Außenpolitik

Außenpolitik: Mogelpackung als Mythos

Mogelpackung als Mythos

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Julius Raab versuchte, den sowjetischen Gesprächspartnern das Virginia-Rauchen beizubringen, Leopold Figl wollte die Russen durch Hinunterspülen großer Wodkamengen beeindrucken, und Bruno Kreisky ließ sympathieheischend durchblicken, er habe einst Lenins sperriges Werk „Materialismus und Empiriokritizismus“ gelesen.

Es war der April 1955, und die österreichische Regierungsdelegation rang in Moskau um den Staatsvertrag.
Das Wort „Neutralität“ müsse darin vorkommen, forderte Außenminister Wlatscheslav Molotow, daran führe kein Weg vorbei.

Die Österreicher störte das nicht weiter, der schwarze Kanzler Julius Raab wollte – anders als der rote Staatssekretär Bruno Kreisky – sofort zusagen. Kreisky hätte den Begriff Allianzfreiheit bevorzugt.
Es blieb bei „Neutralität“.

Und damit es nicht so aussah, als hätten die Sowjets da etwas diktiert, mussten die Österreicher bloß eine Verwendungszusage abgeben.
Gemogelt wurde von Beginn an.

Noch im selben Jahr wurde der 26. Oktober, an dem der Nationalrat die Neutralität beschloss, zum Feiertag erklärt, mit dem seltsamen Namen „Tag der Fahne“ versehen und inoffiziell damit begründet, an diesem Tag habe der letzte Besatzungssoldat das Land verlassen (was nicht stimmte).
Als der damals 35-jährige Günther Nenning im SP-nahen Wochenblatt „heute“ schrieb, es sei doch ein Mythos, dass sich Österreich die Neutralität selbst ausgesucht habe, wurde er von allerhöchster Seite verwarnt.

Stammessage. Kein Rechtsakt wurde in der Folge so nachhaltig mythologisiert wie die Neutralität: Frieden, Prosperität und Wirtschaftswunder – alles wurde auf diesen Verzicht auf Parteinahme zurückgeführt.

Noch 1991 meinten 77 Prozent der Österreicher, ein neutrales Land könne erwarten, nicht angegriffen zu werden. Aber 66 Prozent waren sicher, dass einem Neutralen im Fall eines Angriffs von außen sofort von der Weltgemeinschaft geholfen würde.

Die Neutralität, schrieb der Historiker Ernst Bruckmüller, sei die „origo gentis“, die große Stammessage der Österreicher.
Kein Politiker kann es sich leisten, sie in Zweifel zu ziehen. Nach wie vor sind in allen Umfragen zwei von drei Österreichern für die Beibehaltung der Neutralität.

Entsprechend verkrampft verläuft die gegenwärtige politische Diskussion: Der Bundeskanzler behauptete allen Ernstes, eine militärische Beistandspflicht in der EU widerspreche der Neutralität überhaupt nicht; die Außenministerin schwärmte zuerst von uneingeschränktem – auch militärischem – Beistand, um dann erschrocken eine halsbrecherische Kurve zu kratzen; die SPÖ gefiel sich in ihrer Lieblingsrolle – jener der strengen Wächterin über die Neutralität; und der grüne Professor Alexander Van der Bellen meinte rätselhafterweise, die Frage werde erst in 20 Jahren aktuell.

Just der grüne Abgeordnete Peter Pilz klang in dieser Kakofonie wie die Stimme der Vernunft: Wenn man schon ein geeintes Europa sein wolle, dann müsse man dieses wohl auch verteidigen, und dazu sei eben das Neutralitätsgesetz zu ändern: „Eine Beistandspflicht ist ja keine Vorbereitung auf den dritten Weltkrieg.“

Die Neutralität ist die große Lebenslüge der österreichischen Nation. Nie durfte ruchbar werden, dass weder die österreichischen Politiker noch die Signatarmächte des Staatsvertrags sie sonderlich ernst genommen hatten.
Nach dem Zerfall des Sowjetreiches wurde offenkundig, dass der Kreml über detaillierte Pläne für den Durchmarsch durchs neutrale Österreich verfügte.

Überflieger. Die Amerikaner sahen die Sache ohnehin sehr entspannt – die österreichischen Militärs übrigens auch. „Die hiesigen Militärbehörden betrachten die aktive Teilnahme an der Seite des Westens im Kriegsfall für unerlässlich“, kabelte Llewellyn Thompson, US-Botschafter in Wien, schon 1956 nach Washington.

Thompson handelte sogleich einen geheimen Deal mit der schwarz-roten Bundesregierung aus: US-Militärtransporte von Deutschland nach Italien sollten demnach unauffällig unter den kommerziellen Verkehr gemischt werden.

Auch der Luftraum über Tirol war alles andere als tabu. Thompson hatte durchgesetzt, dass die USA ein gewisses Kontingent von Überflügen durch „unbewaffnete“ Militärmaschinen zugestanden bekommen.

1956 bat Außenminister Leopold Figl Botschafter Thompson, die Zahl der Überflüge vor den Nationalratswahlen zu verringern und vor allem bei schlechtem Wetter und in großer Höhe zu fliegen, damit die Bevölkerung keinen Wind von der Sache bekomme.

Wie doppelbödig mit der Neutralität umgegangen wurde, zeigte sich besonders während der Libanon-Krise 1958.
So nahm es Figl praktisch widerspruchslos hin, dass die USA eine Luftflotte von 96 Maschinen über Tirol jagten. Wenige Tage später fuhr Bundeskanzler Raab nach Moskau und geißelte von dort aus diese flagrante Neutralitätsverletzung. Die Amerikaner schäumten, die Sowjets bedankten sich für die kalkulierte Geste mit einer Reduktion der von Österreich noch zu leistenden Reparationen.

Der neue Außenminister Bruno Kreisky, ein Bewunderer der USA, deponierte höchstpersönlich beim jungen Präsidenten John F. Kennedy, die Neutralität verstehe er nur militärisch, aber sicher nicht ideologisch.

Zu dieser Zeit war bereits die große Peilstation Königswarte bei Hainburg in Betrieb. Mit diesem elektronischen Ohr horchte der österreichische Heeres-Geheimdienst bis tief in die Sowjetunion hinein und registrierte Truppenbewegungen. Die Österreicher waren freilich gar nicht in der Lage, die Bänder auszuwerten, sondern schickten sie sofort an die entsprechende US-Dienststelle in Wiesbaden. Schließlich hatten die Amerikaner die Königswarte auch bezahlt.
Den Sowjets waren diese Neutralitätsverletzungen durch Österreich natürlich bekannt. Umso mehr Widerstand setzten sie den Bestrebungen Wiens entgegen, die Neutralität auch offiziell aufzuweichen.

Als Österreich 1962 eine lose Assoziierung mit der EWG anstrebte, reagierte Nikita Chruschtschow schroff. „Damit würden Sie die Politik der Neutralität verlassen und sich in die Gemeinschaft unserer Gegner begeben“, beschied er Kanzler Alfons Gorbach in Moskau.

Kurswechsel. Die ursprünglich so skeptischen Sozialdemokraten arrangierten sich mit der Neutralität am besten. Noch 1985 hieß es in einer Darstellung des Außenministeriums, die Neutralität sei ein „Mittel zur Erhaltung der Unabhängigkeit, ein stabilisierendes und friedenserhaltendes Element“.

1991, die Sowjetunion war eben zerfallen, las sich das schon anders. „Die Neutralität ist ein Mittel zum Zweck und kein höchstes Gut“, verkündete Außenminister Alois Mock (ÖVP) einen Kurswechsel.

Dem waren wilde Scharmützel im Zusammenhang mit der Bewerbung um die EG-Mitgliedschaft vorausgegangen. Die SPÖ hatte 1989 durchgesetzt, dass im offiziellen Beitrittsgesuch festgeschrieben wurde, Österreich wolle als neutraler Staat der damaligen EG beitreten.

Mark Eyskens, ein flämischer Christdemokrat und zu dieser Zeit belgischer Außenminister, befürchtete in der Neutralen-Klausel eine Vetomöglichkeit gegen die geplante gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Sein Vorschlag: Die EG solle Verhandlungen mit der damals noch existierenden Sowjetunion über die Aufgabe der Neutralität Österreichs aufnehmen – ein diplomatischer Eklat. Eine hochrangige belgische Delegation musste sich in Wien einen Vortrag über die nach offizieller Lesart völlig selbst gewählte Neutralität anhören.

Im Februar 1990 schickte die Bundesregierung ein Aide-Mémoire nach Brüssel, worin bekräftigt wurde, dass Österreich alle Rechte und Pflichten eines EG-Mitglieds übernehmen wolle. Die Neutralität sei Österreichs spezifischer Beitrag zur Wahrung von Frieden und Sicherheit in Europa.

„Spezifisch“. Im August 1991 legte die Kommission endlich das Gutachten zum Beitrittswunsch Österreichs vor. Die Neutralität wurde darin als „spezifisches“, aber „nicht unlösbares Problem“ bezeichnet. Die von Wien vorgebrachte These, wonach die Neutralität zum Frieden und zur internationalen Sicherheit beitrage, bezeichnete die Kommission als nicht haltbar. Die EG erwarte von Österreich eine Zusicherung, dass alle Verpflichtungen im Rahmen der angepeilten Außen- und Sicherheitspolitik übernommen werden.

Der damalige italienische Außenminister Gianni de Michelis schockte die Österreicher überdies mit der Ankündigung, das Bundesheer werde an der künftigen Europa-Armee selbstverständlich mitwirken müssen.

Solche Pläne wurden von den Österreichern vehement abgelehnt: In einer Umfrage gaben zwei Drittel der Befragten an, sie wollten eher auf einen EG-Beitritt verzichten als auf die Neutralität.

Am ehrlichsten gingen noch die Vertreter der ÖVP mit den neuen Bedingungen um. Im Kampf gegen einen Friedensbrecher könne es keine Neutralität, sondern nur Solidarität geben, meinte etwa der ÖVP-Präsidentschaftskandidat Thomas Kestil, als Österreich Überflüge für die UN-genehmigte Operation gegen Saddam Hussein zur Befreiung Kuwaits erlaubte.

Nach seiner Wahl ging Klestil bei einem Besuch in Paris im Oktober 1992 noch einen Schritt weiter und rang sich zu einer heute hochaktuellen Aussage durch: „Wenn ein europäisches Sicherheitssystem existiert, wird die Zeit kommen, wo wir auch über unser Neutralitätsgesetz diskutieren müssen.“

Neue Begriffe. „Differenzielle Neutralitätspolitik“ lautete das neue Motto. Anders als in Schweden und Finnland, wo der Begriff Neutralität durch Bündnisfreiheit ersetzt wurde, blieb Österreichs neutraler Status aber durch ein Verfassungsgesetz abgesichert.

Während die Österreicher die Neutralität also immer noch für ein unantastbares Heiligtum hielten, wurde sie – von der Öffentlichkeit wenig beachtet – scheibchenweise kräftig abgebaut:

In der Zeit des ersten Irak-Kriegs 1990/91 änderte Österreich das Kriegsmaterialgesetz: Bei Vorliegen eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats konnten nun Kriegsgüter durch Österreich transportiert werden. Neutralität hatte keinen Vorrang vor UN-Verpflichtungen mehr. 1993 sicherte Österreich in den EG-Beitrittsverhandlungen die Teilnahme an der im Vertrag von Maastricht verankerten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu, die später in eine gemeinsame Verteidigungspolitik münden soll. 1994 wurde die Bundesverfassung um einen Artikel ergänzt, der nun die Teilnahme an einem Wirtschaftsembargo ermöglicht – auch ohne UN-Beschluss. Mit dem Vertrag von Amsterdam 1997, der die „schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ vorsah, wurden die so genannten „Petersberger Aufgaben“ zu EU-Recht, welche die Europäische Union zu militärischen Operationen zwecks Friedenssicherung und Friedensschaffung auch außerhalb der EU-Grenzen ermächtigten. In Österreich wurde die Verfassung durch den Artikel 23f entsprechend adaptiert. Ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates ist für solche Operationen nicht mehr nötig. Eine Hintertüre wurde für die Neutralen offen gelassen: Sie müssen laut Amsterdamer Vertrag an militärischen Aktionen nicht direkt teilnehmen, dürfen sie aber auch nicht behindern – etwa durch Überflugverbote. Im Jahr 2000 hielt die schwarz-blaue Koalition in ihrem ersten Regierungsprogramm fest, man solle das Neutralitätsgesetz so abändern, dass eine Teilnahme Österreichs am europäischen Sicherheitssystem „einschließlich einer Beistandsgarantie“ möglich wird. Im Dezember 2001, schließlich, erteilte die Regierung Schüssel den USA Überfluggenehmigungen für den Krieg in Afghanistan, „weil es im Kampf gegen den Terrorismus keine Neutralität geben kann“. Außerdem sei Österreich ohnehin nicht mehr neutral, sondern „bündnisfrei“, was stark an jene „Allianzfreiheit“ erinnert, die Bruno Kreisky 1955 in Moskau anstatt der Neutralität festgeschrieben haben wollte.

Wahlfreiheit. Beim EU-Gipfel in Brüssel begrüßte der Bundeskanzler am Freitag vergangener Woche den erzielten Kompromiss beim Streit um eine Beistandspflicht unter EU-Mitgliedern. Bei der Anwendung der „Solidaritätsklausel“ würde die Union künftig laut Vertragstext die „fundamentalen politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ respektieren.
Im Klartext: Österreich wird im Fall eines Angriffs auf militärischen Beistand durch die EU-Partner zählen können, aber selbst entscheiden, wie weit es anderen EU-Ländern im Ernstfall helfen wird.

Schüssel: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass es dafür eine breite österreichische Zustimmung geben wird.“
In Wahrheit habe Österreich eine „Frank-Sinatra-Neutralität“, meinte einmal Peter Schieder, außenpolitischer Sprecher der SPÖ: „Sie funktioniert nach dem Prinzip ,I did it my way‘.“