Euro 2008: Artisten, Biere, Attraktionen

Artisten, Biere, Attraktionen

Die schönste Europa- meisterschaft seit Jahren

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Sport Festspiele. Die EURO 2008 war die nächstgelegene EM aller Zeiten (zumindest für österreichische Fußballfans). Aber war sie auch die schönste? Eigentlich schon.

Zwei Bilder werden von dieser EURO bleiben, zwei verrückte, wunderschöne Bilder. Und es sind nicht die Aufnahmen von Arjen Robbens überirdischem Vorrundentor zum 4:1 gegen Frankreich oder die vom lächerlichen Frustrationsschnauzer des glücklosen Luca Toni. Sondern, erstens: das Bild des völlig aufgelös­ten Tuncay Sanli, der mit viel zu großen Handschuhen das viel zu große türkische Tor bewachte, drei endlose Minuten lang, während die letzten tschechischen Verzweiflungsangriffe auf ihn zurollten. In der Viertelstunde davor hatte seine Mannschaft das längst verloren geglaubte Gruppenspiel um den Aufstieg von 0:2 auf 3:2 gedreht und dann auch noch Torhüter Volkan Demirel durch eine rote Karte verloren. Mit anderen Worten: Es war eines dieser unberechenbaren, vollkommen verrückten Spiele, die diese ­EURO so geprägt haben; Spiele, die überraschender waren als alles, was man bei der EURO 2004 in Portugal sehen konnte, und ebenso atemberaubend wie das EM-Halbfinale zwischen Italien und den Niederlanden anno 2000 (als die Oranjes in der regulären Spielzeit zwei Elfmeter vergaben und die Italiener, seit der ersten Hälfte in Unterzahl, sich schließlich im Elfmeterschießen durchsetzten).
Aber die EURO 08 war zum Glück nicht nur spannend. Sie war auch schön. Biederer Blockadefußball à la Otto Rehagel wurde gnadenlos abgestraft, brave, aber veraltete Spielsysteme wie das der Schweden ebenso, stattdessen prägten aberwitzige Schnelligkeit und technische Brillanz das Turnier, ansatzweise sogar die Auftritte des österreichischen Nationalteams. Dass sich schon die letzten Vorrundenbegegnungen zu echten Endspielen auswuchsen (dank der neuen Regel, bei Punktegleichstand nicht das Torverhältnis, sondern die direkten Begegnungen zu berücksichtigen), darf als struktureller Zusatzbonus verbucht werden, genauso wie die Tatsache, dass die EURO 08 mehr Heimspiele bot als alle bisherigen EM-Endrunden: Zu den beiden Veranstalterländern kamen mit Kroatien und der Türkei noch zwei weitere De-facto-Heimmannschaften.
Das zweite Bild, das diese EURO beschreibt, ist streng genommen gar kein Bild, sondern ein Bildausfall, nämlich das minutenlange Übertragungs-Blackout in der Schlussphase des türkisch-deutschen Halbfinales. In diesem Blackout verendete, einem schweren Unwetter sei Dank, der Kontrollwahn der UEFA, die es sich nicht nehmen ließ, das TV-Signal selbst zu produzieren – und Unerwünschtes bei der Gelegenheit einfach auszublenden. Stadionbesucher sahen während der EURO Flitzer auf dem Spielfeld und bengalische Fackeln in den Fanblocks; im Fernsehen war davon nichts zu bemerken. Die Realität wurde auf UEFA-genehme Verhältnisse zurechtgeschmückt. „Wenn das die Chinesen täten …“, seufzte ein Schweizer Zeitungskommentator mit Blick auf das zweite sportliche Großereignis des Jahres. Immerhin: Bei der nächsten Europameis­terschaft will der allmächtige Fußballverband die Verantwortung erstmals auf ein nationales Organisationskomitee übertragen – wenn sie auch wie geplant stattfindet (was nicht so sicher ist, siehe unten).

Nationalteam: Torschusspanik

Nach der EM regiert im ÖFB das Chaos. War es wirklich der Ärger über die Kritik? Oder das schlechte Abschneiden bei der EURO? Oder doch der hohe Blutdruck? Oder etwas völlig anderes? Josef Hickersberger hat mit seinem Rücktritt vom Doch-nicht-Rücktritt eine äußerst seltsame Art gewählt, seine Tätigkeit als Nationaltrainer zu beenden.
Gleichzeitig beleidigt, sentimental und frustriert saß er bei seiner letzten Pressekonferenz als Teamchef und teilte noch einmal aus: „Wenn ich die fachliche Qualifikation nicht habe, müssts in Österreich aber lange schauen, dass ihr einen findet.“ Ganz ähnlich hatte sich seinerzeit Hans Krankl geäußert. Am Schluss sind die Herrschaften offenbar immer sauer.
ÖFB-Präsident Friedrich Stickler konnte anschließend nur zugeben, dass er von Hickersberger kalt erwischt worden war und derzeit keine Alternative hat. „Wir waren ja eigentlich einig, mit ihm weiterzumachen.“ Paul Gludovatz, Nachwuchstrainer im ÖFB, versteht beide Herren nicht. „Für mich war es eine Überraschung, dass Hickersberger nach der Vorrunde auf einmal gesagt hat, er will bleiben. Dass er jetzt doch geht, wundert mich weniger.“
Ein Gutes hat dieses Durcheinander: Nach der Begeisterung über den ersten EM-Punkt der Geschichte wurden die Fans jetzt wieder in die Realität zurückgeholt. Der heimische Fußball ist und bleibt eine zutiefst chaotische Angelegenheit.
Bis Ende Juli soll ein neuer Teamchef gefunden sein. Angeblich wird diesmal auch im Ausland gefahndet. Leider gilt für das Nationalteam die gleiche Einschränkung wie für den heimischen Vereinsfußball: Internationale Koryphäen sind weder finanzierbar, noch wollen sie nach Österreich. Damit es nicht zu einfach wird, verlängerte der ÖFB den Vertrag von Andreas Herzog als Teamchef-Assistent. Er kann jetzt nur hoffen, dass der neue Boss keinen eigenen Gehilfen mitbringen will.
Der Nationaltrainer wird eine junge Mannschaft vorfinden, die wacker kämpft, viel läuft, mitunter auch recht hübsch kombiniert, aber einfach keine Tore schießt. In drei EM-Begegnungen gelang nur ein Treffer – aus einem Elfmeter. Die befürchtete Blamage blieb spielerisch zwar aus, doch das Ergebnis ist beschämend genug. Mit einem Punkt aus drei Matches ist Österreich der schlechteste EM-Gastgeber aller Zeiten.
Doch das Leben geht weiter, und es bleibt hart. Am 20. August muss die Mannschaft in einem Freundschaftsspiel gegen Italien antreten, am 6. September beginnt die Qualifikation für die WM 2010 mit einem Match gegen Frankreich.
Die positivste Überraschung dieser ­EURO waren die österreichischen Fans, die einmal mehr an das Unmögliche glauben wollten. Der kleinste Hoffnungsschimmer reichte aus, um die Massen in Begeisterung zu versetzen. So wie Österreich hat schon lange kein Land mehr ein Unentschieden seiner Nationalmannschaft gefeiert.
ÖFB-Mann Gludovatz hofft nun, dass die Euphorie anhält. Nach der WM in Deutschland habe es bei den Fußballvereinen zehn Prozent mehr Anmeldungen gegeben. Ähnliches sei auch in Österreich möglich. „Den ersten Schwung nach so einer Veranstaltung kann man mitnehmen.“ Vielleicht findet sich ja in der nächsten Generation ein richtiger Stürmer.

Fans All inclusive: Die Upper-Classierung der EM.

Die Chance auf ein Ticket stand für jeden Fan gleich schlecht. Fast so schlecht wie jene Österreichs auf einen Europameister-Titel. Die Quote für den Durchschnittsfan lag bei 1:25. Insgesamt 8,7 Millionen Menschen bewarben sich um 330.000 Tickets. Ob alle 16 nationalen Fußballverbände ihre insgesamt 38 Prozent der Eintrittskarten – wie angeblich Österreich – auch 1:1 an die Fans weitergaben, entzieht sich der Überprüfbarkeit.
Doch nicht alle Fans sind gleich. Der Trend zur Upper-Classierung setzte sich auch bei dieser EM fort. Einfache Arbeiter, die das Jahr über als Aficionados bei ihrem Heimverein die Tribünen füllen, teilten sich gerade mal 2700 Karten aus einem ÖFB-Kontingent für die 31 Spiele. Wer sein Geld in sozial höher stehenden Jobs verdient, hat auch künftig bessere Chancen auf ein Live-Ticket: Gut 22 ­Prozent bzw. 220.000 Tickets konnten Sponsoren und Kooperationspartner an Geschäftsfreunde und leitende Angestellte verteilen – oder ihre wichtigen Kunden mit einem Rundum-Luxuspaket erfreuen. Welt- und Europameisterschaften als Tummelplatz für Schönwetterfans: Dass die Ticketquote für Millionensponsoren künftig sinken wird, ist nicht anzunehmen.
Für die ticketlosen Tage konnte sich die bessere Fußballgesellschaft in den Sky-Boxen am Wiener Rathausplatz übers Fanfußvolk erheben. Promi-Refugien wie jenes der Telekom im Wiener Burgtheater, wo bei künstlerischem und kulinarischem Rahmenprogramm den Kickern auf der Leinwand zugeprostet wurde, sind zwar nicht für den Kleinkunden gedacht, von diesem aber bezahlt. Immerhin 19 Spieltage à 600 All-inclusive-Buffet-Gäste werden unter einer halben Million Euro nicht zu machen sein. Über die Miete, die an eine SP-nahe Stadt-Wien-Tochter fließt, lässt sich im Millionen-Nahbereich ebenfalls nur munkeln. Was das alles wirklich kostete? „Das sagen wir nicht“, sagt die Telekom-Sprecherin.

Image: Die Russen in Leogang

Österreich wird noch lange von der EM profitieren.
Ein großes Vorbild kann manchmal ganz schön belastend sein. Die WM 2006 in Deutschland war in jeder Hinsicht ein Ausnahmeereignis. Täglich lieferten die TV-Stationen und Fotografen Bilder von einem völlig entfesselten Land, in dem die Menschen den Fußball, das schöne Wetter und das definitive Ende der schlechten Laune feierten. Und was hatte Österreich zu bieten? „Salzburg um null Uhr dreißig ist auch an einem EM-Spieltag eine tote Stadt. Gute Nacht, Euro!“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Mitte Juni. Der „Tagesspiegel“ nörgelte vor ein paar Tagen über die Wiener Fanzone: „Was sich in Berlin noch neu und aufregend als Mischung aus Volksfest und Stehplatztribüne inszenierte, ist in Wien nur noch dessen groteske Karikatur.“
So schlimm war es wirklich nicht, die Kollegen müssen besonders üble Tage erwischt haben. Manchmal, ziemlich oft sogar, geriet die EM auch in Österreich zum ausgelassenen Fest. Das Problem bestand hauptsächlich in den unterschiedlichen Landesklischees: Feiernde Österreicher waren für die Welt keine Überraschung, übermütige Deutsche sehr wohl.
Sogar die Deutschen selbst wunderten sich vor zwei Jahren über ihre Fähigkeiten als Partykaiser. Die Fußball-WM bot ihnen die Möglichkeit, sich einmal viel weniger ernsthaft und solide zu präsentieren, als man sie vorher kannte. Österreich hatte eine Imagekorrektur in diese Richtung nicht nötig, die EURO wird am Bild des Landes deshalb wenig ändern.
Trotzdem wird der Tourismus noch lange von diesem Großereignis zehren. In Salzburg etwa wurde erhoben, dass rund 70.000 Menschen wegen der EM zum ers­ten Mal ins Land kamen. Unerwartet zum Anziehungspunkt wurde die Gemeinde Leogang, in der das russische Nationalteam einquartiert war. Die verdutzten Einheimischen zählten etwa 700 Journalisten – die nicht nur über ihre Kicker, sondern auch über Land und Leute berichteten.
Die vor den Spielen gesendeten Stadtporträts waren für die Austragungsorte buchstäblich unbezahlbar. Zur besten Sendezeit und vor hunderten Millionen Fernsehzusehern auf der ganzen Welt konnten sich Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt und Wien von ihren sonnigsten Seiten präsentieren. Der Klagenfurter Bürgermeister Harald Scheucher ließ ausrechnen, wie lange das Stadtlogo samt Schriftzug im Bild war. Erfreuliches Ergebnis: 23 Minuten und 42 Sekunden. „Stellen Sie sich vor, das müsste bezahlt werden“, jubelt Scheucher.
Allein in Wien hatten sich über 2000 Journalisten akkreditiert. Die TV-Sender rückten brav alle Sehenswürdigkeiten ins Bild; Al Jazeera etwa berichtete mit Blick auf die Hofburg. Die Luftaufnahmen der Innenstadt erstaunten sogar die Wiener: So schön ist es hier? Der Werbewert des gesamten Events sei realistisch gar nicht zu berechnen, sagt Eleonore Gudmundsson von der Österreich Werbung. „Er ginge sicher in die Milliarden Euro.“
Österreich wird vermutlich nie mehr eine Fußball-EM austragen. Dennoch hat das Land in den letzten drei Wochen etwas gelernt, das sich auch in Zukunft verwerten lässt: Es kommt selten so schlimm, wie Ursula Stenzel und Kollegen behaupten. Die Fans waren friedlich und gut aufgelegt, das Verkehrschaos blieb aus, die Organisation funktionierte. Und sogar die Bäume in den Fanmeilen stehen noch.
Die EM hat Spaß gemacht. Schade, dass sie vorbei ist.

Zukunft: Der Nächste, bitte!

Wie steht es um die kommenden Turniere?
Nach dem Turnier ist, wie jeder weiß, auch vor dem Turnier, in diesem Fall: vor der Fußball-WM 2010 in Südafrika. Nach den Unruhen vom vergangenen Mai waren Bedenken aufgetaucht, dass die Zeit wohl doch noch nicht reif sei für eine WM in Afrika. Die Sorge dürfte unbegründet sein. Die FIFA sieht derzeit jedenfalls keine Veranlassung, über allfällige Ersatzveranstalter zu spekulieren (wie es ihr Präsident Joseph Blatter im Vorjahr getan hatte). Die Errichtung der WM-Stadien, die im Herbst noch von einem Bauarbeiterstreik bedroht waren, liegt sogar über dem Zeitplan. Und was die sozialen Spannungen betrifft, gibt sich Wilfried Lemke, UN-Sonderberater für Sport und Entwicklung, optimistisch: „Ich war erst vor wenigen Tagen dort und habe den Eindruck gewonnen, dass die Weltmeisterschaft einen entscheidenden Effekt auf das ganze Land haben kann. So wie die Deutschen bei der WM 2006 ihr Selbstwertgefühl entdeckt haben, so kann auch Südafrika durch den Fußball endlich zu einer Nation zusammenwachsen.“
Wesentlich kritischer ist es im Moment um die nächste EURO bestellt, die 2012 in Polen und der Ukraine stattfinden soll. In der Vorwoche kündigte die ukrainische Regierung den Vertrag mit jener Baufirma, die das Finalstadion in Kiew adaptieren sollte. Außerdem fehlen nach jüngsten Schätzungen knapp 18 Milliarden Euro, um die marode Infrastruktur in der Ukraine EURO-reif zu machen. Ob dieser Betrag, wie es die ukrainischen Behörden erhoffen, mehrheitlich von ausländischen ­Investoren aufgebracht wird, darf zumindest bezweifelt werden.
Der polnische Fußballverband wiederum wird derzeit von einem heftigen Korruptionsskandal erschüttert, in den laut dem polnischen Justizministerium bis zu 29 Mannschaften verwickelt sind. Die ­UEFA will Gerüchte über eine Exit-Strategie im Moment dennoch nicht kommentieren. Präsident Michel Platini reist in den nächsten Tagen nach Polen und in die Ukraine, um sich ein Bild vom Organisationsstand zu machen und danach über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Sicherheitshalber haben die zuständigen Auguren (sprich: Boulevardjournalisten) zuletzt auch schon einen potenziellen Ersatzveranstalter ausgemacht: Österreich und die Schweiz. Wie gesagt: Nach dem Turnier ist nun einmal vor dem Turnier.

Von Josef Barth, Sebastian Hofer und Rosemarie Schwaiger