Architektur-Essay: Kernschmelze

Über die Verödung kleinstädtischer Zentren

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Setzen Sie sich auf die Terrasse von McDonald’s im Südwesten von Amstetten. Blicken Sie die schnurgerade Straße nach Waidhofen an der Ybbs entlang, die nur durch die sich neuerdings seuchenartig verbreitenden Kreisverkehre mit Dummkunst in der Mitte unterbrochen wird. Genießen Sie die prachtvolle Aussicht auf die dynamischen Unternehmen, die den Weg säumen. Natürlich sind es die üblichen Verdächtigen: bauMax, Leiner, Forstinger, jello. Als Betrachter entwickeln Sie dabei unwillkürlich ein globales Gefühl, denn unter Auslöschung der vorbeihuschenden regionalen Nummernschilder auf den Autos und nach Austausch einiger Firmennamen könnten Sie sich jetzt fast überall in Europa befinden. Nicht anders sieht die Stadteinfahrt von Bordeaux, von Vicenza, von Thessaloniki oder von Kitzbühel aus.

Ob wir wollen oder nicht, die europäische Landschaft der kleinen Städte und Dörfer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert, obwohl wir immer noch glauben, dass sich gerade in diesen alten Idyllen die Vergangenheit ewig bewahrt hätte. Seltsamerweise erlauben wir in unserer allgemeinen Wahrnehmung eigentlich nur den großen Städten Dynamik, Entwicklung und Veränderung. In Österreich wären dies wohl nur Wien und Linz und vielleicht noch Graz. Aus diesem verständlichen Beharren auf alten Postkartenbildern und der Suche nach der Begründung der Identität aus der Vergangenheit entsteht die Sehnsucht nach ordnenden Kräften, die in der Lage wären, die zerstörerischen Entwicklungen der heutigen Zeit aufzuhalten.

Die Bürger wissen, dass die Bürgermeister und die Politik insgesamt dazu nicht in der Lage sind. Es ist unmöglich, dass an der politisch entscheidenden Spitze von allen 2359 Gemeinden Österreichs aufgeklärte, gebildete, visionäre Köpfe stehen, welche die Entwicklung ihrer Gemeinde sachkundig lenken könnten. Deshalb finden wir im Hintergrund eine Disziplin, die sich der Aufgabe einer geordneten, ausgeglichenen Entwicklung des allgemeinen Raumes verschrieben hat, in dem wir leben.

Wissen Sie, was Raumplanung ist? Eine geheime höhere Macht, die über das Sachwissen für eine geordnete Entwicklung des Landes verfügen soll. Straßen werden geplant und gebaut, Siedlungs- und Gewerbegebiete werden auf bunte Pläne gezeichnet, landwirtschaftliche Flächen gesichert. Ob ein neues Fachmarktzentrum im Niemandsland der Peripherie gebaut werden kann, wo die kommunale Sportanlage realisiert wird, ob eine Gemeinde noch mehr Häuselbauer-Parzellen widmet oder doch lieber ein Mietwohnhaus baut – überall steckt die geheimnisvolle Raumplanung dahinter. Manchmal auch mit ablehnenden Gutachten, aber dann entscheidet die Politik, also wir alle, was geschehen soll. Und wie jede Wissenschaft hat auch die Raumplanung jenseits der Wissenschaftlichkeit ihre immanente Ideologie. Diese schlingert allerdings seit Jahrzehnten zwischen der Begründung einer notwendigen wirtschaftlichen Entwicklung der Gemeinden und der Bewahrung ihrer angeblich ursprünglichen Identität hin und her.

Zwischen diesen Polen findet die Wirklichkeit statt, die man weder wissenschaftlich noch politisch zur Kenntnis nehmen will.

Zurück zu Amstetten, das nur stellvertretend für die österreichischen Kleinstädte erwähnt wird, man könnte ebenso gut Wels, Wörgl, Leoben oder Mittersill als Beispiel heranziehen. Nachdem die Politik und die Raumplanung zunächst den Bau von Fachmarktzentren an der Peripherie der Städte erlaubten, bemerkten sie eine zunehmende Ausdünnung der alten Innenstadt. Alteingesessene lokale Kaufmannsdynastien gaben auf, die österreich- oder auch europaweit agierenden Filialen von Handelsketten zogen ein. Aber auch dieser Strukturwandel konnte die Abwanderung der Menschen an die Peripherie nicht verhindern.

Daraufhin konnte in den vergangenen Jahren in Österreich ein neuer Trend beobachtet werden. Es gibt zunehmend im Ortsverbund der kleinen Städte neue Shopping Malls mit großen Garagen. Die Idee ist simpel: Wenn die Menschen schon unweigerlich und nur noch mit dem Auto einkaufen fahren, dann halte ich sie doch in der urbanen Innenstadt, wenn ich ihnen diesen zentralen Ort biete. Dort können sie günstig parken und alle Alltagsgeschäfte zu Fuß an einem Ort erledigen.

Falls man das Ziel verfolgte, damit die alten Innenstädte wieder zu beleben, ist man kläglich gescheitert. Denn die noch verbliebenen potenten Händler ergriffen trotzdem die Chance, nun aus der Stadt in eine Shopping Mall zu übersiedeln, meist unter Hinterlassung von „Zu vermieten“-Schildern auf den leeren Schaufenstern. Jedenfalls wird heute die selbstverständliche und alltägliche Nutzung eines gewachsenen Ortskerns für die Alltagsversorgung der Bevölkerung immer schwieriger. Verschwunden sind die alte Urbanität und die Zeit, in welcher der Kaufmann oder Gewerbetreibende in seinem Haus im Ort wohnte und arbeitete. Offen bleibt die Frage, welchen Nutzungen diese Häuser in Zukunft dienen werden, wenn irgendwann alle Kaufleute und Betriebe zugesperrt haben und die letzten Bewohner der Kleinstadt in ihre Häuser ins Umland gezogen sind.

Dies geschieht unentwegt, obwohl man sich allerorten bemüht, die alten Ortskerne zu beleben. Breitere Gehsteige, Radwege, Schanigärten für die Pizzeria und den Chinesen und eine umfassende Stadtmöblierung dienen dazu, einen großen, zusammenhängenden „Veranstaltungsraum“ der Innenstadt zu erzeugen. Angeleitet werden diese Aktivitäten von dem als „Venedig-Syndrom“ zu bezeichnenden Erfolg der historisch herausgeputzten Altstädte, durch deren Gassen sich unermüdliche Touristenmassen schieben.

Dieser Effekt wird sich in Österreichs Kleinstädten wahrscheinlich nicht so toll einstellen, aber eine herausgeputzte oder auch neu gebaute Altstadt stärkt jedenfalls die Identität der Bevölkerung, auch wenn sie eines Tages nur noch Kulisse für Erlebniszonen sein wird. Betroffen davon sind auch prosperierende Kleinstädte wie beispielsweise Kitzbühel. Vom Tourismus liebevoll umarmt, boomen zwar die Luxusboutiquen in der Erlebniszone Altstadt, verdrängen aber dafür sukzessive die alten Geschäfte und Lokale der Alltagsversorgung für die Bevölkerung.

Die Zukunft der Kleinstädte ist ungewiss. Der lebendige Organismus aus Wohnen, Arbeit, Handel und Gemeinschaftsleben der angestammten Bevölkerung ist wohl endgültig verloren. Es scheint, als ob diese „Idylle“ nur noch künstlich reproduziert werden kann. Den Weg dafür weist die Entwicklung des „New Urbanism“, einer ideologischen Richtung der Raumplanung und des Städtebaus, die sich in den USA verbreitet. Der New Urbanism begann bereits Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der 1936 emigrierte Wiener Architekturtheoretiker Christopher Alexander an der University of Berkeley seine „Pattern Language“ entwickelte und in Buchform veröffentlichte. Der Wiener Architekt Hermann Czech hat dieses Werk übersetzt und ihm den Titel „Eine Muster-Sprache“ gegeben.

Alexander entwickelte 253 Muster von Alltagssituationen mit Vorschlägen der richtigen Gestaltung, die alle Menschen zufrieden stellen würde. Er hat 1980 beim legendären „Forum Design“ in Linz ein heimeliges „Café“ gebaut, das durch einfache, konservative Formen bestimmt war und ziemlich roh, aber überlegt zusammengezimmert wurde. Alexander befand sich damit inmitten einer Bewegung, die der Moderne eine Fehlentwicklung unterstellte. Nicht umsonst war das folgende Jahrzehnt von einer stilistischen Postmoderne beherrscht, die von der formalen Rückkehr zu vormodernen Formen eine Rettung des Urbanen erhoffte.

Der luxemburgische Architekt Leon Krier – sein Bruder Rob wirkte lange Zeit an der Technischen Universität Wien – wurde zu einem Cheftheoretiker dieser Richtung. Er inspirierte Prince Charles zu einer eigenen Akademie, die Studenten wieder in den alten Bau- und Handwerkstechniken unterrichtete, und Leon Krier war auch der Ideenspender für ein Pilotprojekt in Florida. Der Entwickler Robert Davis wollte Ende der siebziger Jahre als Ferienresort eine richtige alte Kleinstadt bauen und fand die Architekten Andrés Duany und Elizabeth Platter-Zyberk, die mit ihm gemeinsam die historische Südstaaten-Architektur analysierten und daraus einen systematischen Katalog für Häuser und öffentliche Räume entwickelten.

Das Projekt „Seaside“ wurde 1981 an der Panhandle Coastline im Südwesten Floridas eröffnet und entwickelte sich zu einem gigantischen Erfolg. Kostete ein Grundstück anfangs noch 15.000 Dollar, so stieg der Preis bis 1990 auf 200.000 Dollar, und heute sind bis zu drei Millionen Dollar dafür zu bezahlen. Wohlgemerkt: Baustil und Architektur des dann zu errichtenden Hauses sind streng vorgeschrieben.

Auf Seaside folgte, ähnlich spektakulär, die Stadt „Celebration“, welche der Disney-Konzern auf eigenem Grund am 2. Oktober 1996 in Orlando eröffnete. Nicht als Ferienquartier, sondern als Beispiel einer dauerhaften Reminiszenz an „Grandma’s Apple Pie Town“ geplant, wo es wieder eine alte Main Street mit Geschäften und Kanzleien gibt und das formale Retro-Repertoire mit der Zeit des New Deal endet, jener Zeit, als Amerika angeblich noch in Ordnung war. Es ist dabei nur eine Fußnote, dass die Bürger von Celebration zwar einen eigenen Stadtrat wählten, aber dem Disney-Konzern freiwillig ein Vetorecht für all ihre Gemeindebeschlüsse eingeräumt haben.

Inzwischen gibt es in den USA mehr als 600 derartige Projekte des New Urbanism, der als Verband organisiert ist, mit zugehörigen Organen, Konferenzen, Publikationen und Richtlinien. Ein umfassendes, „SmartCode“ genanntes Regelwerk wird wie ein Handbuch zum richtigen Bau der richtigen Kleinstadt verwendet. Der New Urbanism fordert fußläufige Entfernung von nicht mehr als zehn Minuten zwischen Wohnen und Arbeiten, Mischnutzungen der Gebäude für Geschäfte, Büros, Wohnungen, aber auch die Diversität von Altersgruppen, Kulturen und ethnischen Gruppen. Der New Urbanism legt größten Wert auf eine gediegene Gestaltung des öffentlichen Raums, verlangt dichte Bebauungsformen, hohe Qualität des öffentlichen Verkehrs und Nachhaltigkeit bei allen Investitionen.

Alles also, was auch die europäischen Raumplaner fordern. Aber der New Urbanism geht weiter und schreibt auch die Bauformen selbst vor. Die Kritiker des New Urbanism rümpfen nicht nur aufgrund der traditionellen Bauformen die Nasen, sie sehen hinter den Fassaden der verordneten Harmonie auch eine Politik der Gleichschaltung und Kontrolle. Wenn es in glücklichen Kleinstädten nur glückliche Menschen geben darf – was geschieht dann mit den Unglücklichen?

So ist es kein Zufall, dass für den 1998 in den Kinos angelaufenen Film „The Truman Show“ das reale Seaside-Resort als Kulisse gefunden wurde. Die Story spielt in einer mit Kameras und Mikrofonen ausgestatteten künstlichen Filmstadt, die von einer gigantischen Kuppel überwölbt ist. Alle Bewohner sind Schauspieler. Nur der Hauptdarsteller Truman Burbank, von Jim Carrey gespielt, wurde als Baby in dieses Biotop gesetzt, das als 24-Stunden-Sitcom weltweit übertragen wird, und das Publikum verfolgt gebannt das Heranwachsen seines Stars. Nur der Hauptdarsteller selbst glaubt sich in einer Wirklichkeit. Durch einige technische Fehler beginnt Truman zu erkennen, dass er sich nicht im richtigen Leben, sondern in einem Fake befindet, und zum Schluss gelingt ihm die Flucht aus diesem Paradies. Angeblich versuchten die Autoren des Films zuerst die ideale Kleinstadt im Studio zu bauen, bis sie durch einen Bericht über Seaside all ihre utopischen Visionen verwirklicht sahen.

Im Unterschied zu Seaside, Celebration und all den Regeln des amerikanischen New Urbanism ist in Österreichs Kleinstädten vieles historisch tatsächlich vorhanden. Wir müssten also nur, um diesen Erfolg zu adaptieren, so wie es einmal bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts war, Regeln für die utopische Zukunft formulieren, um unversehrte Landschaften, funktionierende Kleinstädte und glückliche Menschen zu erzeugen. Es müsste demnach nur ein Landeshauptmann die Rolle des totalitären Regisseurs Christof aus „The Truman Show“ übernehmen, und es dürfte kein Bewohner dann versuchen, hinter dieser Soap Opera die Wirklichkeit zu erkennen.
Ist Amstetten nicht schön?

Dietmar Steiner ist Direktor des Architekturzentrums Wien.