Trockengebiete

Asexualität als Reaktion auf den medialen Dauerporno

Lebenskonzept. Asexualität als Reaktion auf den medialen Dauerporno

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Wie ein übrig gebliebener Blaustrumpf wirkt Sophie Fontanel nicht. Im Gegenteil: Soignierte Silhouette, hohe Hacken, das Make-up sitzt, ihre Gesten und ihr Auftreten signalisieren Selbstbewusstsein und Souveränität. Bekannt wurde die 51-jährige Madame Fontanel in Frankreich wegen ihrer Romane und ­ihrem täglichen Blog auf der Online-Site des Frauenmagazins „Elle“; zu einer nationalen Berühmtheit avancierte sie jedoch deswegen, weil sie keinen Sex hat. Das klingt paradox, noch dazu in einer erotomanen Nation wie Frankreich. Ebenso paradox mutet der Titel ihres Buches an, in dem sie über ihr sexuell abstinentes Leben berichtet und dessen psychohygienischen Vorteile preist: „L’Envie“, zu deutsch „Das Verlangen“. Fontanels Geständnis-Literatur, die inzwischen auch in der deutschen und englischen Übersetzung vorliegt, wurde 2011 in Frankreich zu einem Überraschungs-Bestseller. Als „Madame Abstinence“ tourte die Mode-Redakteurin in Folge durch sämtliche Talkshows des Landes und erklärte den meist mit mildem Spott lächelnden Moderatoren, dass „es viel schöner und erfüllender ist, keinen als schlechten Sex zu haben“ und sie durch diese Lebensform eine „neue Form der Freiheit“ gefunden habe.
Klar, dass eine solche Ansage auch einen Schwall von Diffamierungen nach sich zog. Fontanel musste sich als „frigide“, „verbittert“, „abnormal“ und „hochneurotisch“ beschimpfen lassen; die Männer in den „Caviar gauche“-Kreisen, wie in Paris die linksliberale Schickeria bezeichnet wird, nahmen sie auf Partys zur Seite und fragten sie, ob sie eigentlich noch ganz dicht sei.

„Das weckte den Neandertaler in ihnen. Sie hatten Angst, dass ihre Frauen es mir nachtun würden“, erzählt Fontanel. „Aber es gab auch hunderte Mails, wo sich sowohl Männer als auch Frauen bei mir bedankten, weil sie sich jetzt nicht mehr als Versager fühlen müssten.“

Fontanels Tabubruch kam mit Sickerwirkung in der französischen Gesellschaft an. Das März-Titelblatt des elitären Magazins „Philosophie“ zierte ein Häschen und die Coverzeile „Ist der Sex wirklich so wichtig, wie man bisher angenommen hat?“ Darunter war zu lesen: „Warum Freud ganz gründlich zu überprüfen ist.“

Eine repräsentative Meinungsumfrage zur Bedeutung von Sexualität brachte im Blattinneren ein erstaunliches Ergebnis: Siebzig Prozent der Befragten erklärten, dass es durchaus wichtigere Dinge in ihrem Leben gäbe, als ein Sexualleben.

„Wir leben in einer Kickgesellschaft"
Relevantes statistisches Zahlenmaterial über jene Menschen, die bewusst sexuell abstinent leben, existiert nicht. Doch auch Umfragen über die sexuellen Verhaltensmuster einer Gesellschaft, die sich im ständigen medialen Torpedofeuer von „Porno Chic“, Online-Perversionen, „Shades of Grey“-Märchen und intimer Promibekenntnisse befindet, geben nur ein verzerrtes Bild der Realität wieder. Nirgendwo wird bekanntlich so inbrünstig gelogen wie bei den Themen Geld und Sex. Dass jeder fünfte Österreicher täglich Sex hat, und jedes Paar mindest einmal pro Woche miteinander verkehrt, wie das Hamburger Institut „Trend Research“ 2012 erhob, steht im Widerspruch zu der Diagnose, die Paar- und Sexualtherapeuten über ihre wachsende Klientel geben. Libidoverlust und sexuelle Störungen nehmen ständig zu. Und nicht nur bei Frauen jenseits des Klimakteriums und Männern mit Prostataproblematiken, auch unter jungen Lebensteilnehmern macht sich das Phänomen der Lustlosigkeit breit. Die Wiener Sexualtherapeutin Elia Bragagna registrierte in den vergangenen Jahren ein deutliches Ansteigen von Potenzstörungen unter männlichen Twenty-Some­things: „Da stehen junge hübsche Männer in meiner Praxis, die eigentlich kein Problem haben dürften, eine Sexualpartnerin zu finden. Und dennoch leiden sie an sexuellen Störungen.“
Als Ursache für diese Tendenz diagnostiziert Bragagna den inflationären Umgang mit Sexualität: „Wir leben in einer Kickgesellschaft, ein aktives Sexualleben gehört dazu. Um dem zu entsprechen, gehen diese jungen Männer häufig mit Frauen ins Bett – obwohl ihre Körper das eigentlich gar nicht wollen.“

Der Titel, den die fünfzehnjährige deutsche Gymnasiastin Katharina Weiß für ihr Buch über die sexuellen Befindlichkeiten von Pubertierenden gewählt hat, klingt bitter-ironisch: „Generation geil“. „Mädchen meines Alters sind häufig überfordert davon, wie Sexualität in den ­Medien dargestellt wird“, seufzt die Autorin, „sie denken, sie müssten dauerspitz sein und alles schon einmal ausprobiert haben.“ Bei ihren Recherchen war sie auf keinen einzigen Teenager gestoßen, der behauptet hätte, „er brauche guten Sex, um auch ein gutes Leben zu führen“.

„Nichts, aber auch gar nichts fehlt“
Es existieren aber auch solche, die gar keinen Sex brauchen, um ein gutes Leben zu führen. Sie fühlen sich weder krank, noch gestört, noch vom Leben benachteiligt, da ihnen, wie es auf dem deutschen Online-Forum AVEN („Asexuality Visibility And Education Network“) häufig heißt, „nichts, aber auch gar nichts fehlt“. Ihre Entscheidung zu dieser Lebensform ist weder an moralische noch an ideologische Wertvorstellungen geknüpft, sie empfinden schlichtweg keine körperliche Lust und sexuelle Anziehung.
Die Ursachen für ein still gelegtes Triebleben können vielfältig sein: Hormonelle Störungen, organische Defekte, Stoffwechselerkrankungen, Stress, traumatische Erlebnisse, depressive Verstimmungen, aber auch jede Form von Missbrauch. Dass Asexualität als Zustand und nicht als Krankheit zu klassifizieren ist, hängt von der Absenz eines Leidensdrucks bei den Betroffenen ab.

„Es ist nicht so, dass ich einen anderen Menschen nicht als ästhetisch empfinde“, erklärt ein Mitglied, „aber ich begehre ihn nicht. Es ist für mich genauso, als ob ich ein schönes Gemälde oder einen prachtvollen Sonnenaufgang betrachte.“
Eine junge Frau betrachtet ihre Nicht-Neigung durchaus selbstironisch: „Sex ist für mich wie Algebra – ich verstehe das Konzept, aber es interessiert mich überhaupt nicht.“
Unter den „AVENers“ gilt Robert Pattinsons junger Film-Vampir als Idol, denn schließlich übt er sich in „Twilight“ aus Liebe zu Kristen Stewart in sexueller Entsagung.

Rund 2500 Mitglieder sind bei AVEN registriert, davon, so Dirk Walter, Öffentlichkeitssprecher des Forums, „geschätzte zweihundert Österreicher, wobei das Gros davon Wien als Wohnort angegeben hat.“
Die 35-jährige Berliner Angestellte Kati Radloff, Gründungsmitglied von AVEN und seit geraumer Zeit mediales Postergirl der organisierten Asexuellen, zeigt auch, dass ein Leben ohne Sex und eine glückliche Beziehung kein Widerspruch sein müssen. Sie ist seit drei Jahren mit einem Österreicher liiert, der nicht ihrer sexuellen Orientierung zu zuordnen ist. Es funktioniere trotzdem, erklärte sie dem Magazin „Woman“: „Wir haben Wege gefunden, dass er nicht auf seine sexuelle Befriedigung verzichten und ich auch nicht die Grenzen meiner Asexualität überschreiten muss.“
Rund ein Prozent der Weltbevölkerung lebt gänzlich ohne sexuelles Verlangen, so der kanadische Psychologe Anthony Bogaert, der mehrere Studien 2001 unter diesem Gesichtspunkt erstmals auswertete. Diese Statistik beinhaltet nicht jene Menschen, die an ihrem Libidoverlust und an krankheitsbedingten sexuellen Störungen leiden. Spätere Studien an der Universität von British Columbia zeigten auch die Schattenseiten dieses Zustands: Siebzig Prozent der bewusst enthaltsam Lebenden ziehen sich auch sukzessive aus dem sozialen Leben zurück.

Der renommierte deutsche Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch sieht in dem Phänomen neben der hetero-, homo- und bisexuellen Ausrichtung die ernst zu nehmende „vierte Orientierung“, die in der früheren Sexualforschung „einfach ignoriert wurde“: Zwar hatte der Psychiater Richard Krafft-Ebing Asexualität bereits 1886 in der „Psychopathia sexualis“ erwähnt, doch weiters beschäftigte sich die Wissenschaft nicht mit den Lustlosen. Die Betroffenen – soweit sie nicht zu den zölibatär Lebenden gehörten – suchten die Schuld bei sich selbst oder in der Beziehung, in der sie sich befanden. Der Zustand der Asexualität war im vergangenen Jahrhundert vor allem den Frauen vorbehalten, die Hauptopfer einer repressiven Sexualmoral waren und bei fehlendem Lustempfinden unter dem Begriff „frigide“ abgestempelt wurden.

Sigmund Freud beobachtete, dass „meine Glückstiere“, wie er seine Patientinnen nannte, häufig in ein hysterisches „Privattheater“ flüchteten, um den sexuellen Pflichten an ihren oftmals lieblosen Ehemännern zu entgehen.

Sex als Belastung
Heute sieht Sigusch die Tendenz zu einer selbstbewussten Abstinenz als Nebengeräusch der „neosexuellen Revolution“: „Das ständige Glücksversprechen durch Sexualität kann auch zu einer Belastung werden. Die Menschen versuchen es durch andere Erregungen zu ersetzen.“
Neu ist also nicht das Phänomen, das auch ­Alfred Kinsey in seinen Sex-Reports in den fünfziger Jahren analysierte, neu ist nur der schamfreie Umgang damit. „Es dauerte lange, bis ich aufhörte, mysteriöse Liebhaber zu erfinden, weil ich mich für mein sexfreies Leben geniert hatte“, gestand Frankreichs Vorzeige-Abstinente Sofie Fontanel dem britischen ­„Guardian“.
Freud, der den Sexualtrieb als das Fundament aller seiner Theorien postulierte und dabei wie an einem Glaubensbekenntnis festhielt, litt selbst „an einer sexuellen Malaise“: Nach der Geburt von sechs Kindern soll, laut einhelliger Meinungen der meisten Biografen, das Liebesleben zwischen seiner Frau Martha und ihrem „teuren Oberhaupt“ zum Stillstand gekommen sein. Im Alter von 41 Jahren notierte Freud, dem auch nie ein Seitensprung nachgewiesen werden konnte: „Befriedigenden Sexualverkehr in der Ehe gibt es nur durch einige Jahre … Dann versagt die Ehe, insofern sie die Befriedigung sexueller Bedürfnisse versprach.“ Freuds manische Produktivität und sein forscherisches „Conquistatorentemperament“ sind der ungewollte Beweis für seine Sublimierungs-Theorie.

„Eine wichtige Voraussetzung, auch ohne Sex glücklich leben zu können“, so die österreichische Psychoanalytikerin Eva Jaeggi, „ist die Fähigkeit, die Energie natürlicher Triebe ohne Ressentiments in sozial wertvolle und sinnstiftende Tätigkeiten überführen zu können.“

Die Liste weltbewegender Persönlichkeiten, die gänzlich oder zumindest über lange Zeit ein abstinentes Leben führten, erweist sich als illuster. Der Physiker Isaac Newton zog die Einsamkeit der Wissenschaft jeglicher sexuellen Begegnung vor. Er war angeblich einmal heißblütig verliebt gewesen, wurde aber von seiner Angebeteten nicht erhört. Der dänische Nationaldichter Hans Christian Andersen brach Ende des 19. Jahrhunderts ein Tabu, als er sich öffentlich zum Fehlen seiner Libido bekannte: „Es ist ein Widerwillen gegen diese Dinge in mir, gegen die sich meine Seele so sträubt!“ Kaiserin Sisi, der fälschlicherweise eine Liebesbeziehung zu einem ungarischen Grafen nachgesagt wurde, lebte nach der Geburt ihrer drei Kinder ohne „diese widersinnige Einrichtung“ und stellte dem Kaiser seine spätere Maitresse Katharina Schratt persönlich vor. Dagmar Koller entfachte 2004 eine medialen Theaterdonner, in dem sie der „Bild“-Zeitung erklärte, mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann Helmut Zilk schon elf Jahre lang keinen Sex gehabt zu haben.

Die Britin Liz Hodgkinson, die Mitte der achtziger Jahre mit ihrem Anti-Sex-Pamphlet „Sex Is Not Compulsory“ die Übersexualisierung zur Verantwortung für steigende Depressions- und Scheidungsraten zog, führt auch George Bernhard Shaw, Botticelli, Gandhi, Cliff Richard und Virginia Woolf als triebverweigernde Prominenz an, wobei letztere kein strahlendes Beispiel für ihre These stellt: Woolf litt an Depressionen und ertränkte sich 1941 in einem Fluss nahe ihres Wohnhauses.

Ein Pionier der No-sex-Bewegung war in den triebversessenen sechziger Jahren der Pop-Art-Künstler Andy Warhol, der Sex als „das größte von allen Nichtsen“ bezeichnete. In seiner Autobiographie schrieb der abstinent lebende Warhol: „Meine sexuellen Leidenschaften haben mich soviel Energie gekostet, die sie alle nicht wert waren.“

Selbst eines der größten Sexsymbole des 20. Jahrhunderts verabschiedete sich immer wieder in die sexuelle Askese, um dann allerdings wieder voll Lust auf Leidenschaft die Bühne zu betreten. Als der Schriftsteller Erich Maria Remarque Marlene Dietrich nach einer durchflirteten Nacht am Lido von Venedig gestand, dass er impotent sei, flötete sie nur: „Ach, wie wunderschön!“ Dietrich brauchte das Gezeitensystem von Ekstase und Abstinenz, „um mich bei Appetit zu halten.“

Möglicherweise ist das ein Konzept, das in der Paartherapie bei sexuellem Stillstand wirksam zum Einsatz gebracht werden könnte.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort