Die Hegemonie des Stinkefingers

Europas Abkehr von der Sparpolitik bleibt Wunschdenken

Europa. Die Abkehr von der Sparpolitik bleibt Wunschdenken

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Fluglinien, die Athen als Destination anbieten, können seit drei Jahren auf eine Gruppe von Vielfliegern zählen: Ökonomen. Wirtschaftsforscher reisen nach Griechenland wie Trance-Hippies nach Goa – so oft wie möglich; immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen; und wenn sie zurückkommen, hat jeder etwas anderes gesehen.

Als profil vorvergangene Woche Karl ­Aiginger, den Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) kontaktierte, war der gerade in – erraten – Athen. Zweck der Reise: Treffen mit Regierungsvertretern und Forscherkollegen, um neue Ideen zur Bekämpfung der Krise zu erörtern.
Aigingers Wifo-Kollege Stephan Schulmeister wiederum ist gerade erst von einer Visite in Griechenland zurückgekehrt, wo er Recherchen für sein nächstes Buch unternommen hatte. Ergebnis: „Ich kann in Griechenland beim besten Willen keinen Erfolg der bisherigen Politik erkennen.“
Christian Keuschnigg schließlich, der Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), hat die griechischen Kenndaten inzwischen genauso gut im Kopf wie die österreichischen. Und er weiß komplett anderes zu berichten: „Die Maßnahmen greifen.“

Man kann es Ökonomen nicht übel nehmen, dass sie ein wenig verrückt nach Griechenland sind. Wann dürfen Experten einer von Formeln und Theorien überfrachteten Wissenschaft schon mal eine existenzielle Krise miterleben? Und wann stehen sie mit ihren – gänzlich widersprüchlichen – Weisheiten im Mittelpunkt der bedeutendsten Debatten der europäi­schen Politik?

Tödliche Therapie?
Als Griechenland vor drei Jahren ohne Vorwarnung in den Bankrott stürzte, begann eine wirtschaftspolitische Operation am offenen Herzen, die bis heute andauert. Noch ist der Patient lange nicht über den Berg, und seine europäischen Angehörigen haben allen Grund, weiterhin besorgt zu sein. Denn die behandelnden Fachleute sind sich nicht einmal einig darüber, ob die angewendete Therapie hilft oder alles nur noch schlimmer macht. Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass sich in der Öffentlichkeit die Meinung durchsetzt, die Behandlungsmethode sei letal.

„Austerität tötet“, lautet der Schlachtruf derjenigen, die den Sparkurs, der die ­Krisenländer aus der Schuldenfalle befreien soll, für verfehlt halten. Austerität beschreibt dabei die Gesamtheit an Maß­nahmen, mit denen Staatsausgaben – Sozialkosten, Pensionen, Beamtengehälter – gesenkt werden und die Wirtschaft durch Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierungen und Privatisierungen angekurbelt wird. Dass der Abbau des Sozialstaates tatsächlich für den Tod von Menschen verantwortlich gemacht werden kann, versuchen David Stuckler, Soziologe an der Universität Oxford, und Sanjay Basu, Mediziner an der Universität Stanford, in ihrem eben erschienenen Buch „The Body Economic – Why Austerity Kills“ mittels Datenmaterial nachzuweisen.

Als mehr oder weniger gegessen wird weithin die Theorie betrachtet, die Austerität töte das Wirtschaftswachstum und verhindere damit auch die Erholung der angeschlagenen südeuropäischen Staaten. Dafür gibt es starke Indizien, allen voran die enorm steigende Arbeitslosigkeit. 27 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in Griechenland, die Zahl der Beschäftigten ist von 4,5 Millionen im Jahr 2009 auf weniger als 3,7 Millionen eingebrochen. In Spanien, Italien und Portugal ist die Situation ähnlich trist.

Auch dass die Eurozone insgesamt in die Rezession gerutscht ist – und sich seit mittlerweile sechs Quartalen in Folge nicht davon erholt –, wird der Austeritätspolitik angelastet.

Das Erstaunliche ist: Auch im Jahr drei nach Griechenlands Fall – und dem daran anschließenden Taumeln von Portugal, Spanien und Italien – halten die nationalen EU-Regierungen unter Anleitung der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds weitgehend am Austeritätskonzept fest. Und zwar einstimmig. Niemand wagt es bisher, gänzlich auszuscheren, nicht einmal Frankreichs sozialistischer Staatspräsident François Hollande, der als schärfster Kritiker des von seinem konservativen Vorgänger Nicolas Sarkozy und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ausgeheckten Wirtschaftskurses gilt.

Erstaunliche Ruhe
Nicht minder erstaunlich: Obwohl sich die soziale Lage verschärft, haben sich die Massenproteste gegen das Spardiktat wieder verlaufen. Gingen im vergangenen Jahr noch Hunderttausende in Athen, ­Madrid, Rom und Paris auf die Straße, um ein Ende der Kürzungen von Sozialleistungen zu fordern, ist es mittlerweile ­sogar in Griechenland erstaunlich ruhig geworden.

Das könnte daran liegen, dass die betroffenen Regierungen sich von den Demonstrationen nicht sonderlich beirren ließen. Zwar verfehlten sie ihre Budgetziele im vergangenen Jahr zum Teil noch recht deutlich, doch selbst die strenge Troika konnte darin kein absichtliches Nachlassen bei den Sparbemühungen erkennen. Der Druck der Straße verpuffte.
Stattdessen beginnen manche Experten langsam Vorboten einer Entspannung der wirtschaftlichen Situation auszumachen. Die EU prognostiziert allen Krisenstaaten mit Ausnahme Italiens und Zyperns im kommenden Jahr Wirtschaftswachstum – wenn auch in bescheidenem Ausmaß. Kann das die Trendwende sein? IHS-Chef Keuschnigg meint im profil-Interview, die Krisenländer seien auf dem richtigen Weg. Griechenland hat seine Exporte im vergangenen Jahr um neun Prozent gesteigert. Irland, das ab 2010 den Euro-Rettungsschirm beanspruchte, kann sich mittlerweile wieder selbst finanzieren.

Anstatt die Ära der Austerität abzublasen, schickt sich Europa nun sogar an, die nächste Stufe zu zünden: den sogenannten Wettbewerbspakt.
Bereits die Vorbereitungen zu diesem neuen Instrument, das in den Worten der Europäischen Kommission „Strukturreformen zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum“ auf den Weg bringen soll, sorgen für Panik. Schließlich ­sollen länderspezifische „Schwachstellen“ beseitigt werden, was neben Bürokratieabbau und Bildungsförderung auch schmerzhafte Reformen im Bereich des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates vermuten lässt.

Die Initiative „Europa geht anders“, eine Kooperation linker Politiker und Experten aus mehreren europäischen Ländern, versucht, die Öffentlichkeit gegen diesen neuerlichen „neoliberalen“ ­Austeritätsschub zu mobilisieren. Die SPÖ-­National­rats­abgeordnete Sonja Ablinger ist eine der Erstunterzeichnerinnen des Aufrufs gegen den neuen Pakt. Sie erkennt darin „more of the same“, oder schlimmer noch, eine „Verschärfung der Austerität“.

Kampfbegriff Wettbewerbsfähigkeit
Ablinger und ihre Mitstreiter wollen „die konservative Hegemonie brechen“, und müssen dabei wohl oder übel in ihren eigenen Parteien beginnen – denn der „neoliberale Mainstream“, so Ablinger, habe auch in der Sozialdemokratie den Diskurs bestimmt. Bestes Beispiel: Der frühere deutsche Kanzler Gerhard Schröder und dessen „Agenda 2010“. Jetzt soll nach dem Willen von „Europa geht anders“ der Druck von Links zunehmen und wenigstens die sozialdemokratischen Abgeordneten und Regierungschefs zu einem „Nein“ zum Wettbewerbspakt bewegen.
Wirtschaftsforscher Aiginger sagt, der Sparkurs sei nötig, könne aber unterschiedlich gestaltet werden. Sein Vorschlag: „Man schaut etwa nicht nur auf die Bilanz im Budget, sondern reduziert Ausgaben, die nicht notwendig sind für das Wachstum, und erhöht dafür jene Ausgaben, die für Wachstum und Konkurrenzfähigkeit wichtig sind.“

„Wettbewerbsfähigkeit“ ist der neue Kampfbegriff im Streit um die richtige Wirtschaftspolitik in Europa. Linke Kritiker prangern ihn als Tarnnamen für Sozialabbau und Lohndumping an und verachten ihn wie zuvor schon „Neoliberalismus“ und „Austerität“. Die EU-Kommission hingegen verspricht sich von dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit bessere Chancen aller Mitgliedsstaaten. Denn längst sind alle Augen auf die neuen Märkte gerichtet, etwa die der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China). Deutschland konnte in den vergangenen 15 Jahren seine Exporte in diese Länder versiebenfachen. Frankreich hingegen bringt es etwa im Handel mit China nur auf ein Fünftel des deutschen Exportvolumens. Nicht zufällig gilt Frankreich als Sorgenkind in Sachen Wettbewerbsfähigkeit. In einschlägigen Rankings liegt die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU weit hinten. Die Arbeitskosten der privaten Unternehmer sind laut einer Studie des deutschen Statistischen Bundesamtes in Frankreich um elf Prozent höher als in Deutschland – wo sie ihrerseits ein Drittel mehr als im EU-Durchschnitt betragen.
Wird Hollande die Hoffnungen des linken Flügels der europäischen Sozialdemokratie endlich erfüllen und die Huldigung der Wettbewerbsfähigkeit als neoliberale Verblendung geißeln?

Vielleicht fiel vergangenen Donnerstag eine Vorentscheidung über den weiteren Kurs in Europa. Da machte François Hollande den deutschen Sozialdemokraten in Leipzig bei der Feier zum 150. Gründungsjubiläum der SPD seine Aufwartung und hielt eine bemerkenswerte Rede, die vor allem zuhause in Paris für Aufsehen sorgte: Er lobte darin ausgerechnet Gerhard Schröder, den Mann der Agenda 2010, für seine „mutigen Entscheidungen“, die es „Deutschland erlauben, den anderen Ländern voraus zu sein“. Die Parteilinke in Frankreich tobte: Hollande habe „vielen Sozialisten den Stinkefinger gezeigt“, ärgerte sich ein Vertreter des linken Flügels.
Das dürfte zutreffen. Hollande sprach ausdrücklich von der „Realität, die man nicht ignorieren dürfe, wenn man etwas Solides bauen möchte“. Geht Europa doch nicht anders?

Stephan Schulmeister wird wohl Recht behalten, wenn er konstatiert, dass die wirtschaftlichen und politischen Eliten in Europa „Zuflucht zu den alten Rezepten“ nehmen: „Noch mehr Sparen, Wettbewerbspakt, Deregulierung der Arbeitsmärkte.“ Schulmeister ist der festen Überzeugung, dass „das gesamte System so auf einen Schiffbruch zusteuert“.

Das wird man sehen. Er und Scharen von Ökonomen werden auf Reisen nach Athen, aber auch nach Rom, Madrid und Paris, noch einige Jahre Zeit haben, den langsamen Tod infolge der Austerität zu bestaunen. Oder die wundersame Genesung.