Atemlos am Everest

'Atemlos am Everest': Der spektakulärste Gipfelsieg der Geschichte

Der spektakulärste Gipfelsieg der Geschichte

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Am 8. Mai wird sich eine kleine Runde älterer Herren zu einem illus­tren Fest der nostalgischen Art treffen. Die rüstigen Senioren, einige bereits mit angegrauten Schläfen und ein paar zusätzlichen Kilos um die Hüften, werden edle Südtiroler Weine aus besten Lagen und den einen oder anderen lange gelagerten Hochprozentigen schlürfen und sich auch beim Essen keinen Zwang antun. Vor allem aber werden sie in Erinnerungen schwelgen über die dramatischsten Wochen, Tage und Stunden ihres Lebens, als sie ein Stück Alpingeschichte schrieben, am höchsten Berg der Welt. Vor genau 30 Jahren, am 8. Mai 1978 um 13.15 Uhr Ortszeit, standen zwei von ihnen, der Südtiroler Reinhold Messner, damals 34, und der Österreicher Peter Habeler, 36, auf dem Gipfel des Mount Everest: als erste Menschen ohne Hilfe von künstlichem Sauerstoff.

Die Sensation war perfekt. Kein anerkannter Fachmann hatte diese Leistung für möglich gehalten. Der Schweizer Arzt und Himalaya-Bergsteiger Edouard Wyss-Dunant hatte für den Bereich über 7500 Metern den Begriff „Todeszone“ geprägt, und andere Höhenphysiologen vertraten den Standpunkt, dass ein längerer Aufenthalt in dieser Höhe, wie er für die Erreichung des 8848 Meter hohen Everest-Gipfels notwendig erschien, entweder zum Tod oder zumindest zu gravierenden Gehirnschäden führen würde. Reinhold Messner hingegen war anderer Meinung. Er hatte die Geschichte der Expeditionen genau studiert und glaubte, dass das, was die Briten in den zwanziger und dreißiger Jahren ohne den damals noch nicht erfundenen künstlichen Sauerstoff fast erreicht hätten, mit moderner Ausrüstung, verbesserter Klettertechnik und intensivem physischem und mentalem Training zu schaffen war.

Der Ausnahmebergsteiger, der zuvor schon mehrere Achttausender, darunter den Nanga Parbat, den Manaslu und den Hidden Peak, bestiegen hatte, wollte unbedingt auf den höchsten Punkt der Erde, und zwar so, wie er alle seine bisherigen Ziele erreicht hatte: „by fair means“, mit fairen Mitteln, was, auf den Everest bezogen, bedeutete: ohne künstlichen Sauerstoff. Schon mit 21 Jahren hatte Messner einschlägig Position bezogen: „Wenn ich eine Maschine zwischen mich und den Berg schalte, kann ich keine wesentlichen Erfahrungen machen“, schrieb er 1965 in der Bergsteigerzeitschrift „Alpinismus“ (heute „Alpin“). Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ reagierte pathetisch: „Reinhold Messner hat die Entwicklung der Technik gestoppt, auf dass der Mensch sich weiterentwickeln kann.“

Schnelligkeit ist Sicherheit. Als für Reinhold Messner feststand, dass eine Everest-Besteigung „ohne Maske“ machbar war, hatte er den geeigneten Partner für das riskante Unternehmen bereits gefunden. Es war Peter Habeler aus Mayrhofen im Zillertal, der über ähnliche Ambitionen und ähnliches technisches Können verfügte wie der Südtiroler aus dem Villnösstal. Die beiden hatten sich Mitte der sechziger Jahre kennen gelernt und gemeinsam etwa die Eigernordwand in Rekordzeit und die ungemein schwierige Ostwand des über 6000 Meter hohen Yerupaja in den Anden bezwungen. Ein weiteres Meisterstück war 1975 die Besteigung des Hidden Peak (8068 Meter) im Karakorum. Als reines Zweimannunternehmen im Westalpenstil, mit einem Minimum an Ausrüstung, ohne künstlichen Sauerstoff, setzte es neue Maßstäbe für Himalaya-Expeditionen. Auf dem Rückflug nach Europa prosteten die zwei einander übermütig zu: „Auf den ­Mount Everest.“ Messners und Habelers Partnerschaft war in gleicher Weise von Übereinstimmungen wie von Gegensätzen geprägt. Sie waren beide sehr schnell und wussten, dass diese Schnelligkeit ihre beste Sicherheitsgarantie war. Und sie wagten nichts, von dem sie nicht überzeugt waren, dass sie es schaffen würden. Ein Jahr vor der Everest-Besteigung brachen sie eine geplante Erstdurchsteigung der Dhaulagiri-Südwand ab, weil diese ihnen angesichts der Lawinensituation zu riskant erschien. Gerade diese Erfahrung bezeichnete Habeler später als besonders wichtig für den Everest-Erfolg.

Ratio und Instinkt. Nicht weniger groß war aber auch der Unterschied zwischen den beiden Charakteren. Messner war der Rationale, Intellektuelle, Extrovertierte. Mit seinem rotzigen Spruch „Ich bin mir meine eigene Heimat, und mein Schnäuztuch ist meine Fahne“ hatte er die alten Alpenvereins-Bergsteiger gehörig verprellt. Habeler war viel einfacher gestrickt. Religiös, konservativ, blieb er stets der bodenständige Zillertaler, den es nach jeder Expedition in die heimatlichen Berghütten zurück und keineswegs ins große Scheinwerferlicht zog. Intuitiv, dem Gefühl vertrauend, hatte er einen Spürsinn für alles Atmosphärische, einen Instinkt für Wettersituationen, dem Messner blind vertrauen konnte.

Außerhalb ihrer Bergleidenschaft zeigten die beiden wenig Gemeinsames, sie sprachen kaum über Privates, trainierten mehr allein als zusammen, im Anstieg zum Everest-Basislager sogar oft in gespieltem Wettkampf. Auch bei ihren Unternehmungen sprachen sie wenig, waren aber auf einer gleichen Wellenlänge, die beide als fast metaphysisch beschrieben. Messner über eine Situation am Hidden Peak: „Wir unterhielten uns miteinander, ohne zu reden.“ Und Habeler: „Ich habe lange Unterhaltungen im Ohr, die wir während des Everest-Gipfelsturms führten, Satz für Satz, und dennoch haben wir so gut wie kein Wort miteinander gewechselt.“

Als nach dem Hidden Peak für Mess­ner wie Habeler feststand, dass sie gemeinsam auf den Everest wollten, ging es darum, eine Besteigungsgenehmigung zu erhalten. Everest-Permits, welche die nepalesische Regierung vergab, waren damals auf zehn Jahre vergeben. Die einzige Möglichkeit: sich in eine genehmigte Expedition einzukaufen.
Dabei hatten die zwei großes Glück. Für 1978 hatte der Österreichische Alpenverein das Permit für eine Everest-Besteigung erhalten. Expeditionsleiter war Wolfgang Nairz, ein Innsbrucker Geograf, ­Drachenflieger und erfahrener Leistungsbergsteiger, der mit Expeditionen zu den Achttausendern Manaslu und Makalu zum Expeditionsleiter gereift war. An beiden Unternehmungen hatte Messner teilgenommen, wie überhaupt das österreichische Everest-Team von 1978 ein freundschaftlich verbundener Haufen war.

Alleingang und Drachenflug. Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, dass die aufwändige Expedition mit 350 Trägern, 130 Sherpas und acht Tonnen Ausrüstung die bis dahin nicht nur aus österreichischer Sicht erfolgreichste am Mount Everest wurde. Bei keiner früheren standen mehr (nämlich insgesamt neun) Bergsteiger am Gipfel, darunter mit Wolfgang Nairz, Horst Bergmann, Robert Schauer, Peter Habeler, Oswald Ölz und Franz Oppurg die ersten Österreicher und mit Reinhold Karl der erste Deutsche. Franz Oppurg, damals 29, Heeresbergführer aus Wattens, Tirol, war überdies der Erste, der den höchsten Punkt der Welt im Alleingang schaffte. Zum Drüberstreuen beflogen dann Nairz – heute wahrscheinlich der beste Ballonfahrer der Welt – und Horst Bergmann den 1000 Meter hohen Khumbu-Eisbruch ins Basislager.

Die größte Leistung aber, derentwegen die österreichische Expedition 1978 in die Alpingeschichte einging, war die Erstbesteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff. Dafür hatten Messner und Habeler nicht unbeträchtliche Sponsorengelder in die Expedition eingebracht. Dafür bekamen sie von Nairz auch Sonderkonditionen. Im Gegensatz zu den übrigen Seilschaften konnten sie den für sie günstigsten Zeitpunkt der Besteigung selbst wählen und mussten sich nach einem Fehlversuch nicht wieder als Letzte an­stellen. Die Route war jene der Erstbesteiger Edmund Hillary und Tenzing Norgay im Jahr 1953: Khumbu-Eisbruch, Tal des Schweigens, Lhotseflanke, Südsattel, Südgipfel, Hauptgipfel. Als die gefährlichsten Abschnitte gelten der Eisbruch, der sich stündlich verändert, und ein kurzer Steilaufschwung zwischen Süd- und Hauptgipfel, der so genannte Hillary Step.

Wichtig war, dass beide Expeditionsärzte an das Gelingen der Besteigung ohne Sauerstoffgeräte glaubten. Der Vorarl­berger Dr. Oswald „Bulle“ Ölz vermittelte Messner und Habeler, dass die Anstrengungen zu meistern und sie das Dream Team dafür seien. Und Dr. Raimund Margreiter aus Innsbruck hatte Wochen vor der Expedition in einer Fachzeitschrift medizinisch begründet, warum er eine Besteigung des Everest ohne Sauerstoffgeräte „bei gu­ten äußeren Bedingungen und optimaler Akklimatisation für durchaus möglich“ hielt.

Akklimatisiert waren Messner und Habeler optimal. Am 15. März hatten sie mit dem einwöchigen Anstieg zum Basislager am Fuße des Khumbu-Eisbruchs auf 5340 Meter begonnen. Zum Zeitpunkt ihres ersten Gipfelversuchs am 21. April waren sie wie die übrigen Expeditionsteilnehmer fast einen Monat zwischen Höhen von 5000 und 8000 Metern auf- und abgestiegen, um die Seilversicherungen für die Sherpas zu installieren und Höhenlager aufzubauen. Trotzdem schlug der ­ers­te Versuch fehl. Im Lager III auf über 7000 Meter Höhe holte sich Peter Habeler am 23. April eine schwere Ölsardinenvergiftung. Als zudem Sturm aufkam, schaffte er nur mit letzter Kraft den Abstieg. Messner und zwei Sherpas, die Lager IV auf dem Südsattel aufbauen wollten, verbrachten zwei grauenvolle Nächte bei orkanartigen Stürmen auf über 8000 Metern, bevor sie absteigen konnten. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, aber beide wussten, dass sie nur noch einen Versuch hatten. Mehr würde ihre physische und mentale Stärke übersteigen.
Am 2. Mai setzte das „Dream Team“ zu seinem zweiten Gipfelsturm an. Inzwischen fühlten sie sich „in einer so fantastischen Form wie während der ganzen bisherigen Expedition nicht“, wie Habeler in seinem Tagebuch schrieb.

Qualen und Halluzinationen. Das Wetter war prächtig, sie ließen Lager I aus und hörten am 3. Mai im Lager II den Funkspruch, dass Nairz, Bergmann, Schauer und der Chef-Sherpa Ang Phu den Gipfel erreicht hatten. Messners und Habelers Erfolgsrezept sah vor, vom Südsattel ohne Zwischenlager auf den Gipfel zu gehen, um die Zeit in der Todeszone abzukürzen. Die Rechnung ging auf, allerdings unter größten Qualen, begleitet von Halluzinationen. „Mein Gesichtskreis war ganz eng, beschränkte sich auf das Allernotwendigs­te“, sagt Habeler. „Ich dachte nicht an den Everest, nur dass ich die nächsten fünf Meter hinter mich brachte.“ Am Gipfel heulten beide wie die Schlosshunde, machten ein paar Aufnahmen und hetzten wieder hinunter, ohne Seil, Peter Habeler auf dem Hosenboden rutschend, bis zum Südsattel.

Als die beiden, schwer gezeichnet, im Basislager ankamen, waren die ersten Reporter schon vor Ort. Und noch bevor sie die nepalesische Hauptstadt Kathmandu erreichten, tauchten, vom Everest-Erstbesteiger Tenzing Norgay ausgehend, Anschuldigungen auf, sie seien gar nicht am Gipfel gewesen oder hätten unterwegs Sauerstoffmasken benutzt. Ersteres konnte durch Fotos und ein Stück Seil, das die beiden am Gipfel zurückgelassen hatten, widerlegt werden, Letzteres durch die Überprüfung der am Weg deponierten Sauerstoffflaschen, die alle noch voll waren. Es gab auch Opfer zu beklagen: einen toten und mehrere schwer verletzte Sherpas. Und es gab Enttäuschte unter den Expeditionsteilnehmern. Ausgerechnet Raimund Margreiter, der spätere weltberühmte Innsbrucker Transplantationschirurg, der sich intensiv auf die Besteigung des Everest vorbereitet hatte, erreichte, ebenso wie seine beiden Seilpartner Helmut Hagner und Hans Schell, sein Ziel nicht. Einmal hatten sie schlechtes Wetter, dann operierte Margreiter einen verletzten Sherpa am offenen Schädel, zuletzt streikten die Träger. Nachdem ihr Obersherpa Ang Phu mit der ersten Gruppe den Gipfel erreicht hatte, ließ sein Engagement und damit auch jenes der gesamten Sherpatruppe merklich nach. Sie weigerten sich, weitere Sauerstoffflaschen auf den Südsattel zu tragen. Die Enttäuschung darüber ist bei Margreiter auch nach dreißig Jahren noch nicht restlos überwunden.

Im Rückblick war die Everest-Besteigung Messners und Habelers die medial meistbeachtete alpine Leistung aller Zeiten, der Beweis, dass jeder Punkt der Erde aus eigener Kraft erreichbar war. In der Folge gingen die Everest-Unternehmen in einen kommerziellen Expeditionstourismus über, der 1996 mit zwölf Toten innerhalb weniger Tage seinen traurigen Höhepunkt erreichte, aber deshalb nicht abflaute. Der Medienrummel nach ihrem sensationellen Erfolg ging auch an den zwei Partnern nicht spurlos vorüber. Messner stand zweifellos im Vordergrund, worauf Habeler das Buch „Der einsame Sieg“ veröffentlichte. Messner war über einige Sätze darin alles andere als erfreut und erklärte Habeler zum Opfer von dessen Ghostwriter, der ihn medienwirksam als im Schatten Messners stehend verkauft habe. Nairz schlichtete den Streit, von dem heute beide nichts mehr wissen wollen.
Bei der nostalgischen 30-Jahr-Feier am 8. Mai in Südtirol wird auch das Buch „Die wilden siebziger Jahre im Himalaya“ von Wolfgang Nairz präsentiert. Peter Habeler kann zwar nicht dabei sein, da er zu dieser Zeit das Gebiet seines größten Erfolgs besucht, um Freunde auf einen Sechstausender zu führen, aber als überlebensgroße, von einem Holzschnitzer aus dem Grödental gefertigte Skulptur wird er gemeinsam mit seinem damaligen Partner das Messner Mountain Museum in Firmian bei Bozen zieren.

Von Horst Christoph