Archäologie: Geistesverwandte
Christine Neugebauer-Maresch erhielt die Nachricht an einem Septembertag 2005 gegen Mitternacht auf ihr Handy. Die Wiener Prähistorikerin las staunend, dass ihrem Grabungsteam ein beachtlicher Fund gelungen war: Am Wachtberg bei Krems in der Wachau waren die Experten schon Monate zuvor auf Spuren von Menschen gestoßen, die dort vor rund 27.000 Jahren gelebt hatten. Auf einem Areal von nur zehn Quadratmetern lagen im Löss an die 11.000 Fundstücke, Steinwerkzeuge und Tierknochen. Nun aber hatte das Team um Thomas Einwögerer ein Mammut-Schulterblatt vorsichtig angehoben und darunter Skelette von zwei Säuglingen erblickt. Eines der Babys trug eine Perlenkette aus Mammut-Elfenbein, und die Anordnung der Gebeine ließ vermuten, dass die Kinder einst in Fell gewickelt liebevoll bestattet und mit dem Schulterblatt zugedeckt worden waren.
Ende vorvergangener Woche kam die nächste Erfolgsmeldung vom Wachtberg: Das Team um Einwögerer und Neugebauer-Maresch entdeckte ein weiteres Säuglingsgrab aus der Eiszeit. Auch diesmal waren die Gebeine in Rötelpulver und eine zerfallene organische Hülle gepackt.
Solche eiszeitlichen Funde sind auch deshalb von Bedeutung, weil sich daraus indirekt Aussagen über die Geisteswelt und das kognitive Niveau früher Menschen ableiten lassen. Experten sind sich einig, dass das geistige Potenzial der in Felle gehüllten Eiszeitjäger, die vor 27.000 Jahren im Donautal lebten, im Wesentlichen jenem der heutigen Menschen entsprach: Wer Verstorbene bestattet, ihnen Schmuckstücke zur Seite legt, mithin also Rituale kennt, verfügt jedenfalls über ein gewisses Ausmaß an kognitiven Fähigkeiten.
Zurzeit befassen sich Experten in aller Welt mit der Frage, wann und wie diese ursprünglich entstanden sind: Wann wurden die ersten Schmuckstücke, Figuren, Waffen und komplexen Werkzeuge hergestellt? Wann entwickelten sich symbolische Handlungen? Und wann begann das abstrakte, zielgerichtete, vorausplanende Denken? Viele Funde, Daten und Indizien deuten mittlerweile darauf hin, dass die jeweilige Entstehung dieser Fähigkeiten deutlich früher anzusetzen ist, als bisher angenommen wurde und dass manuelles Geschick und mentale Potenz offensichtlich keineswegs, wie vielfach gedacht, sprunghaft vor 50.000 Jahren aufgetreten sind, sondern dass ihre graduelle Entwicklung eine halbe Million Jahre zurückreichen könnte.
Bis vor wenigen Jahren lautete der wissenschaftliche Konsens etwa folgendermaßen: Hunderttausende Jahre lebte in Europa der Neandertaler und vor ihm der Homo erectus, denen man bestenfalls eine primitive Lautsprache und rudimentäre handwerkliche und geistige Kompetenzen zutraute. Erst als der Homo sapiens vor mehr als 35.000 Jahren aus Afrika kommend über den Nahen Osten Europa erreichte, entfaltete er womöglich genötigt durch die Herausforderungen der unwirtlichen eiszeitlichen Umwelt erstaunliche Fähigkeiten: Er bemalte Höhlen, schuf Schmuck und Skulpturen, konstruierte effiziente Jagdwaffen und entwickelte eine komplexe Sprache.
Frühe Seefahrer. Seit Kurzem ist dieses Bild angesichts neuer Funde im Wandel. So deuten bis zu 100.000 Jahre alte Schmuckstücke darauf hin, dass die Herstellung von Kunstgegenständen sehr viel älter sein muss als zuvor angenommen. Etwa 80.000 Jahre alte Knochenharpunen aus dem Kongo wiederum sind derart perfekt gestaltet, dass sie nicht in das bisherige Zeitgerüst der Evolution des modernen Menschen zu passen scheinen. Und in Südostasien wurden Hinweise entdeckt, dass eine Menschenart bereits vor 800.000 Jahren auf dem Meer unterwegs gewesen sein könnte. Anthropologen vermuten deshalb, dass auch frühe Menschenformen zu beträchtlichen geistigen Leistungen fähig waren immerhin ist dazu präzises absichtsvolles Handeln notwendig.
Höhere kognitive Fähigkeiten kann man beispielsweise aus standardisierten Werkzeugen ableiten, wenn also ähnliche Exemplare nach einer geistigen Idealvorstellung geformt werden, was auf geplantes Handeln schließen lässt, erklärt Katerina Harvati, Anthropologin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Begonnen hatte der Paradigmenwechsel im Herbst 2004, als der Archäologe Christopher Henshilwood in der südafrikanischen Blombos-Höhle 41 maiskorngroße Schneckenhäuser fand, die alle an exakt derselben Stelle ein kleines Loch aufwiesen. Winzige Abnützungsspuren an den Lochrändern zeigten, dass sie einst wohl zu einer Kette aufgefädelt gewesen waren. Bisher kannte man solche Schmuckfunde nur aus dem Jungpaläolithikum, aus der Zeit vor höchstens 40.000 Jahren doch der afrikanische Schneckenschmuck entstand vor rund 75.000 Jahren. Skeptiker wie Randall White von der New York University hielten die Löcher deshalb für natürlich entstandene Beschädigungen.
Symbolik. Erst vor wenigen Wochen, Ende Juni, wurden jedoch im Wissenschaftsmagazin Science drei weitere gelochte Gehäuse von Meeresschnecken beschrieben, die bisher unbemerkt in Museumsdepots in Israel und Algerien ruhten. Diese Schmuckstücke des frühen Homo sapiens sind sogar mehr als 100.000 Jahre alt. Ähnlich alte aktuelle Grabungsfunde von Lehmbrocken, Knochen und Feuerstein zeigen eingravierte Muster mit unbekannter Bedeutung.
Symbolische Objekte, Verzierungen und Kunstobjekte werden als Anzeichen für voll ausgebildete geistige Fähigkeiten, für symbolisches Denken und für Sprache angesehen, meint Harvati. Sie dienen als Hinweis auf das Erkennen von sich selbst und anderen als denkende Individuen. Da wir solche Objekte im mittleren Paläolithikum Europas nicht finden, sehr wohl aber beim gleichzeitig in Afrika lebenden frühen Homo sapiens, scheinen diese Fähigkeiten dort entstanden zu sein. In der tansanischen Mumba-Höhle wurden gar 130.000 Jahre alte Werkzeuge aus Obsidian, einem vulkanischem Glas, entdeckt, deren Rohmaterial die Menschen von einem 320 Kilometer entfernten Vulkan geholt haben ohne umsichtige Vorbereitung wäre eine solche Beschaffungstour kaum möglich.
Derartige Erkenntnisse erfordern es, bisherige Erklärungsmodelle der Entwicklung des Denkens zu modifizieren. Lange gingen Anthropologen von einer eher plötzlichen Entfaltung der geistigen Fähigkeiten aus. Richard G. Klein von der kalifornischen Stanford-Universität vermutete, eine genetische Mutation im Erbgut des Homo sapiens habe verbesserte Gehirnleistungen ermöglicht. Eine andere Hypothese lautete: Die Erfindung von Speerschleudern und Pfeilen ermöglichte das Töten auf Distanz, was zu Kooperation bei kollektiver Jagd und generell zu gemeinsamer Planung und abstraktem Denken geführt habe. Ebenso könnten eine erhöhte Bevölkerungsdichte und die Konfrontation mit fremden Gruppen die Entwicklung technischer Neuerungen erzwungen haben.
Der Anthropologe Stanley Ambrose von der Universität von Illinois indes hält es aufgrund genetischer Befunde für möglich, dass der Homo sapiens vor etwa 70.000 Jahren fast ausstarb. Geologen konnten tatsächlich nachweisen, dass damals eine ungeheure Explosion des Vulkans Toba auf Sumatra gewaltige Staubmengen in die Stratosphäre schleuderte, was eine Jahrhunderte währende Kälteperiode auslöste. Ambrose zufolge hätten damals vorwiegend jene Menschen überlebt, die miteinander auf komplexe Weise kooperierten und Ressourcen teilten. Vermehrte Kommunikation und gesteigerte Intelligenz wären eine Folge davon gewesen. Allerdings: Die Zahl von diesbezüglich aussagekräftigen Grabungs-funden ist relativ gering, und zudem spiegelt sich das Verhalten von Menschen nur bedingt in Artefakten wider.
Sprachverständnis. Ein zweiter Weg zur Erforschung der kognitiven Entwicklung ist die Beobachtung von Primaten und anderen Tieren. Erstaunliche Ergebnisse erbrachten zum Beispiel Kommunikationsversuche mit Primaten. Zwar können diese keine Worte aussprechen, lernten aber eine Gebärden- und eine Symbolsprache, wobei sie zuweilen komplexe Sätze bildeten. Dies würde bedeuten, dass die Grundlagen dieser geistigen Fähigkeiten viele Millionen Jahre alt sind, sofern sie auf unsere gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Ein Zwergschimpanse konnte sogar Orte auf einer einfachen Landkarte den realen Stellen zuordnen. Interessant ist in dem Zusammenhang ein 25.000 Jahre alter Mammut-Stoßzahn aus dem tschechischen Pav-lov, in den ein eiszeitlicher Homo -sapiens ungewöhnliche Muster geritzt hat. Es gilt als möglich, dass es sich um eine Art Landkarte handelt.
Gemeinsam mit neuen Einsichten in die Anfänge des komplexen Denkens werden derzeit auch manche gängigen Ansichten über die grobschlächtigen Urahnen des modernen Menschen revidiert. So scheint es heute, als seien die Fähigkeiten sowohl des Neandertalers als auch des vor mehreren hunderttausend Jahren lebenden Homo erectus lange Zeit unterschätzt worden. Neueste Forschungen zum Thema wurden Ende Juli an der Universität Bonn bei einer internationalen Konferenz aus Anlass des 150. Jahrestages des ersten Urmenschenfundes präsentiert.
Ein gar so primitiver Zeitgenosse, wie oft angenommen, dürfte der Neander-taler nicht gewesen sein. Die Mehrzahl der Anthropologen hält es mittlerweile für wahrscheinlich, dass Neandertaler ihre Verstorbenen zumindest fallweise begraben haben. Einige gefundene Objekte wirken wie Grabbeigaben, was vermuten lässt, dass nicht bloß der verwesende Leichnam entsorgt werden sollte. Ein Neandertaler-Grab in Shanidar im Irak sorgte wegen vieler Blütenpollen für Aufsehen: Die Ausgräber sprachen von einem Begräbnis mit Blumen. Allerdings könnten auch Nagetiere die Pflanzenteile ins Erdreich getragen haben.
Als weiteres Indiz für ausgereifte kog-nitive Fähigkeiten gilt die Herstellung von Musikinstrumenten also die Fertigung von Gegenständen, die eigentlich nicht lebensnotwendig sind. So wurde 1995 im slowenischen Divje Babe ein 50.000 Jahre altes Objekt aus Bärenknochen entdeckt, das vier gleich große in einer Linie angeordnete Löcher aufweist. Ob es sich tatsächlich um die Flöte eines Neandertalers handelt oder um Bissspuren eines Raubtieres, wird noch diskutiert. Unumstritten sind dagegen Flöten des Homo sapiens aus dem süddeutschen Geissenklösterle, die aus Schwanenflügelknochen und Mammut-Elfenbein geschnitzt wurden, sowie eine im niederösterreichischen Grubgraben gefundene Flöte aus dem Schienbeinknochen eines Rentiers.
Technische Perfektion. Schon Mitte der neunziger Jahre gab es eine Wende in der Einschätzung der geistigen Fähigkeiten des europäischen Homo erectus, der vor dem Neandertaler lebte. Damals fand der Prähistoriker Hartmut Thieme bei Schöningen in Niedersachsen sieben schlanke und bis zu 2,5 Meter lange Wurfspeere aus Fichten- und Kiefernholz. Das Alter der technisch fast perfekt gestalteten Jagdgeräte beträgt erstaunliche 310.000 Jahre. Bis dahin galt Homo erectus als Primitivling, der in Termitenhaufen stocherte und Raupen, Aas, Obst und Nüsse verzehrte. Thieme ließ Kopien der Speere anfertigen. Ein Praxis-test zeigte, dass sie sich durch beste Wurf- und Treffeigenschaften auszeichneten.
Anscheinend berücksichtigten frühe Menschen beim Schnitzen sogar die Lage des Schwerpunkts einer Jagdwaffe. Wurfspeere müssen vorne dicker sein, um stabil zu fliegen was bei den Speeren von Schöningen der Fall ist , während Lanzen zum Zustoßen vorne dünner sein müssen, um sie weit hinten beim Schwerpunkt anfassen zu können. Eine 2,38 Meter lange Stoßlanze aus hartem Eibenholz, 125.000 Jahre alt, wurde bei Lehringen nahe Bremen geborgen: Sie steckte noch zwischen den Rippen eines Elefantenskeletts und war tatsächlich vorne dünner.
Vielleicht kannte der Homo erectus sogar schon symbolische Objekte. In Bilzingsleben (Deutschland) legten Archäologen eine Anordnung von Hütten frei. Auf einem fast kreisrunden, mit Steinen gepflasterten Platz neben einer Feuerstelle fand sich ein großer Steinblock, umrahmt von Auerochshörnern und Teilen von Menschenschädeln. Winzige Knochensplitter in den Fugen des Blocks ließen auf eine gezielte Zer-trümmerung von Menschenknochen schließen. Möglicherweise wurden hier frühe Rituale inszeniert. Auch wurden regelmäßige Einkerbungen auf einem Elefantenknochen entdeckt, welche die Ausgräber als älteste bekannte grafisch-kommunikative Zeichen interpretierten. Skeptiker sprachen indes von einem 370.000 Jahre alten Schneidbrett des Homo erectus.
Sogar ein annähernd menschenähnliches Figürchen wurde an einem Lagerplatz des Homo erectus gefunden, das mit mindestens 300.000 Jahren etwa zehnmal so alt ist wie die Venus von Willendorf. Das sechs Zentimeter große Objekt wurde vom Marburger Prähistoriker Lutz Fiedler in Tan-Tan im Wüs-tensand Marokkos entdeckt. Der in Australien lebende Steinzeitexperte Robert Bednarik hält es für ein ursprünglich von der Witterung geformtes Objekt, das mit Steinwerkzeug bearbeitet und mit roter Farbe bemalt wurde. Der amerikanische Anthropologe Ben Orlove nannte es gar das älteste erhaltene Kunstwerk der Welt.
Sozialnetz. Auch die soziale Intelligenz scheint älter zu sein als bisher vermutet. Skelettfunde von Neandertalern und sogar vom Homo erectus lassen erkennen, dass schwer kranke oder behinderte Individuen offensichtlich zuweilen bis zu 40 Jahre alt wurden, was Fürsorge durch Mitmenschen nahe legt.
Der australische Archäologe Mike Morwood fügte dem Bild eine weitere Facette hinzu. Primitive Steingeräte in Vulkansedimenten auf der indonesischen Insel Flores wurden auf ein Alter von 800.000 Jahren datiert. Die Insel wies jedoch nie eine Landverbindung zum asiatischen Festland auf. Selbst in extremen Kaltzeiten, als der Meeresspiegel weltweit um bis zu 200 Meter sank, blieb eine mindestens 20 Kilometer breite Wasserstraße. Auf Flores und den benachbarten Kleinen Sundainseln gibt es deshalb nur Tierarten, die schwimmend, fliegend oder auf Ästen treibend vom Festland kamen. Einstweilen kann nur spekuliert werden, wie Homo erectus vor 800.000 Jahren auf Baumstämmen oder Flößen den Ozean überquerte.
Dasselbe Grabungsteam berichtete im Herbst 2004 über die sensationelle Entdeckung von Skeletten mehrerer nur einen Meter großer Zwergmenschen, die noch vor 13.000 Jahren auf Flores lebten und vielleicht geschrumpfte letzte Nachkommen des asiatischen Homo erectus gewesen sind. Ihr winziges, 380 Kubikzentimeter großes Gehirn war so groß wie jenes des Australopithecus vor zwei Millionen Jahren.
Dennoch wurden bei den Zwergen gekonnt angefertigte Steinwerkzeuge -gefunden. Bisher galt die Größe des Großhirns als zumindest grober Anhaltspunkt für das Ausmaß kognitiver Fähigkeiten, wobei allerdings irritierte, dass das durchschnittliche Gehirnvolumen der Neandertaler mit 1500 Kubikzentimetern größer war als jenes heutiger Menschen. Ob aber ein derart kleines Gehirn ausreicht, um Zwergelefanten zu jagen und Steinwerkzeuge herzustellen, wird derzeit hitzig debattiert die Funde lassen aber zumindest vermuten, dass es nicht viel Hirn braucht, um Köpfchen zu haben.
Von Gerhard Hertenberger