Falsch geparkt

Architektur. Bahnhöfe werden nicht mehr als Reiseschauplätze, sondern als Konsumpaläste in Szene gesetzt

Drucken

Schriftgröße

Von Alexander Bartl

Wenn man am Wiener Südtiroler Platz aus der Schnellbahn steigt und über die Rolltreppe hinauf zur Baustelle des neuen Hauptbahnhofs spaziert, kann man auf dem Weg dorthin schon einen Blick in die Zukunft werfen. Drei wandhohe Plakate zeigen die Station von morgen: lang gestreckte, mehrgeschoßige Räume, durch Lichtstreifen an der Decke in goldgelbes Licht getaucht. Damit die gebaute Szenerie nicht ganz so verlassen wirkt, haben Grafiker ein paar Menschen ins Innere gepixelt. Stellvertretend für die realen Passagiere scheinen sie vorab zu testen, wie sich der neue Wiener Bahnhof anfühlen wird, der 2015 fertig sein soll. Glücklich sehen sie nicht aus.

Jeder kann einen schlechten Tag haben, natürlich, auch Pixelmenschen in einem Bahnhof, der von den Verantwortlichen gern als Jahrhundertprojekt gepriesen wird. Vielleicht ist das Volk auf den Plakaten ja auch deshalb schlechter Laune, weil es das Reisegepäck daheim vergessen hat. Kaum einer trägt da einen Koffer, auch Reiserucksäcke fehlen. Entweder gehen die ÖBB davon aus, dass man seine Urlaubsgarderobe in vier Jahren als digitales Datenpaket per E-Mail verschicken können wird. Oder, was wahrscheinlicher ist, sie malen sich den Idealreisenden im neuen Bahnhof als einen Menschen aus, der eigentlich gar nicht weg möchte. Schließlich könnte er mit einem sperrigen Schalenkoffer im Schlepptau das Serviceangebot der Bahn kaum vernünftig nutzen. Denn das, was die Bahn im 21. Jahrhundert unter Kundenfreundlichkeit versteht, ist links und rechts des visualisierten Zukunftsraums zu sehen, wo sich eine Bahnhofsbäckerei an einen Damenausstatter reiht und eine Konditorei an einen Supermarkt. Insgesamt werden, so die Versprechung, hundert Geschäfte dem Gast tausend Chancen bieten, sein Reisebudget schon vor der Abfahrt zu verschleudern. Ein lenkfaules Gepäckstück auf Rädern würde den im Idealfall geschmeidig um die Regale zirkulierenden Kundenstrom vermutlich schon ins Stocken bringen.

Eine Verkehrsdrehscheibe, die unter dem Banner von Modernität und Funktionalität eher einem Shoppingcenter mit Gleisanschluss gleicht als einer Station für Reisende? Klingt widersinnig, könnte aber damit zusammenhängen, dass in der Moderne nicht nur Bahnhöfe, sondern Höfe generell an Charisma eingebüßt haben. Früher war immerhin der Kaiser am Hof daheim. Heute wird mit dem Begriff oftmals nur noch das bezeichnet, was zwischen zwei Häusern bleibt, wenn für eine hübsche Grünanlage das Geld fehlte und daher pflegeleichte Betonplatten verlegt wurden.

Neue Hauptstadtstationen, ob in Wien oder Berlin, sind insofern auf der Höhe der Zeit, als sie den Hof für die Gleise in zeitgenössischem Sinn verstehen - als Bahnhinterhöfe, denen man zweckfremde Kommerzeskapaden vorlagert. Da sich die seit den neunziger Jahren neu gebauten oder renovierten und dabei mit einer Unzahl von Geschäften möblierten Stationen aber aufgeräumter und sauberer präsentieren als ihre Vorgänger, nimmt man die typologische Umdeutung in Kauf. Auch wenn die Qualität der Architektur längst nicht an jene der alten Stationen heranreicht: Die prächtigsten Bahnhöfe entstanden zu einer Zeit, als es für sie noch kein geläufiges Bauvokabular gab. Die Lokomotiven dampften im 19. Jahrhundert voraus, und die Architekten nahmen sich Schlösser und Kathedralen zum Vorbild, um den Passagieren einen standesgemäßen Empfang zu bereiten. Großstädte gönnten sich imposante Kopfbahnhöfe, denn dort, wo die Gleise aufhörten, war nicht etwa das Ende der Welt, sondern deren Mitte.

Doch mit der Zeit schlich sich bei der Pflege der Kolossalbauten leider ein unschöner Schlendrian ein. Regierungsgebäude und Museen des Historismus wurden allesamt besser in Schuss gehalten als die Bahnhöfe. In vielen vernachlässigten, schlecht gereinigten und entsprechend trüb ausgeleuchteten Stationen sah es bald so aus wie in der Bahnhofstrafik unter der Ladentheke, wo bekanntlich die Schmuddel-Illustrierten zu finden sind. Mit dem Image der Stationen sind auch die Ansprüche an die Bahnhofsarchitektur so weit gesunken, dass man heute schon über jedes Gebäude glücklich ist, das einen nicht mit dem Nimbus welker Schönheit und dem Odeur des Pissoirs empfängt.

Niemand verlangt, dass Verkehrsunternehmen ihren Kunden im 21. Jahrhundert Kathedralen ans Gleis bauen. Aber Planer könnten sich künftig wenigstens auf die Kerntugenden dieser Bauwerke besinnen und sie als Foyers gestalten, in denen sich die Stadt dem Gast als mondäne Metropole vorstellt, ohne ihm gleich so abgebrüht wie gewinnorientiert an die Brieftasche zu wollen. In München immerhin wurden die Pläne für den neuen Hauptbahnhof abgeschmettert, weil sich die Boutiquen allzu unbescheiden im Gebäude breitgemacht hätten. Doch nicht nur in den neuen Bahnhofsgebäuden pocht das Kommerzherz, auch historische Stationen bekommen den Zeitgeist zu spüren - spätestens bei der fälligen Renovierung der betagten Substanz: Der im neoklassizistischen Stil errichtete Leipziger Kopfbahnhof galt 1915 bei seiner Eröffnung als einer der größten und schönsten Europas. Seine Sanierung wurde mit Umsicht begonnen, aber die Sensibilität hörte auf, als die Bahnverantwortlichen ein lukratives Geschäft witterten. Der Querhalle wurde ein dreigeschoßiges Shoppingcenter implantiert, so monströs glitzernd, als hätte der Bahnhof eine Ladung Discokugeln verschluckt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Wiener Westbahnhof, dessen denkmalgeschützte Halle zwar hübsch hergerichtet wurde - allerdings um den Preis, dass sie nun weniger als Foyer der Stadt fungiert denn als eine Art Vorhalle für die unter ihr in die Tiefe gestapelte Einkaufspassage. Wie hier die Prioritäten gesetzt sind, offenbart schon der Verlauf der Rolltreppe, die von der U-Bahn aufwärts zur Station führt. Der Reisende gelangt zunächst auf die noch eingerüstete Konsumebene - und wird dort von einer steilen Steinstiege empfangen, die jeden Kofferträger das Fürchten lehrt. Also wird er rechts abbiegen und erst im Herzen des Einkaufs-Eldorados eine weitere Rolltreppe vorfinden, die ihn hinauf in die Bahnhofshalle bringt.

Weder machen solche Stationen sonderlich Lust auf die Bahnreise noch auf die Stadt, in der sie daheim sind. Vielmehr verweisen sie autistisch auf sich selbst, sollen dabei aber ungemein weltgewandt erscheinen, nur weil die Ableger internationaler Modelabels und Kaffeehausketten in ihrem Inneren liegen. Großspurig erklären sie sich selbst zur Stadt, um als "BahnhofCity“ oder "RailCity“ ausgerechnet jene Eigenschaft von gewachsenen Metropolen zu übernehmen, die ein Verkehrsknotenpunkt am wenigsten verträgt: Das Gassengewirr historischer Zentren wird auf eine Architektur umgemünzt, die Menschen in Eile sehen sich dafür bestraft, dass sie keine Zeit für eine Einkaufstour haben.

Wer den Berliner Hauptbahnhof mit all seinen übereinandergestapelten, kreuz und quer durch Rolltreppen erschlossenen Ebenen als Reisender erlebt hat, weiß, dass das Selbstverständlichste zu einer Herausforderung werden kann. In dieser Station auf die Schnelle ein Gleis zu finden, wenn möglich sogar das richtige, ist Glückssache.

Ein weiteres Problem legt das Gebäude exemplarisch offen. Das Verhältnis zwischen Bahnhof und der ihn umgebenden Stadt hat sich in den vergangenen Jahren eklatant verschlechtert. Keiner von beiden scheint dem anderen über den Weg zu trauen, und so ließ Berlin seine von Meinhard von Gerkan geplante Station schlicht links liegen, verbannte sie in eine weiträumige Stadtbrache und rammte ihr ein Billighotel vor die Fassade. In Stuttgart will man den umstrittenen neuen Bahnhof gleich ganz aus dem Blickfeld räumen, indem man ihn nach Plänen von Christoph Ingenhoven diskret vergräbt, damit Investoren auf dem Gleisvorfeld endlich ihre Immobilien verteilen können.

In Wien scheint es dagegen neuerdings Mode zu sein, Bahnhöfe zwischen wuchtige Häuser zu klemmen - etwa am Westbahnhof. Ein ähnliches Schicksal blüht dem neuen Hauptbahnhof, der im schiefen Winkel auf den Wiedner Gürtel treffen und sich dort unschön in die Kurve legen wird. Das Hochhaus rechts davon, in dem künftig eine Bank residiert, wirkt im Modell wie ein zu groß geratener Prellbock. Das Dach über den fünf Bahnsteigen ist vorne gewellt, im Mittelteil glatt und hinten keck aufgebogen: ein Bahnhof mit Heckspoiler. Psychologisch betrachtet ist das keine schlechte Idee. Wer künftig in Wien verspätete Züge herbeisehnt, kann sich damit trösten, dass wenigstens das Bahnhofsdach eine ziemlich rasante Angelegenheit ist. Bedauerlicherweise wird das Bauwerk recht ungelenk in das im Entstehen begriffene Geschäftsviertel Quartier Belvedere geschoben werden. Ein Jahrhundertprojekt stellt man nicht in die Stadt wie einen schlecht geparkten Bus - wenngleich es natürlich eine besondere Herausforderung ist, einen Kopf- in einen Durchgangsbahnhof zu verwandeln, weil die Gleise nicht nur auf einer Seite zum Gebäude führen wie ehedem, sondern auf der anderen Seite wieder herauskommen und entsprechend Platz brauchen. Die Empfangshalle muss den Gleisen ausweichen. In Wien soll sie auf der Gürtelseite neben der Trasse kauern. Ob sie großstädtische Grandezza ausstrahlen können wird, muss sich erst zeigen.

Das Spannendste am "Gesamtprojekt Hauptbahnhof“ ist aus heutiger Sicht kurioserweise genau das, was nicht zum eigentlichen Bahnhof gehört: nämlich das Entwicklungsgebiet dahinter, auf dem im Zuge urbaner Verdichtung ein Wohnviertel und ein Bildungscampus am Park entstehen sollen. Bei den Wohnprojekten im so genannten Sonnwendviertel dürfen Interessenten schon früh bei der Gestaltung mitreden und eigene Ideen einbringen. Den Campus wiederum hat das Wiener Büro PPAG als flexible Konstruktion geplant, die sich von der klassischen Typologie eines Schulgebäudes verabschiedet, um den Kindern ein inspirierendes Umfeld zu bieten. Es wäre schön, wenn der hier geschulte Nachwuchs später noch Bahnhöfe kennen lernen dürfte, die weder Konsumtempel noch eigene Städte sein wollen, sondern bloß Bauwerke, die ihrer Kernkompetenz entsprechen und den Menschen als Reisenden ernst nehmen.