„Israel ist eine große ­Enttäuschung“

Ari Rath: „Israel ist eine große ­Enttäuschung“

Interview. Ari Rath über seine Flucht nach Palästina, die Waldheim-Causa und den mangelnden Friedenswillen Israels

Drucken

Schriftgröße

Interview: Georg Hoffmann-­Ostenhof, Tessa Szyszkowitz

Vom Beserlpark in die Wüste und retour. Es ist 74 Jahre her, dass Ari Rath auf der Bank in der Liechtensteinstraße im neunten Bezirk in Wien saß und dachte, es sei das letzte Mal. Er verabschiedete sich von seinen Freunden und wanderte per Kindertransport nach Palästina aus. 1938 vertrieben die Nazis ihn im Alter von 13 Jahren aus seiner Heimat; jetzt ist der 87-Jährige zurückgekehrt.

Ari Rath hat einen Stock, aber er benutzt ihn nicht gern. Gemächlich spaziert er durch die Orte seiner Kindheit. Vom Beserlpark geht es in den Park des Palais Liechtenstein. Dort stand er als Kind Schmiere für seinen Bruder, der hinter einer Hecke verbotenerweise Schnapsen spielte. Um die Ecke, in der Porzellangasse 50, zeigt Rath auf die Fenster im ersten Stock, wo seine Familie wohnte. Als Ari vier Jahre alt war, stürzte sich seine depressive Mutter aus dem Fenster. Der Vater heiratete sieben Jahre später wieder, seine Frau wurde Aris zweite Mutter.

Doch lange blieb die Familie nicht mehr zusammen. Nach dem Anschluss wurde Aris Vater verhaftet, er saß in Dachau, als seine minderjährigen Söhne beschlossen, nach Palästina auszuwandern. Als junger Mann baute Rath den Staat Israel mit auf, arbeitete mit der linksgerichteten Gründergeneration von David Ben Gurion, Shimon Peres und Teddy Kollek zusammen. Bald zog es ihn zum Journalismus. Von 1975 bis 1989 war er Chefredakteur der auf Englisch erscheinenden Tageszeitung „Jerusalem Post“.

Erst spät, Ende der achtziger Jahre, begann sich der überzeugte Zionist auch wieder seiner alten Heimat zuzuwenden. Mit der Wahl des vergesslichen Wehrmachtsoffiziers Kurt Waldheim zum Präsidenten Österreichs entstand auch eine Gegenbewegung. Sie trat dafür ein, Österreich nicht mehr als „erstes Opfer Hitlers“ darzustellen, sondern Verantwortung für die Rolle vieler Österreicher im Dritten Reich zu übernehmen. Mit diesen „neuen Österreichern“ konnte Rath auch jenseits des journalistischen Interesses etwas anfangen. Mit Politikern wie Franz Vranitzky und Rudolf Scholten arbeitete er Anfang der neunziger Jahre auch oft hinter den Kulissen an einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Israel und Österreich.

Seit 2011 lebt der Jerusalemer wieder teilweise in Wien. Am 26. September erscheinen im Zsolnay Verlag seine Memoiren: „Ari heißt Löwe“.

profil: Sie sind Israeli, inzwischen aber auch wieder österreichischer Staatsbürger. Haben Sie nun das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, oder reicht Ihre Wohnzimmercouch eben von Wien bis nach Jerusalem?
Rath: Mein Hauptwohnsitz ist immer noch Jerusalem. Doch ich habe in Wien sehr viele persönliche Freunde, eigentlich mehr als in Jerusalem. Meine Verbundenheit ist also weniger eine Frage der Staatsbürgerschaft als der menschlichen Kontakte. Ich fühle mich hier sehr wohl.

profil: Ist Ihre Erinnerung an den Antisemitismus im Wien der 1930er-Jahre verblasst?
Rath: Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Ich war ab 1934 in einer „Judenklasse“ im Wasagymnasium. Die 1A war für die katholischen Schüler, die 1B für die jüdischen Kinder. Das hatte Kurt Schuschnigg als Unterrichtsminister per Erlass verfügt. Wenn man sich in der Schule mit den anderen stritt, dann hieß es natürlich gleich: „Judenbua, ziag o nach Palästina!“ Das war für mich die größte Beleidigung, ich war doch gebürtiger Wiener! Trotz aller Zeichen verdrängten wir die Gefahr aber. Nur sehr wenige Juden wanderten vor dem Anschluss aus. Die meisten der 180.000 Juden in Wien dachten, als Österreicher könne ihnen nichts passieren.

profil: War Ihre Jugend also weitgehend unbeschwert?
Rath: Mein Bruder und ich kamen meistens zu spät zum Unterricht, und unser Mathematikprofessor Joseph Sabbat pflegte zu sagen: „Kommt Zeit, kommt Rath.“ Mein Vater hatte einen Papiergroßhandel in der Wiesingerstraße im ersten Bezirk, da gab es einen Lastenaufzug für die Papierballen, und mein größtes Vergnügen als Kind war es, mit diesem Aufzug rauf- und runterzufahren. Gegenüber im Kaffeehaus durfte ich „Indianer mit Schlag“ essen. Mein größtes Problem war nicht der Austrofaschismus. Ich war viel mehr damit beschäftigt, mich in Filme im Kino in der Liechtensteinstraße zu schummeln, die erst ab 16 freigegeben waren. Ich war erst zwölf, aber ich setzte mir einen Hut auf, und dann war ich drin!

profil: Mit dem Anschluss aber änderte sich das Leben der Juden in Wien schlagartig.
Rath: Allerdings. Mein Bruder und ich gingen am Samstag, den 12. März 1938, auf die Straße, wir waren auf dem Weg von unserer Wohnung in der Porzellangasse zur Großmutter im achten Bezirk. Jeder Polizist, ja, ich glaube, die gesamte Wiener Polizei hatte bereits Hakenkreuzbinden am Arm. Mein Bruder und ich sahen uns an und waren uns einig: Wir müssen weg von hier. Sofort. Und zwar nach Palästina. Denn dort würden wir einen Staat für die Juden aufbauen, aus dem uns niemand mehr vertreiben würde können.

profil: War es schwierig auszureisen?
Rath: Man musste sich beim Palästinaamt in der Marc-Aurel-Straße 5 anstellen, um ein Zertifikat zu ergattern. Im selben Gebäude war übrigens auch die JUAL, die „Jugend-Aliah“-Schule untergebracht. Dort durften jüdische Kinder noch zwei, drei Jahre mit Erlaubnis der Gestapo hingehen und sich auf ihre „Aliah“ – zu Deutsch: ihren „Aufstieg“ – nach Israel vorbereiten. Wir starteten übrigens eine Initiative, dass man an diesem Haus eine Tafel zum Gedenken an unseren Lehrer und Erzieher Aron Manczer anbringt, aber der Besitzer weigerte sich. Er fürchtete, die Tafel könnte „Vandalen anziehen“.

profil: Wer war denn der Besitzer?
Rath: Der „Herr Billa“, Karl Wlaschek.

profil: Sie kamen dann mit Ihrem Bruder allein nach Palästina.
Rath: Mein Vater war wie viele jüdische Kaufleute verhaftet worden und saß in Dachau, als wir ausreisten. Er wollte nie nach Palästina auswandern. Hätte er in den dreißiger Jahren eine Sanddüne im Norden von Tel Aviv gekauft, dann wäre ich heute ein gemachter Mann! Aber er sagte: „Ich bin kein Zionist, ich kaufe keinen Boden in Palästina!“

profil: Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, dass Sie zunächst entsetzt waren über die Lebensbedingungen der Einwanderer.
Rath: Ja, es gab in dem jüdischen Kinderheim, wo man mich zuerst aufnahm, zur Jause nur wässrigen Kakao und Brot. Meine erste Arbeit war da, die Senkgruben auszuräumen. Fünf Tage lang schleppte ich die Eimer. Nach dieser „Jauchentaufe“ konnte mir schließlich nichts mehr etwas anhaben. Ich war dann der Erste in meiner Gruppe, der lernen durfte, wie man Kühe melkt.

profil: Sie blieben aber nicht lange bei den Kühen, Sie wandten sich schnell der Politik und dem Journalismus zu.
Rath: Ich wurde erst 1958 Journalist. Nach der Staatsgründung 1948 lebte ich in einem Kibbuz. In den sechziger Jahren arbeitete ich für den ersten Premierminister Israels, David Ben Gurion. Gemeinsam mit Teddy Kollek, dem späteren Bürgermeister von Jerusalem, besorgte ich Waffen in New York. Das waren wilde Zeiten!

profil: Konnten Sie als Journalist bei der „Jerusalem Post“ dann auch kritisch über die israelische Regierung, der sie nahestand, berichten?
Rath: Die „Jerusalem Post“ war ursprünglich vor allem die Zeitung für die britischen Kolonialbeamten und für die arabische Intelligenzija. Nach 1948 änderte sich die Leserschaft, die Briten waren ja weg, und die Araber waren zwar noch da, aber nicht unbedingt als Leser. Mir war wichtig, dass die „Jerusalem Post“ eine israelische Zeitung auf Englisch mit kritischer Distanz zur ­Regierung wurde. Das hat aber gedauert. Anfangs gab es ja praktisch nur Parteizeitungen.

profil: Das war in Österreich bis 1970 nicht viel anders. Heute gibt es wie in Israel kritische, unabhängige Zeitungen. Inzwischen aber gibt es in Israel keine kritische Mehrheit mehr, die für einen Nahostfrieden eintritt. Wie geht es Ihnen damit?
Rath: Das heutige Israel ist für mich eine große Enttäuschung und ein persönliches Unglück. Der Rassismus grassiert. Avigdor Lieberman mit seinen rechtsradikalen Ansichten ist Außenminister! Es wird alles getan, um keinen Frieden auszuhandeln. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten werden ständig weiter ausgebaut. Heute ist die Linke in Israel abgemeldet.

profil: Was hat sich verändert? Hat der Terror der palästinensischen Friedensfeinde den Friedenswillen der israelischen Bevölkerung zerstört?
Rath: Vor allem innerhalb der heutigen politischen Parteien in Israel sind der Friedenswille und die Bereitschaft zum Kompromiss nicht mehr da. Anfang der neunziger Jahre, da gab es eine Chance. Yitzhak Rabin und Shimon Peres als Regierungsduo – das war die Sternstunde der Friedensbewegung. Die Palästinenser hätten natürlich 1947 den Teilungsplan annehmen sollen, dann hätten sie noch 42 Prozent Palästinas haben können. Die Oslo-Abkommen sahen immerhin noch 22 ­Prozent vor. Heute aber leben im Westjordanland und Ostjerusalem bereits Hunderttausende Siedler.

profil: War der Sündenfall der israelischen Linken, dass die Arbeitspartei dem Siedlungsbau zustimmte?
Rath: Die ersten Warnzeichen waren 1974 der „Gush Emunim“, der „Block der Gläubigen“. Diese Siedler brachten Rabin und Peres in Verlegenheit. Sie besetzten eine alte türkische Bahnstation bei Nablus. Peres wollte sie dort rausholen und handelte einen Kompromiss aus: Die Siedler verließen die Bahnstation und bekamen ein verlassenes ehemaliges jordanisches Militärlager. Das wurde eine der ersten Siedlungen. Ich habe freilich meinen Glauben daran, dass ich den Frieden noch erleben werde, nicht aufgegeben. Aber politisch ist jetzt in Israel eine traurige Zeit angebrochen.

profil: Sind Sie deshalb vergangenes Jahr nach Wien zurückgekommen?
Rath: Vor fünf Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich mich in Wien wiederfinde. Doch meine alte Heimat hat mich hier mit großer Wärme empfangen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich im November 1938 aus der Stadt Wien vertrieben wurde und im Februar 2011 mir im Allgemeinen Krankenhaus derselben Stadt das Leben gerettet wurde.

profil: Wie das?
Rath: Ich wurde sehr krank, als ich auf Besuch war. Man hat sich im AKH wirklich hervorragend um mich gekümmert. Ich hatte meine Beziehungen zu Wien natürlich schon davor wieder aufgenommen. Nach der Wahl von Kurt Waldheim 1986 war ich erstmals wieder in Wien, ich war mit der Anti-Waldheim-Plattform „Neues Österreich“ verbunden. Da sah ich, dass es auch ein anderes Wien gibt, eines, das sich dafür einsetzt, dass Österreich Verantwortung für das übernimmt, was uns Juden angetan wurde. Politiker wie Franz Vranitzky und Rudolf Scholten haben eine neue Grundlage für gute Beziehungen zwischen Österreich und Israel geschaffen.

profil: Mittlerweile jedoch mehren sich unter den österreichischen Juden die Stimmen, die sagen, den Juden werde hier die Existenz wieder erschwert. Es gibt die Debatte über ein mögliches Verbot der Beschneidung, die für Juden ein zentrales Ritual ist. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hatte eine antisemitische Karikatur auf seiner Facebook-Seite.
Rath: Ich fürchte, dass zumindest der schlummernde Antisemitismus in Österreich immer noch existiert. Dass ein Politiker wie Strache bis auf 27 Prozent der Stimmen kommen könnte – das gäbe es in Deutschland nicht. Dieser Mann ist eine direkte Bedrohung für die Demokratie. Wenn Strache Kanzler wird, dann muss man jedenfalls weg von hier.