen zeugen konnten, diese dann aber unfruchtbar waren – ein als „Maulesel-Problematik“ bekanntes Phänomen: Esel und Pferd sind zwar so nahe miteinander verwandt, dass sie gemeinsam Nachkommen zeugen können, aber diese Hybride sind unfruchtbar, weil hier die Evolution an ihre Grenzen stößt.

Ob Neandertaler und Mensch so unterschiedlich wie Pferd und Esel oder doch näher verwandt sind, beschäftigt vor allem Genetiker. Im Jahr 2009 verkündeten Wissenschafter des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, dass ihnen die Sequenzierung eines Neandertaler-Genoms gelungen sei, das eindeutig auf eine Vermischung der beiden Spezies hinweise, trotz erheblicher Unterschiede im Erbgut. Doch dann stellte sich heraus, dass die heutigen Methoden der Genetik noch nicht ausreichen, um zweifelsfrei den Schluss zuzulassen, dass Neandertaler und Mensch sich vermischten. „Die Genetiker sind selbst noch sehr unsicher und brauchen einfach noch bessere Methoden, um diese Frage klären zu können“, sagt Weber.

Als gesichert gilt heute, dass Neandertaler und Homo sapiens einen gemeinsamen Vorfahren in Afrika hatten. Dieser dürfte schon vor rund 300.000 Jahren ausgewandert sein, um sich an das kühlere europäische Klima anzupassen und sich im Lauf der Zeit zum Neandertaler zu entwickeln. Der moderne Mensch dürfte vom Homo ergaster ab¬stammen, einem Vormenschen, der durchschnittlich 1,85 Meter groß und kräftig war und Afrika verließ, um sich in Asien niederzulassen. Er starb vor etwa 30.000 Jahren aus. Eine These lautet, dass sich der Neandertaler aus einer nach Europa ausgewanderten Homo-er¬gaster-Population, der Homo sapiens hingegen aus der gleichen Spezies noch in Afrika entwickelt hat.
Der Neandertaler könnte auch von einem anderen Vormenschen abstammen, der sich parallel entwickelte und aus Afrika auswanderte. Diese Frage wird möglicherweise jedoch ewig ungeklärt bleiben. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Knochen fossiliert und dann gefunden wird, liegt bei eins zu einer Million. Außerdem sind viele Gebiete, vor allem in den Tropen, zu feucht, als dass dort Knochen über Zigtausende Jahre erhalten blieben. Aus diesem Grund ist es genauso spekulativ, die Ursprünge des modernen Menschen vor rund 200.000 Jahren in Ostafrika festzulegen. Zwar begünstigt die Plattentektonik des ostafrikanischen Rift Valley die Auffindung fossiler Knochen. Aber es ist nicht gesagt, dass sich der Homo sapiens genau dort und nicht anderswo in Afrika entwickelte – in einer Region, wo keine Fossilen entstehen konnten, die einschlägige Rückschlüsse zuließen.

Dennoch kann Weber sich vorstellen, dass die Geschichte der Menschheit noch öfter umgeschrieben werden muss. Vieles ist noch unentdeckt oder wird – wie die süditalienischen Milchzähne – erst jetzt mithilfe neuer, aufschlussreicherer Methoden genauer untersucht. Dass es sich bei dem Fund aus den sechziger Jahren nicht um Neandertaler-Zähne handeln konnte, vermutete Stefano Benazzi, der als Post-Doktorand an der Universität Wien forscht, schon seit Längerem: „Ich hatte vor zehn Jahren die Möglichkeit, die Zähne zu besichtigen, und habe mir bereits damals gedacht, dass diese unmöglich von einem Neandertaler stammen können.“
Im neuartigen, erst eineinhalb Jahre ¬alten 3-D-Scanner des Vienna Micro-CT Labs konnte der Forscher diesem Verdacht auf den Grund gehen. Mehrere Stunden lang wurden die beiden Milchzähne in der Anlage von allen Seiten durchleuchtet. Die Maschine ermöglicht es auch, ganze Schädel und sogar fossile Dinosauriereier zu untersuchen. Die Fundstücke lassen sich virtuell am Computer zerschneiden und begutachten, ohne dass sie zerstört werden müssen. Noch im Jahr 2004 wurden Neandertalerzähne zersägt, um die Unterschiede zum Homo sapiens herausarbeiten zu können. Dabei zeigten sich erhebliche Unterschiede. So ist der Zahnschmelz beim Neandertaler dünner, und die Zahnkrone hat einen anders geformten Umfang als der Menschenzahn. Die virtuellen Untersuchungen der beiden Milchzähne zeigten eindeutig, dass es sich dabei um menschliche Zähne handelt.

Außerdem ergaben die Untersuchungen eindeutig, dass die Zähne von zwei verschiedenen Menschen stammen. Bei einem Zahn war die Wurzel noch nicht aufgelöst, was nahelegt, dass das Kind den Zahn gewaltsam verlor oder im zweiten Lebensjahr verstorben ist. Der andere Zahn könnte jedoch auf natürlichem Weg ausgefallen sein. Da die Zähne das härteste Material im Körper sind, bleiben sie am besten erhalten. Wie die Zähne in die Höhle kamen, bleibt Gegenstand von Spekulationen. Außerdem ist unklar, wie die Höhle genutzt wurde. Sie könnte beispielsweise nur zum Zerlegen von Fleisch und nicht als Wohnort gedient haben.

Nachdem das Forscherteam das bisher mit 30.000 Jahren veranschlagte Alter der Milchzähne auf 43.000 bis 47.000 Jahre korrigiert hatte, folgerte es, dass der Homo sapiens den europäischen Kontinent ¬wesentlich früher betreten haben muss als bisher angenommen – und zwar um mindestens 10.000 Jahre früher. In der vorwöchigen Ausgabe von „Nature“ erschien neben der Wiener Studie eine weitere Arbeit zum Thema: Wissenschafter der Universität Oxford hatten ein in Großbritannien gefundenes Kieferfragment neu untersucht. Auch dieser Fund wurde bisher dem Neandertaler zugeschrieben, erwies sich jedoch als Relikt eines Homo sapiens. Dessen Alter wird auf 41.000 bis 44.000 Jahre geschätzt. Es belegt, dass der moderne Mensch binnen kürzester Zeit auch die Britischen Inseln bevölkerte.

Wie konnte sich der Homo sapiens so rasch über einen ganzen, kühlen Kontinent verbreiten – offenbar viel schneller als der klimatisch weitaus besser angepasste Neandertaler?
Die Wiener Forscher fanden auch darauf eine Antwort, und zwar anhand von Werkzeug- und Muschelfunden, die wie die Milchzähne in derselben, sieben Meter dicken Schicht entdeckt worden waren. Die Post-Doktorandin Katerina Douka vom Forschungslabor für Archäologie und Geschichte der Kunst der Universität Oxford entwickelte eigens für diesen Fund eine Untersuchungsmethode. Frühere Datierungen wurden mittels
der bekannten C14-Radiokarbon-Methode vorgenommen, für deren Entwicklung der US-Amerikaner Willard Frank Libby 1960 den Chemienobelpreis erhalten hatte. Auf diese Weise lässt sich das Alter von kohlenstoffhaltigen, insbesondere organischen Materialien bestimmen, die nicht älter als 60.000 Jahre sind. Der Zerfall des radioaktiven C14-Atoms wird dabei als Grundlage verwendet: je älter der Fund, desto mehr Atome sind bereits zerfallen.

Diese Methode hat jedoch ihre Tücken. So können auch später noch C14-Atome ins Fundmaterial eindringen und dieses verunreinigen, außerdem sind bei alten Funden nur noch wenige C14-Atome vorhanden. Die Zähne selbst würden für eine verlässliche C14-Datierung ohnehin zu wenig Material liefern, sodass Douka ein neues Verfahren entwickelt hat, bei dem die zerriebenen Muschelfunde mit einer chemischen Methode analysiert werden, die eine verlässlichere Datierung ermöglicht.
Da nun feststand, dass die Zähne von Menschen stammen, lag der Schluss nahe, dass auch die am gleichen Fundort entdeckten Werkzeuge von Menschen gefertigt wurden. Es handelt sich dabei um bereits komplexere, aus verschiedenen Materialien wie Steinen, Knochen und Muscheln fabrizierte Gegenstände, sodass die Funde der so genannten Uluzzian-Kultur zugerechnet werden. Die fein ausgearbeiteten Werkzeuge und der komplexe Körperschmuck, teils aus Perlen und Farbstoffen gefertigt, wurden bislang dem Neandertaler zugeschrieben. Man nahm fälschlicherweise an, dass dieser bereits über eine so hoch entwickelte Kultur verfügte. „Nun können wir jedoch mit Sicherheit sagen, dass der Neandertaler nicht Schöpfer dieser Uluzzian-Kultur ist. Er verfügte nur über primitivere Steinwerkzeuge, erst der moderne Mensch dürfte eine höher entwickelte Kultur eingeführt haben“, erklärt Anthropologe Weber.
Somit glauben die Forscher, ein weiteres Indiz dafür gefunden zu haben, dass sich Mensch und Neandertaler wesentlich unterschieden – und Letzterer vor allem eine eigene Spezies darstellte. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb der Neandertaler im evolutionären Wettlauf gegen den Menschen verlor. Erst im vergangenen Sommer publizierte das Wissenschaftsmagazin „Science“ eine Studie, die französische Neandertaler- und Menschenfunde aus etwa der gleichen Zeit miteinander verglich. Aufgrund einer Hochrechnung der mehrheitlich von Homo sapiens stammenden Fossilien kamen die Anthropologen zu der Erkenntnis, dass die zehnmal größere Population des modernen Menschen den Neandertaler förmlich überrannte. Demnach musste der Neandertaler schon aus demografischen Gründen weichen (profil 32/11).

Für den Neandertaler-Forscher und Leiter der Oxford-Studie, Sir Peter Mellars, war damit ebenfalls klar, dass die Unterschiede zwischen Neandertaler und Mensch gravierender gewesen sein müssen als bislang angenommen. Der Homo sapiens war einfach das erfolgreichere Evolutionsprodukt, er konnte sich rascher vermehren und brachte vor allem seinen Nachwuchs besser durch, obwohl ein menschliches Kind länger braucht, um selbstständig zu werden. Zusammenhalt und Organisation dürften in der menschlichen Gruppe deutlich besser funktioniert haben, außerdem war der Mensch offenbar ein erfolgreicherer Jäger und konnte besser Vorräte für Krisenzeiten anlegen. „Auch wenn es hypothetisch zu Kreuzungen mit dem Neandertaler kommen konnte, so konnten bis heute noch keine Menschen mit entsprechenden genetischen Spuren gefunden werden. Warum hätte sich der Homo sapiens mit dieser primitiveren Spezies abgeben sollen?“, erklärte Mellars gegenüber profil.
Umso verwunderter ist Mellars, wenn er auf Vorträgen in Ost- und Mitteleuropa noch immer auf die Überzeugung stößt, dass der Mensch direkt vom Neandertaler abstamme. Offenbar wollen viele, dass die Wiege der Menschheit nicht in Afrika, sondern in Europa zu suchen sei.