Autobiografie von Sexpapst Kolle

Der Vorkämpfer für sexuelle Freiheit

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Es waren diese kleinen Leselampen, die Oswalt Kolle signalisierten, dass es gleich ziemlich brenzlig werden würde für seine Mission. Sie standen auf Tischen im Kinosaal des Wiesbadener Fürstenschlosses, dem Tagungsort der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). Die Zensoren knipsten sie immer an, wenn sie etwas gesehen hatten, das ihnen nicht behagte, und notierten es. Zwölf Lampen, elf Männer und eine Frau. Es war im Sommer 1969, im Saal wurde es dunkel, und eine nüchterne Stimme wie aus dem „Wort zum Sonntag“ begann zu erklären, was sexuelle Erregung ist und wie eine Erektion zustande kommt. „Dein Mann, das unbekannte Wesen“, so hieß der Film. „Und auf einmal“, sagt Oswalt Kolle, „war da dieser Penis.“ Leinwandfüllend, langsam sich erhebend, aber als Bild zu diesem bemüht wissenschaftlichen Text aus dem Off so sinnlich wie eine hochgehende Bahnschranke.

Kolle war während der Vorführung dabei. Er sah, wie schlagartig elf Lampen angingen. Er dachte, was er immer dachte, wenn er in diesen mühseligen quälenden, unerfreulichen Vorführungen saß: „Jetzt hat es wieder bei ihnen in der Hose gezuckt.“ Was danach in der internen Diskussion der Zensoren geschah, bekam er später zugetragen. Es waren die Männer, die angesichts des Gliedes nach der Schere verlangten, die einzige Frau erwiderte knapp: „Der Schwanz bleibt drin.“

Oswalt Kolle liebt diesen Satz, es war für ihn „der wichtigste Satz des Jahres 1969“. Er dient ihm als Beweis dafür, dass der Samen, den er als „Aufklärer der Nation“ mit zahllosen Illustriertenserien und acht dokumentarisch verbrämten Filmen in die verklemmte deutsche Gesellschaft gepflanzt hatte, aufgegangen war. Er könnte zwischen zwei anderen Sätzen stehen, die auch damals fielen: „Den meisten Männern geht es mit der Klitoris wie mit der Waschmaschine: Sie wissen ungefähr, wo sie ist, aber nicht, wie sie damit umgehen sollen.“ So lautet der eine, von Kolle selbst, und danach müsste noch jener kommen, den ihm ein Fernfahrer schulterklopfend am Pissoir einer Autobahnraststätte zuraunte: „Weiter so, Ossi, mit meiner Alten geht’s jetzt viel besser.“ Vielleicht lag das Fernfahrerglück auch daran, dass der Schwanz in der freigegebenen Fassung tatsächlich drinblieb, wodurch „die geheimen sexuellen Wünsche des Mannes“ der Frau besser begreiflich werden konnten. Im Volksmund hieß es jedenfalls bald: „Meine Olle treibt’s wie Kolle.“ Und die Medien nannten ihn „Orpheus des Unterleibs“, „Bett-Triebs-Vorsitzender“ oder „Schlafzimmer-Pestalozzi“.

Paradies Holland. Am 2. Oktober wird Oswalt Kolle 80. Deshalb hat er schon vor einiger Zeit beschlossen, bedrängt auch von seinen drei Kindern, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Nun liegt sie, zwischen Buchdeckeln mit der Aufschrift „Ich bin so frei“, gedruckt und frisch ausgeliefert kistenweise im Vorzimmer seiner Amsterdamer Wohnung. Seine Tochter Cornelia und ihr Lebensgefährte sind auch da, als Kolle die Tür seines Reihenhauses in der Albrecht-Durer-Straat öffnet. Er grüßt freundlich, aber einer der ersten Sätze, die er sagt, lautet: „Morgen muss ich die Küche aufräumen.“ Die Tochter hat ihn gerade gefragt, was der Herr denn sonst von ihm denken soll. „Hast ja Recht“, beschwichtigt Kolle und windet sich durch die enge Kochzeile hinaus in den Garten. „Die Frauen“, sagt er draußen liebevoll über Cornelia, „die haben ja jetzt auch jüngere Liebhaber. Sie ist 54, er 33.“ Und dann wird seine Stimme erstmals recht laut und bestimmt, und er verpasst der Gartenluft einen ordentlichen Fausthieb: „Gut so, sucht euch junge Hengste!“

Später dann, im fortgeschrittenen Gespräch, wartet man schon auf die deutlichen Formulierungen, die er so gerne ans Ende seiner Ausführungen setzt. Will er damit untermauern, dass er deshalb so drastisch formulieren kann, weil er es in früheren Jahren selbst erkämpft hat? Erntet er so die Früchte seines Aufklärungsfluges über sexuell verzopftem Gelände? Er spricht über die Niederlande, in denen er 1969 sein Paradies gefunden hat. Während in Deutschland Kinobesitzer ein Seil durch den Saal spannten, um Frauen und Männer bei Kolle-Filmen wie „Das Wunder der Liebe“, „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ oder „Zum Beispiel: Ehebruch“ zu trennen wie auf der Kirchenbank, erhielten seine Werke in den Niederlanden das Attribut „empfehlenswert für die Volksgesundheit“. Und tatsächlich ist das Land ja ein wenig wie er – libertin, mitunter bis zur leicht verkrampften Bemühtheit. Im nahen Vondelpark ist seit Kurzem öffentlicher Freiluftsex in den Nachtstunden polizeilich erlaubt; drinnen im Zentrum, in dem die Luft Tag und Nacht cannabisgeschwängert ist, stehen die Huren in ihren Auslagen rund um die Oude Kerk, die alte Kirche. Es ist nicht Oswalt Kolles Welt, aber er sagt das nicht moralisierend: „Ich hab nur wenig Verständnis dafür, einen Geldschein hinzublättern, damit ich tupf-tupf machen darf. Was soll das? Das mach ich doch selber, ich hab ja zwei Hände. Es ist doch viel schöner, sich einen runterzuholen, da hat man wenigstens seine eigenen Fantasien.“

Es gehört deshalb für Oswalt Kolle auch dazu, den Eintritt ins Masturbationsalter in der Biografie ausführlich zu vermerken. Kolle wird 1928 in Kiel als Sohn eines Psychiaters geboren. Die Familie flüchtet 1933 vor dem örtlichen Nazi-Mob nach Frankfurt, wo Oswalt später das Goethe-Gymnasium besucht und wegen seiner schmächtigen Gestalt vom schulansässigen Masturbationsclub abgelehnt wird. Er sucht sich andere Jungs für die gemeinschaftliche Selbstbefriedigung und entdeckt dabei, dass auch Buben ihn sexuell erregen. Bis weit ins Erwachsenenalter bleibt er bisexuell; irgendwann verschwindet sein Interesse an Männern, aber seine Erfahrungen schildert er später in dem Buch „Nach beiden Seiten offen“.

Kinseys Fußstapfen. Es ist eine gar nicht so außergewöhnliche Bubenpubertät, die Kolle, übrigens als Mitarbeiter in Landwirtschaftsbetrieben, durchläuft – mit dem Unterschied, dass seine spätere Karriere es geradezu erzwingt, die sexuelle Komponente in den Mittelpunkt zu stellen. Mal flirrt zwischen Nicola und ihm die Hitze, „als der Hengst der Stute aufsaߓ, mal zieht er seine Hand aus dem Maul eines Kalbes, „da griff Catherine zu und leckte sie ab“. Und sonst? Mit Bruder Peter vermietet er heimlich den Ford des Vaters als mobiles Bordell an US-GIs. Wie unendlich weit und reich die Welt der Sexualität sein kann, erfährt er Ende der vierziger Jahre, als ein Kollege seinem Vater den druckfrischen Kinsey-Report aus den USA bringt. Kolle übersetzt ihn: „Diese Arbeit war für mich ungeheuer prägend, auch wenn ich noch nicht ahnte, dass ich einmal in die Fußstapfen Kinseys treten sollte.“

Er wird zunächst Boulevardjournalist mit Spezialgebiet Leinwandprominenz. Und nicht nur einmal kommt er den Objekten seiner Berichterstattung dabei näher, als die berufliche Distanz es gebietet. Mit O. E. Hasse und Horst Buchholz hat er kurze Affären; seine Liebe zu Romy Schneider bringt sogar seine offene Ehe, in der soziale Treue weit vor sexueller steht, an die Kippe. Im Herbst 1962 landet er bei der „Quick“, deren Chefredakteur bald Vater wird. „Kolleleben“, sagt er, „erklär meiner Frau und mir mein Kind.“ Es ist die Geburtsstunde einer Karriere, die Deutschland verändert. Kolle schreibt „Dein Kind, das unbekannte Wesen“. Er empfiehlt Eltern, statt Pipperling Penis zu sagen, und er vertritt bisher kaum publizierte aufgeklärte Ansichten. Der CDU-Familienminister droht, die „Quick“ zu verbieten.

Wham, bam. Die Sache mit dem „unbekannten Wesen“ klingt erfolgversprechend. Mittlerweile bei der „Neuen Revue“ gelandet, spielt der zum hoch bezahlten Autor aufgestiegene Kolle die „Kiste“ mit Mann und Frau noch einmal durch. Er wendet den ersten Kolle’schen Lehrsatz an, wie er sagt: „Liebe kann man nicht lernen, Sexualität sehr wohl.“ Und Deutschland ist diesbezüglich voll von Ahnungslosen. Kolle ortet überall Männer, die sich keinen Deut darum scheren, ob sie ihren Frauen Befriedigung verschaffen können. Wham bam, thank you Ma’am – nach Art von John F. Kennedy geht es in den deutschen Betten zu. Aber weil überall die Zensur lauert, schreibt er statt Klartext lieber doch eine „Matratzen-Symphonie“, wie der „Spiegel“ ätzt: Allegro, vivace, piano und fortissimo seien im Bett gefragt, um einem „gemeinsamen Schlussakkord“ zustreben zu können. Frauen, weiß Kolle, sind „wie Musikinstrumente, Männer wie Musikanten. Der Stümper wird auch einer kostbaren Stradivari nur Missklang entlocken. Aber der Künstler bringt sogar eine billige Jahrmarktsfiedel zu melodischem Klingen.“

Kukident ist die erste Firma, die Inserate storniert; die „Neue Revue“ fliegt aus unzähligen Wartezimmern, und „Bild“ ruft das Ende der Zweisamkeit im Schlafzimmer aus, die jedoch bis dahin ohnehin kein Honiglecken gewesen sein kann: „Jetzt liegt in jedem deutschen Ehebett ein Dritter: Oswalt Kolle.“ Und der wird selbst zum Objekt der Berichterstattung. Seine offene Ehe erweckt das Medieninteresse. Als die Kolles lieber doch eine Zeitschrift zum Gespräch einladen, um nicht vom Boulevard gejagt zu werden, bieten sich den Reportern Einblicke in ein libertines Regiment, dessen Oberbefehlshaber wohl doch Oswalt Kolle ist. „Ein Mann muss tun, was er will“, erzählt seine Frau; sie sei „die graue Maus im Hintergrund“. Gelegentliche Ehekräche finden im Haus Kolle stets vor den Kindern statt. „Sie sollen lernen, dass Ehe kein Honiglecken ist“, sagt er. Kolle propagiere bloß seinen eigenen Lebensstil, heißt es später, als die Aufklärungsserien in den Illustrierten der Reihe nach verfilmt werden. Es ist ein mühsames Unternehmen, aber Kolle gewinnt ein wissenschaftliches Alibi als Berater: den Sexualforscher Hans Giese. Dieser empfiehlt äußerste Vorsicht bei einschlägigen Szenen: „Wenn es bei dir in der Hose kribbelt, musst du schneiden, deinen Kopf da reinsetzen und sagen, das ist der Stand der Wissenschaft.“ Das Schlimmste sei, „wenn die Männer im Kino zu onanieren beginnen“. Dennoch muss Kolle Tage und Nächte mit den FSK-Zensoren verhandeln. „Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen. Jetzt soll sogar die Frau oben liegen“, sagt einer.

Der Spießer. Wenn Kolle heute diese Geschichten erzählt, donnert immer wieder die Faust auf das Plastiktischtuch mit dem wilden Erdbeermuster. „Ich hab nie was rausgeschnitten“, sagt er, „aber ich hab mich auch nie von den 68ern verwirren lassen, die von mir Pornografie wollten.“ Einen „scheinliberalen Spießer“ nannten sie ihn, der die bürgerliche Ehe bloß ein wenig entstauben wolle. Und es klingt fast schon wie eine dieser historischen Rechtfertigungen älterer Herren, wenn er heute darüber klagt, „dass diese Tübinger Pastorensöhne, die einfach mehr ficken wollten, meine Botschaft aus dem Film über Ehebruch völlig überhört haben, aber ich war zensurabhängig“. Tröstlich ist immerhin, dass die hyperseriöse linksliberale Wochenzeitung „Die Zeit“ ihm attestierte, der „wackerste Kämpfer für die Entteufelung des Unterleibes“ gewesen zu sein; es stand halt nur nicht im Film-Ressort.

Was denkt Kolle selbst über die acht Aufklärungsfilme, die zwischen 1968 und 1972 entstanden? Ach, winkt er ab, das sei vorbei. „Die Filme passten in die Zeit, und sie zeigten das, was unter Zensur möglich war.“ Er sieht manchmal noch rein, wenn eine Uni oder eine TV-Anstalt Stellen braucht oder wenn er selbst mal wieder welche vorführt. Neulich in Israel sprach er auch so über die Filme, da fragte ihn das Publikum, ob er denn verrückt sei. Es habe sich doch kaum was geändert. Es ist nach den Filmen rasch ruhig geworden um den Aufklärungspapst der Deutschen. „Ich grübelte, woran es lag, dass Oswalt Kolle plötzlich nicht mehr gefragt war“, schreibt er in seiner Biografie. Marlies, seine Ehefrau, sagt, was sie schon vor dem großen Erfolg öfter gesagt hatte; sie könne ja putzen gehen. Und in den Redaktionen wird ihm beschieden, der Job sei zwar getan, die Betten seien gelüftet, aber wenn er bereit sei, allem abzuschwören, katholisch zu werden und den Papst um Vergebung anzuflehen, dann wäre das natürlich schon wieder eine Story wert. Als im Jahr 2000 seine schwer krebskranke Frau ihrem Leben nach den Regeln der freiwilligen Euthanasie in den Niederlanden ein Ende setzt, ringt sie ihm noch am Sterbebett das Versprechen ab, sich wieder eine Frau zu suchen. Zwei Jahre später tut er es, und seine Kinder finden jetzt, „der Alte ist wieder richtig munter geworden, seit er eine Freundin hat“. Sex im Alter, doziert Kolle, sei immer noch ein großes Tabu. Kürzlich fragte ihn ein junger Mann, wozu eigentlich ein 70-Jähriger noch eine Pille wie Viagra brauche. Da brauste Kolle auf und riet, dem alten Mann doch die Brille vom Kopf zu reißen mit den Worten: „Opa, die brauchst du nicht mehr, du hast genug gesehen.“

Er ist jetzt müde, sagt er, und denkt einen Moment über die Geschichte nach, die er gerade erzählt hat. Dann donnert noch einmal die Faust auf das Erdbeertischtuch: „Wissen Sie, was ich dem noch gesagt habe? Ich lass mir doch von euch meine Sexualität nicht absprechen. Ich habe für euch gekämpft, ich habe meinen Kopf hingehalten, gegen Zensur, gegen die Kirche, gegen die Politik. Immer am Rande des Gefängnisses. Und jetzt wollt ihr mir das Vögeln missgönnen. Da seid ihr an der falschen Adresse. Früher war ich ein zorniger junger Mann, jetzt bin ich ein zorniger alter Mann.“

Von Klaus Kamolz