Das Problem Anal- phabetismus im Alltag

Auslese

Mindestens 300.000 Ös- terreicher sind betroffen

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Die Wahl ist geschlagen, der Herbst da, neue Aufgaben erwarten das Land. Zum Beispiel diese hier: „Ich habe ein paar Kastanien mitgebracht. Bitte schreibt mir doch auf, was euch dazu einfällt.“ Keine kleine Herausforderung für die Schützlinge von Christine Schaffer-Reinsperger, Coach im St. Pöltener Basisbildungszentrum. Gespanntes Grübeln setzt ein in dem niedrigen, hellholzvertäfelten Raum, in dem sich an diesem Nachmittag sechs Schüler eingefunden haben. Christian Jonas starrt konzentriert auf das Buntpapier vor sich, beginnt vorsichtig zu schreiben, hört wieder auf, streicht durch, beginnt erneut, kratzt sich am Hinterkopf, kaut an seinem Filzstift, blickt verstohlen in die Runde, probiert es nochmal. Seit seiner Schulzeit schon ringt Jonas mit den Buchstaben. Er ist 34 Jahre alt und funktionaler Analphabet. Anders als so genannte primäre Analphabeten hat er zwar die Pflichtschule absolviert, Lesen und Schreiben zumindest ansatzweise auch gelernt – allerdings nicht gut genug, um im Alltag selbstständig zurechtzukommen. Amtsbesuche erledigt er nach wie vor mit seinem Vater, Arbeit hat er in einer Tageswerkstätte gefunden, sein Traumberuf, Koch, ist ihm bisher aber verwehrt geblieben: „Man hat gemeint, ich wäre dafür nicht geeignet.“

Herr Jonas repräsentiert beileibe kein Einzelschicksal: Die Unesco geht von rund 300.000 unzureichend alphabetisierten Österreichern aus, gibt aber zu bedenken, dass es auch doppelt so viele sein könnten. Valide Daten zu dieser Frage liegen nicht vor, an repräsentativen internationalen Vergleichsstudien, wie sie seit Ende der achtziger Jahre mehrfach durchgeführt wurden, hat Österreich bis dato nicht teilgenommen. Auskunft über das tatsächliche Ausmaß des Problems könnte eine geplante OECD-Studie geben, die ab 2008 nach dem PISA-Modell die Grundkompetenzen der erwachsenen Bevölkerung testen soll. Ob Österreich an dieser Studie teilnimmt, wird Mitte 2007 entschieden, erste Ergebnisse könnten ab 2010 vorliegen.

Problemfälle. Fest steht jedoch, dass Analphabetismus, wie er in den Industriestaaten nach Jahrzehnten, zum Teil auch Jahrhunderten der allgemeinen Schulpflicht längst überwunden schien, nach wie vor ein Problem darstellt. Die zwischen 1995 und 1998 in zwanzig Staaten (darunter Deutschland, Schweiz, Finnland, USA, Ungarn und Großbritannien) durchgeführte Unesco-Studie International Adult Literacy Survey kam zu dem Resultat, dass auch in den industrialisierten Staaten acht bis 15 Prozent der Bevölkerung nicht ausreichend lesen und schreiben können. Auf Österreich umgerechnet, entspräche das zwischen 650.000 und 1,2 Millionen Betroffenen. Mit ähnlichen Dimensionen rechnet auch das Europäische Parlament. In einer Entschließung vom Februar 2002 gab es zu bedenken, „dass zwischen zehn und 20 Prozent der Bevölkerung in der Union unfähig sind, die für das Funktionieren in der Gesellschaft und das Erreichen ihrer Ziele erforderlichen Drucksachen und Schriftstücke zu verstehen und zu verwenden“. Und damit sind beileibe nicht nur Steuererklärungen gemeint. Sondern, zum Beispiel, auch Busfahrpläne, Beipackzettel oder Speisekarten.

Johannes H., 41, funktionaler Analphabet, findet ein treffendes Bild dafür, wie die Welt einem Menschen erscheint, der Buchstaben zwar entziffern, aber keinem konkreten Sinn zuordnen kann: „Es ist, als würde man einen englischen Film ansehen und die Sprache nicht verstehen. Man sieht zwar alles, aber man versteht den Inhalt nicht.“ Analphabeten leben wie im falschen Film, der Alltag wird zum Täuschungsmanöver: „Man wird zum Schauspieler. Manchmal hat man Glück, an die richtigen Leute zu geraten, die einem auch helfen. Aber man ist immer abhängig.“ Nicht erst einmal hat Johannes H. das Pech gehabt, an die falschen Leute zu geraten, wurde bei Vertragsverhandlungen übervorteilt oder auf Ämtern schikaniert.

„Die Leute fühlen sich wertlos und dumm. Die Scham ist unendlich groß. Deshalb versuchen sie, sich in Räumen zu bewegen, in denen es keine Schriftlichkeit gibt“, erklärt Sonja Muckenhuber, Erwachsenenbildnerin an der Volkshochschule Linz. „Aber diese Räume sind sehr klein.“ Und sie werden immer kleiner. Berufe, in denen man sich notfalls auch ohne großes schreiberisches Talent durchschlagen konnte, sterben aus. 1971 waren in Österreich 1,6 Millionen Menschen beschäftigt, die bloß einen Pflichtschulabschluss vorweisen konnten. Dreißig Jahre später waren es noch 900.000. Aber auch Hilfsarbeitern werden inzwischen zumindest grundlegende Computerkompetenzen abverlangt.

Chinesisches Kreuzworträtsel. So wie Rudolf, 58, der gerade einen Alphabetisierungskurs in Salzburg besucht. Neunzehn Jahre lang war er als Forstarbeiter angestellt. Dann meinte sein Arbeitgeber, dass es besser wäre, Selbstständige zu beschäftigen. Rudolf, der nach der Volksschule am elterlichen Bauernhof arbeiten musste und nie wirklich Lesen und Schreiben gelernt hat („Bei uns in der Schule wurden die, die nicht mitgekommen sind, einfach nicht mehr gefragt“), musste ein Gewerbe anmelden und sich an den Gedanken gewöhnen, in Zukunft Anbote und Honorarnoten zu schreiben. Wer schon einmal versucht hat, ein chinesisches Kreuzworträtsel auszufüllen, kann sich vorstellen, wie sich der 58-Jährige dabei gefühlt haben mag.

Aber auch damit ist er irgendwie zurechtgekommen. So, wie die meisten funktionalen Analphabeten zurechtkommen. Ziemlich kreativ nämlich und meistens sehr gewitzt. Denn manchmal passen die traditionellen Ausreden (Brille vergessen, Hand verstaucht) eben wirklich nicht. Die meisten Betroffenen prägen sich wichtige Wörter bildlich ein, um sie im Notfall parat zu haben und in dem Meer aus unverständlichen Zeichen, aus dem die Welt für sie besteht, nicht unterzugehen. Manchen gelingt es auch, Schwächen durch Stärken zu kompensieren. Zum Beispiel Hermann, Kursteilnehmer in Salzburg: „Ich war im Lauf meiner Karriere bei drei Firmen angestellt, obwohl ich nicht einmal einen Hauptschulabschluss habe. Meine Arbeitgeber haben das nie mitbekommen, weil ich es immer auf meine Art wettgemacht habe.“ Denn Hermann kann, wie er sagt, gut mit Menschen und schlägt als Verkäufer seine schreibenden Kollegen um Längen. Aber das Leben bringt immer neue Anforderungen. SMS-Schreiben kann er, dank Kursbesuch, zwar schon einigermaßen. Noch scheitert er jedoch an der Aufgabe, korrekte E-Mails zu verfassen.

Der Komplex „funktionaler Analphabetismus“ ist ständig im Wandel. Galt zur vorletzten Jahrhundertwende noch ausreichend alphabetisiert, wer den eigenen Namen einigermaßen fehlerfrei schreiben konnte, stellt der Alltag in der durchmedialisierten Welt völlig andere Ansprüche. Auch deshalb ist der Begriff des „funktionalen Analphabetismus“ so schwer zu fassen. Die Grenze zu Menschen, deren Rechtschreibkenntnisse derart katastrophal sind, dass sie tunlichst jedes Schriftstück meiden, die ansonsten aber durchaus alltagsbegabt sind, verläuft fließend. Als funktionaler Analphabet gilt, grob gesagt, wer unfähig ist, Schrift im Alltag so zu verstehen und zu gebrauchen, wie es in seinem sozialen Umfeld als selbstverständlich angesehen wird. Funktionaler Analphabetismus ist damit eine relative Größe, abhängig davon, was gemeinhin als selbstverständlich gilt.

Im Verborgenen. Kein Wunder, dass es bis in die siebziger Jahre dauerte, bis das Phänomen bemerkt wurde. Bis dahin hatte man im Vertrauen auf die automatische Alphabetisierungsfunktion der Schule angenommen, dass Analphabetismus der Vergangenheit angehöre. Dieses Vertrauen war nicht überall gerechtfertigt. „Die Schule hat es immer gegeben. Man hat nur nie überprüft, welche Ergebnisse sie produziert“, meint die Generalsekretärin der Österreichischen Unesco-Kommission, Gabriele Eschig (siehe Interview). Doch als die gesellschaftlich üblichen Standards stiegen, begannen all jene Probleme zu bekommen, die sich bis dahin noch trickreich und im Verborgenen mit ihren Schwächen arrangiert hatten.

Schulversagen. Wie kann es also dazu kommen, dass in einem entwickelten Wohlstandsstaat, einem Land, das alle Kinder für mindestens neun Jahre in die Schule schickt, in dem seit immerhin 230 Jahren Schulpflicht herrscht, das Entwicklungslandproblem Analphabetismus überhaupt noch eine Rolle spielt – und obendrein in einem solchen Ausmaß? Liegt dem ein besonders eklatanter Missstand im hiesigen Bildungssystem zugrunde? Sind österreichische Schulen nicht einmal fähig, allen Schülern wenigstens die grundlegenden Kompetenzen zu vermitteln? Leider ja, meint die stellvertretende grüne Bundessprecherin Eva Glawischnig, die das Problem auch im abgelaufenen Wahlkampf thematisiert hat: „Aus den PISA-Daten wissen wir, dass man schon bei den Pflichtschulabgängern ein großes Problem hat. Es gibt 18.000 Jugendliche pro Jahrgang, die nach neun Jahren Pflichtschule einen Text nicht richtig lesen können. Das ist Schulversagen.“

Tatsächlich legen die PISA-Daten diesen Schluss nahe: Die Risikogruppe jener Schüler, deren Lesekompetenz nur sehr schwach ausgebildet ist, stieg zwischen der Studie 2000 und jener 2003 von 14 auf 20 Prozent eines Jahrgangs. „Es darf bezweifelt werden, dass diese SchülerInnen zum Verstehen alltäglicher, einfacher Texte ausreichend befähigt sind“, schrieben die Studienautoren in ihrem Abschlussbericht. Wenig überraschend verteidigt die Bundesregierung ihre Bildungspolitik: „Das Ziel des österreichischen Bildungssystems ist es nicht, irgendwann einmal Testsieger zu sein, sondern unseren Jugendlichen erstklassige Chancen in die Hand zu geben, dass sie Jobs finden, dass sie sich im Leben bewähren, dass sie sich zurechtfinden“, erklärte Wolfgang Schüssel in seiner Rede zur Lage der Nation im Mai – und vermied es dabei anzumerken, dass Analphabeten genau das in den meisten Fällen eben nicht können: Jobs finden, sich bewähren, sich zurechtfinden.

Bildungsferne Schichten. Bleibt die Frage, ob eine Bildungs- oder Schulreform das Problem beseitigen könnte. „Mangelnde Bildung ist immer auch ein soziales Problem. Es geht hier um die so genannten bildungsfernen Schichten. Immer wieder zeigt sich, dass die Probleme nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in der Familie liegen“, meint Gabriele Eschig. Die Geschichten, die in den Basisbildungseinrichtungen erzählt werden, bestätigen diese These. Immer wieder, ja eigentlich immer, ist da von Eltern die Rede, denen die Schulbildung der eigenen Kinder weniger wichtig war als ihre Arbeitskraft; die auch nie auf die Idee gekommen wären, ihren Kindern Gutenachtgeschichten vorzulesen, geschweige denn ein Buch zu kaufen; Geschichten wie die von Annemarie Gedl: „Ich durfte keine Freunde haben. Mein Freund war der Stall. Um halb vier bin ich aufgestanden, bis halb sechs musste ich fertig sein, weil dann der Bus in die Schule gefahren ist. Wenn ich meine Pflegemutter gebeten habe, sich meine Hausaufgaben anzuschauen, hat sie nur gemeint, dass das die Sache der Schule ist.“

Nur in den wenigsten Fällen ist eine eindeutige Ursache für spätere Schreib- und Leseschwächen festzumachen. Meistens spielen schulische, familiäre, aber auch psychische Gründe zusammen: Wo weder Familie noch Lehrer je zum Lernen motivieren, stattdessen traumatisierende Erlebnisse (wie die Versetzung in die Sonderschule) verarbeitet werden müssen und Schule vor allem Frust bedeutet, kann sich schon eine leichte Leseschwäche zum Analphabetismus auswachsen. Oft wird das Problem ignoriert: Bleiben leistungsschwache Schüler unauffällig, werden sie von Klasse zu Klasse mitgeschleift. Was sich, in Ausnahmefällen, bis zur Matura ziehen kann. Denn funktionaler Analphabetismus ist keineswegs ein Problem von Pflichtschulabbrechern, Totalverweigerern und Sonderschülern. Auch Maturanten sind schon im St. Pöltener Basisbildungszentrum vorstellig geworden, der Großteil der Kursteilnehmer hat immerhin einen Hauptschul- oder Lehrabschluss.

Die Politik hat spät auf das Problem reagiert: Seit dem Jahr 2005 werden an allen Volksschulen verpflichtende Lesescreenings durchgeführt, wie Heidrun Strohmeyer, zuständige Sektionschefin im Bildungsministerium, erläutert: „Wenn Schwächen festgestellt werden, müssen entsprechende Fördermaßnahmen gesetzt werden. Die Lehrer haben die Verantwortung, das Screening durchzuführen und die Ursachen einer möglichen Leseschwäche abzuklären.“

Ausgemustert. Experten bezweifeln allerdings, dass dies, auch angesichts von Einsparungen im Personalbereich, ausreichen wird. Auch die Unesco-Generalsekretärin Gabriele Eschig bleibt skeptisch: „Die Differenzierung innerhalb der Klasse, also die individuelle Förderung, gelingt immer noch nur unzureichend. Im Endeffekt werden die Leute ausgemustert. Da wiederholt jemand dreimal eine Klasse, irgendwann hat er dann die Schulpflicht erreicht und wird entlassen.“

Einig ist man sich immerhin, dass das Problem mit schulpolitischen Maßnahmen allein nicht zu lösen sein wird. Zu vielfältig sind die Ursachen, zu individuell die persönlichen Schicksale, die in den funktionalen Analphabetismus führen. Die Institutionen des österreichischen Basisbildungs-Netzwerks Alphabetisierung.at beharren deshalb auf einer Kampagne zur Enttabuisierung des Problems. Denn zwar gibt es mit dem so genannten Alfa-Telefon (0810/20 0810) seit vergangenem Juni eine erste anonyme Ansprechstelle, doch bleibt die Hemmschwelle bestehen, die die Betroffenen daran hindert, ihre Schwäche öffentlich zu machen und einen Basisbildungskurs zu besuchen. Sonja Muckenhuber von der Volkshochschule Linz erzählt von einem Kursteilnehmer, der sich die Kursnummer bei der Geburt seines Kindes notiert hat. „Zwei Jahre später war das Kind alt genug, um vorgelesen zu bekommen. Erst dann hat er sich bei uns gemeldet. Die Menschen kommen erst dann in die Kurse, wenn der Leidensdruck größer als die Scham ist.“

Annemarie Gedl wiederum hat die Schamschwelle hinter sich gelassen. Seit zwei Jahren besucht die 53-Jährige einen Basisbildungskurs, inzwischen ist sie die wohl bekannteste Analphabetin des Landes, hat zahlreiche Medientermine absolviert, darunter einen viel beachteten Auftritt in der „Barbara Karlich Show“: „Dort habe ich den Leuten klipp und klar gesagt, dass sogar ich in meinem Alter noch angefangen habe, Lesen und Schreiben zu lernen, und dass sie das dann wohl auch schaffen werden.“ Eine langjährige Bekannte, Michaela Neuhauser, hat Gedl damit überzeugt. Jahrelang wusste keine der beiden von der Leseschwäche der anderen. Jetzt sitzen sie im gleichen Kurs. Mit großem Erfolg: Vor Kurzem hat Neuhauser begonnen, ihre Autobiografie zu schreiben.

Text: Sebastian Hofer und Thomas Trescher