Länger arbeiten zum gleichen Lohn

Arbeitsmarkt: Arbeitszeit, Arbeitsstreit

Gewerkschaften und Industrie streiten weiter

Drucken

Schriftgröße

Es hätte ein betulicher Festakt werden sollen: Mit Blasmusik, Bier, feierlichen Reden und freundlichen Gesichtern beging der ehemals verstaatlichte Leiterplattenhersteller AT&S am 7. November des Vorjahres im steirischen Leoben das zehnjährige Jubiläum seiner Privatisierung. Im Publikum Seite an Seite: Großaktionär Hannes Androsch, sein Kompagnon Willibald Dörflinger, Führungskräfte, Betriebsräte – und, in trauter sozialpartnerschaftlicher Tradition, Rudolf Nürnberger.

Nürnberger, Chef der mächtigen Metallergewerkschaft, war auf vieles vorbereitet. Aber keineswegs auf das, was er in den Ansprachen zu hören bekam. Da lobten Androsch und Dörflinger die Belegschaftsvertreter und Betriebsräte über den grünen Klee. Und dankten den werktätigen Massen ausdrücklich für ihre Bereitschaft zur Flexibilität. Sprich: dafür, dass beim High-Tech-Unternehmen AT&S bereits seit einiger Zeit gehackelt wird, was das Zeug hält, wenn es die Auftragslage verlangt. Fallweise auch über die kollektivvertragliche Arbeitszeit hinaus. Und ohne volle Bezahlung der anfallenden Überstunden.
Nürnberger war fassungslos.

„Davon hobts mir aber nix gsagt“, soll er die AT&S-Betriebsräte im Anschluss an den Festakt vor Zeugen angeherrscht haben. Deren patzige Replik: „Du sagst uns a net alles.“

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit ist das heiße Eisen, an dem sich Gewerkschaften, Industrie und Regierung seit bald einem Jahr immer wieder die Finger verbrennen.

Konkurrenzdruck. Die Arbeitgeber wollen unter Hinweis auf den internationalen Konkurrenzdruck die Lohnkosten senken. Flexibilisierung heißt für sie, Arbeitskraft dann einzusetzen, wenn es die Auftragslage verlangt – ohne in Spitzenzeiten teure Überstundenzuschläge zahlen zu müssen.

Die Gewerkschaften wollen flexiblere Arbeitszeiten unter Hinweis auf die wohlerworbenen Rechte der Beschäftigten nur dann mittragen, wenn ihrer Klientel dadurch keine ungebührlichen Nachteile entstehen.

Die Diskussion wurde bisher hauptsächlich mit Schlagworten ausgetragen: Wettbewerbsfähigkeit, Lohnraub, Arbeitszeitgesetz, Streik. Die Ausgangslage könnte für Arbeitnehmer und Gewerkschaften unerfreulicher kaum sein. Im Februar waren annähernd 310.000 Menschen landesweit ohne Job. Darin sind jene 51.000 Personen nicht enthalten, die derzeit Schulungen des Arbeitsmarktservice durchlaufen. Nach EU-Standards erreichte die Arbeitslosenquote 4,5 Prozent, nach österreichischer Berechnung gar 8,9 Prozent. Gegenüber 1990 hat sich die Zahl der Jobsuchenden um fast 50 Prozent erhöht, die Zahl der unselbstständig Beschäftigten stieg demgegenüber bloß um neun Prozent. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Die heimische Industrie hat zwar 2004 wieder deutlich besser verdient als in den beiden vorangegangenen Jahren – an die Arbeitnehmer will deshalb freilich kaum ein Unternehmer Zugeständnisse machen. Dionys Lehner, Chef des Textilherstellers Linz Textil: „Die Globalisierung hat die alten Spielregeln völlig auf den Kopf gestellt. Blicken Sie nach China. Die Leute dort arbeiten 60 Stunden die Woche, verdienen 150 Euro im Monat und sind glücklich.“ Europa im Allgemeinen und Österreich im Besonderen müssten Maßnahmen setzen. „Sonst beschleunigen wir den Abtransport des Wohlstandes.“

Bei der Ursachenforschung stieß die Industriellenvereinigung (IV) bereits im vergangenen Sommer auf die vermeintlich Schuldigen: die Gewerkschaften, die Kollektivverträge, die Arbeitszeit.

„Flexibilität ist das Um und Auf“, sagt Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl, „man sollte bei hohem Auftragsbestand auch länger arbeiten können, dafür in schwächeren Zeiten entsprechend kürzer.“

Gespaltene Sozialpartner. IV-Präsident Veit Sorger war unmittelbar nach seinem Antritt im Juli 2004 noch weiter gegangen, hatte nassforsch eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich gefordert – und damit die Sozialpartnerschaft gespalten. Seitdem schwelte der Konflikt mit schwankender Intensität weiter.

Eigentlich wollte die Industrie das Thema bereits im vergangenen November bei den Kollektivvertragsverhandlungen mit der Metallergewerkschaft auf die Tagesordnung setzen. Das unterblieb jedoch.

Grund: Die Gewerkschaften hatten in den Verhandlungen eine magere Lohnrunde (2,5 Prozent bei einer Inflation von 2,1 Prozent) hingenommen, um die Angleichung des Gehaltsschemas der Metallarbeiter an jenes der Angestellten zu erreichen. Eine Debatte über den heiklen Komplex Arbeitszeitflexibilisierung konnten sie daher nicht gebrauchen.
Man einigte sich auf weiterführende Gespräche hinter den Kulissen.

Die Gewerkschaften, beschwert sich die IV, hätten anschließend aber auf stur geschaltet. „Da ist gar nichts mehr gegangen“, sagt ein hoher Funktionär: „Wir mussten etwas tun, um die Gegenseite an den Verhandlungstisch zurückzubringen.“ Sprich: den Konflikt eskalieren.

Der Plan ging aus Sicht der IV auf. In aller Eile wurde zu Jahresbeginn ein einseitig erstellter Gesetzesentwurf formuliert, mit dem Präsident Sorger an die Öffentlichkeit ging. Kernpunkt: Die Zauberformel „10/12/60/2“ – zehn Stunden Normalarbeitszeit pro Tag (derzeit sind es acht); bei Bedarf bis zu zwölf; 60 Stunden hackeln pro Woche; Durchrechnungszeitraum: zwei Jahre.

Der ÖGB tobte, drohte mit Kampfmaßnahmen und setzte sich anschließend bei einem „Arbeitszeitgipfel“ im Wirtschaftsministerium mit der Wirtschaftskammer und der IV an einen Tisch.

Dabei hatte der IV-Entwurf von vorneherein keine Chance auf Umsetzung: Die Regierung hätte niemals das Risiko in Kauf genommen, sich durch die Verlängerung der Arbeitszeit und die Kürzung von Überstunden per Gesetz den Zorn der Wähler zuzuziehen und sich damit zum nützlichen Idioten der Industrie zu machen.

Die Lösung hätte österreichischer nicht sein können: ein Kompromiss, noch ehe der Konflikt überhaupt ausgetragen werden konnte. Vorerst zumindest. Die Flexibilisierungsgespräche wurden verschoben. Im Sommer, spätestens aber bei den Lohnrunden im Herbst, wollen Arbeitgeber und Gewerkschaften die allfälligen Anpassungen Branche für Branche neu verhandeln – also nicht auf Ebene der obersten Sozialpartnervertreter, sondern bei den Verhandlungen über die mehr als 1600 Kollektiv- und Teilkollektivverträge im Lande.

Gewerkschaft unter Druck. Was es für die Gewerkschaften nicht leichter macht. Es ist ein großer Unterschied, ob der Verhandlungspartner der mächtige ÖGB ist oder eine möglicherweise brustschwache Teilgewerkschaft. „Als Unternehmen sind wir hier heute in der stärkeren Position“, freut sich Claus Raidl, Chef des Edelstahlkonzerns Böhler-Uddeholm.

Beigelegt sind die Auseinandersetzungen damit keineswegs. Nach 120 Jahren leidenschaftlicher Kämpfe um die Verkürzung der Arbeitszeit brechen vielmehr jene Dämme, welche die Arbeiterbewegung einst errichtet hatte: die Einführung des 11-Stunden-Tages 1885, die Verringerung auf acht Stunden 1919, die Verankerung der 45-Stunden-Woche 1959, die 40-Stunden-Woche 1975 und schließlich die 38,5-Stunden-Woche 1985. Parallel dazu stieg auch der Urlaubsanspruch. Von drei Wochen 1965 auf vier 1977 und schließlich auf fünf 1986.

Über das Jahr gerechnet, verbringen Österreichs unselbstständig Beschäftigte heute annähernd 1800 Stunden am Arbeitsplatz. Das reicht im Vergleich zu den alten 15 EU-Mitgliedsstaaten (für die neuen liegen noch keine verlässlichen Zahlen vor) für einen Platz im Mittelfeld – deutlich hinter Großbritannien, Griechenland, Irland und Spanien. Da tröstet es auch nicht, dass Deutsche, Dänen, Italiener und Franzosen noch ein Stück weniger arbeiten.

Theoretisch kann in Österreich schon jetzt länger als 38,5 Stunden die Woche gearbeitet werden. Bereits 1997 hatten sich die Sozialpartner auf eine Wochenarbeitszeit zwischen 32 und 45 Stunden geeinigt – in manchen Branchen sind über Betriebsvereinbarungen sogar bis zu 48 Stunden möglich. Zudem darf seither auch am Sonntag gehackelt werden. Annähernd ein Drittel aller unselbstständig Beschäftigten tut das. Nach Angaben des ÖGB arbeiten bereits eine Million Österreicher zumindest fallweise am Sonntag, die Hälfte davon sogar regelmäßig.

Zudem geben Unternehmer mehr oder weniger offen zu, dass sie die geltenden gesetzlichen Regelungen bei Bedarf einfach außer Acht lassen. Belegschaft und Betriebsräte spielen dabei aus Angst um den Arbeitsplatz vielfach mit.

Hohe Lohnkosten. Das kommt die Unternehmen freilich teuer: in Form von Überstundenzuschlägen oder Zeitausgleich. „Im internationalen Vergleich sind die Lohnkosten zu hoch“, schimpft Böhler-Uddeholm-Chef Claus Raidl: „Wir haben mehr Urlaub als anderswo. Der Faktor Arbeit muss billiger werden.“

Und genau hier will die Industrie jetzt den Hebel ansetzen. Mit der angepeilten Ausdehnung der Normalarbeitszeit soll vor allem eines erreicht werden: die Einsparung kostspieliger Überstunden. Die Beschäftigten würden demnach über das Jahr gerechnet künftig zwar nicht mehr arbeiten als heute – sie würden dafür nur weniger verdienen. Wolfgang Reithofer, Generaldirektor des Baustoffkonzerns Wienerberger: „Ich kann das Schlagwort vom Lohnraub nicht ernst nehmen. Es geht bloß darum, die anfallende Arbeit richtiger und besser zu verteilen und dabei auch die Bezahlung anzupassen.“

Eines der zentralen Argumente: Mitarbeiter müssen auch dann voll entlohnt werden, wenn einmal weniger Arbeit anfällt. Warum also Zuschläge zahlen, wenn eine Zeit lang mehr zu tun ist. „Wenn wir Aufträge haben, kann das nicht mit Mehrkosten verbunden sein, wenn wir bei schwächerer Auftragslage Unterbeschäftigungskosten zu schlucken haben“, sagt der Industrielle Hannes Androsch (siehe Interview auf Seite 45).

Das wiederum wollen die Gewerkschaften nicht mittragen. „Eines kann man von uns nicht verlangen: dass die Leute rund um die Uhr arbeiten und dafür keine Zuschläge bekommen sollen“, kontert Richard Leutner, Leitender Sekretär des ÖGB.

Er bemüht ein Beispiel aus der Metallindustrie. Demnach leistet dort ein Beschäftigter mit 2000 Euro Grundlohn im Schnitt 150 Überstunden im Jahr. Fallen diese aufgrund neuer Arbeitszeitregelungen weg, verdient er jährlich 3000 Euro weniger – immerhin eineinhalb Monatslöhne. ÖGB-Vizepräsident Karl Klein: „Wir wissen, dass mit flexibler Arbeitszeit die Überstunden weniger werden, akzeptieren aber nicht, dass sie nicht bezahlt werden, wenn sie geleistet werden.“
„Die Durchrechnung führt letztlich zu weniger Einkommen“, gibt auch Raidl zu.

In Summe erhoffen sich die Unternehmen daraus Einsparungen in der Größenordnung von einer Milliarde Euro im Jahr. Das entspricht ziemlich exakt einem Prozent der Lohnsumme Österreichs. Dadurch – und nur dadurch – würden neue Arbeitsplätze geschaffen und der Wirtschaftsstandort Österreich gestärkt.

Oder auch nicht. Nicht einmal die Wirtschaftsforscher sind sich über die Konsequenzen derartiger Maßnahmen im Klaren. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo rechnet damit, dass die Umverteilung zulasten der Arbeitnehmer die Kaufkraft im Lande empfindlich schmälern würde – kurzfristig um 600 bis 700 Millionen Euro, mittelfristig sogar um bis 900 Millionen Euro.

Wifo-Experte Ewald Walterskirchen: „Der positive Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ist unterm Strich verschwindend gering. Zudem könnte sich das dämpfend auf den Arbeitsmarkt auswirken. Steigt die Produktivität, können die Maschinen besser ausgelastet werden – die Unternehmen müssen bei Bedarfsspitzen keine neuen Leute einstellen.“ Der ÖGB hat dazu eine griffige Formel parat: Weniger Überstunden sind gleich 5000 verlorene Arbeitsplätze.

Expertenstreit. Das Institut für Höhere Studien (IHS) sieht die Sache anders: Arbeitszeitflexibilität erhöht nach Meinung der dortigen Forscher die Produktivität, führt zu höheren Unternehmensgewinnen und mehr Investitionen – wirkt sich aber nicht negativ auf die Kaufkraft und das Wirtschaftswachstum aus.

Während die Experten zanken und sich die Sozialpartner argumentativ in Stellung bringen, haben es einzelne Unternehmen längst geschafft, ihre Belegschaft auf die neuen Zeiten einzuschwören – zum Teil mit drastischen Methoden. Der niederösterreichische Technologiekonzern Berndorf etwa hat seine Betriebsräte jüngst auf Dienstreise nach China und Indien geschickt, um Arbeitszeitmodelle und Wettbewerbskraft zu studieren. Berndorf-Chef Norbert Zimmermann verschmitzt: „Das hat den Kollegen die Augen geöffnet.“