Neuordnung am Balkan: Klein-Serbien

Balkan: Klein-Serbien

In Wien wird die Zukunft des Kosovo verhandelt

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Neulich auf einem der beliebten Belgrader Restaurantschiffe, die an der Mündung der Save in die Donau vor Anker liegen: Vier Musiker spielen serbische Schlager und traurige Liebeslieder, in- und ausländische Geschäftsleute singen beseelt mit. Plötzlich verstummen die Ausländer: Das Quartett hat ein Lied aus den Zeiten des schlimmsten serbischen Nationalismus angestimmt: „Wer sagt denn, wer lügt denn, dass Serbien klein ist? Es ist nicht klein, es hat drei Kriege geführt, und mit ein bisschen Glück wird es wieder Kriege führen.“ Serbische Soldaten und Freischärler sangen dieses Lied, als sie in Kroatien, Bosnien und im Kosovo Zivilisten massakrierten und Dörfer niederbrannten. Heute wird es eher zur Folklore gezählt.

Die Realität sieht anders aus. Serbien hat Kriege geführt, alle verloren und wurde jedes Mal ein Stück kleiner. Slobodan Milosevic konnte zwar den Vielvölkerstaat Jugoslawien zerschlagen, doch der Plan, mit Waffengewalt und ethnischen Säuberungen ein „Großserbien“ von der kroatischen Krajina bis zur mazedonischen Grenze zu schaffen, scheiterte. 1995 flüchteten 150.000 Serben aus der Krajina, und im selben Jahr wurde die bosnische Serben-Republik im Friedensvertrag von Dayton zu einem Teil des Staates Bosnien-Herzegowina. Die südserbische Provinz Kosovo steht seit 1999 – nach einem Aufstand der Kosovo-Albaner und der NATO-Bombardierung Restjugoslawiens – unter UN-Verwaltung. Dieses Restjugoslawien heißt seit 2003 offiziell Serbien-Montenegro, und auch diesen Namen wird es nicht mehr lange geben: Am 30. April sollen die 900.000 Montenegriner über die Schaffung eines eigenen Staates abstimmen. Eine Annahme des Referendums gilt als wahrscheinlich (siehe Reportage Seite 74).

Auch der Kosovo könnte in diesem Jahr von der internationalen Gemeinschaft in eine albanisch geprägte Unabhängigkeit entlassen werden. Diesen Montag beginnen in Wien unter Leitung des finnischen UN-Sondergesandten Martti Ahtisaari und seines österreichischen Stellvertreters Albert Rohan direkte Verhandlungen zwischen Serben und Albanern über den Status des Kosovo. In den kommenden Monaten wird im Zuge mehrerer Gesprächsrunden über den Schutz von serbischen Kulturgütern, Eigentumsfragen und die Rückkehr von Flüchtlingen verhandelt.

In der ersten Runde wollen die beiden Verhandlungsteams gleich die schwierige Frage der Dezentralisierung lösen. Die serbische Minderheit des Kosovo verlangt für ihre Gemeinden das Recht auf eine eigene Polizei und Justiz, eigene Steuereinnahmen sowie eine enge Anbindung an Belgrad. Die Kosovo-Albaner wollen zwar Sicherheitsgarantien abgeben, aber keinerlei Autonomie akzeptieren.

Taktik. Die albanischen Verhandler, zu denen der ehemalige Führer der Untergrundarmee UCK, Hashim Thaci, der Journalist Veton Surroi und der neue Präsident Fatmir Sejdiu gehören, treten äußerst selbstbewusst auf und spielen auf Zeit. Die direkten Gespräche mit den Serben seien ohnehin zum Scheitern verurteilt, sagt ein Verhandler, der nicht mit Namen genannt werden will: Deshalb warte man, bis die Serben den Verhandlungstisch verlassen, die internationale Gemeinschaft die Geduld verliert und die Unabhängigkeit des Kosovo verordnet.

Der konservative serbische Ministerpräsident Vojislav Kostunica und seine Entourage tun hingegen so, als könnten sie den Zerfall ihres Staates noch aufhalten. Serbien werde ein montenegrinisches Unabhängigkeitsreferendum nur anerkennen, wenn mindestens 50 Prozent aller Wahlberechtigten – und nicht nur 50 Prozent der tatsächlichen Wähler – für die Unabhängigkeit stimmten, sagt Kostunicas Berater Aleksandar Simic. Kostunica selbst traf vergangene Woche demonstrativ den Führer der oppositionellen, rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS), Tomislav Nikolic, um das Kosovo-Problem zu diskutieren. Man sei sich einig, erklärte Nikolic anschließend, dass im Falle einer Unabhängigkeit der Provinz das serbische Parlament den Kosovo für „besetzt“ erklären und die Bevölkerung zur „Verteidigung der serbischen Souveränität mit allen nötigen Mitteln“ auffordern werde. Kostunica ließ durch einen Regierungssprecher entgegnen, es sei für die nationalen Interessen schädlich, „so zu tun, als ob der Kosovo schon verloren wäre“.

Verloren. Dabei ist der Weg der ehemaligen autonomen serbischen Provinz in die Unabhängigkeit kaum noch aufzuhalten. Am 31. Jänner beschlossen die Außenminister der Kosovo-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Russland, Deutschland, Frankreich, Italien) in London, dass es keine Rückkehr des Kosovo zum Status vor 1999, keine Teilung und keinen Anschluss an ein anderes Land geben dürfe: Belgrad solle akzeptieren, dass eine Lösung des Konflikts „von den Menschen im Kosovo akzeptiert werden muss“.

Vertreter der britischen Regierung formulierten es noch deutlicher: Die Kontaktgruppe habe sich auf einen multiethnischen und unabhängigen Kosovo geeinigt, teilte der Generaldirektor des Londoner Außenministeriums, John Sawers, Vertretern der Kosovo-Serben in der Hauptstadt Pristina mit. Und vergangenen Dienstag erklärte der britische Botschafter Adam Thomson im UN-Sicherheitsrat, dass Kosovos Unabhängigkeit eine Möglichkeit sei, der Region Frieden und Sicherheit zu bringen. „Manche sagen sogar: Es ist die einzige Möglichkeit.“

Das sei psychologische Kriegsführung gegen Serbien, sagt Mira Beham, die in Wien als Vertreterin der serbischen Regierung die Verbindung zum Büro Ahtisaari hält: „Tony Blair ist der letzte Staatschef aus der Zeit des Kosovo-Kriegs, der noch im Amt ist. Er will sein Werk vollenden.“

Der Fahrplan in die Unabhängigkeit stammt jedoch nicht aus London, sondern von Martti Ahtisaari. Der 68-jährige ehemalige finnische Präsident und erfahrene Krisenmanager arbeitet zwar sehr effizient, aber praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als offizielle Adresse des UNOSEK (United Nations Office of the Special Envoy for Kosovo) wird die UNO-City angegeben, tatsächlich befindet sich das Büro mit rund 40 Mitarbeitern in der Wiener Innenstadt, abgeschirmt von der Außenwelt und ohne feste Telefonanschlüsse. Spezielle Gesandte sorgen für den direkten Draht zu den Entscheidungszentralen: der Amerikaner Frank Wisner nach Washington, der Russe Pjotr Iwantsow nach Moskau und der Österreicher Stefan Lehne zu EU-Außenkommissar Javier Solana nach Brüssel.

Ahtisaaris Vertrag mit den UN läuft bis kommenden November. Schon im Juni wolle der Finne einen Bericht mit einer Empfehlung für die weitere Vorgehensweise an Generalsekretär Kofi Annan schicken, erzählt ein Diplomat aus dem Umfeld des Verhandlungsteams. Spätestens im November 2006 soll der UN-Sicherheitsrat über den Status des Kosovo entscheiden. Gibt es keine Verzögerungen, könnte der Kosovo Anfang 2007 selbstständig werden. Vor Beginn der Verhandlungen schickte Ahtisaari allen Botschaftern der Kontaktgruppe Briefe, in denen er eine einheitliche Sprachregelung gegenüber Serben und Kosovo-Albanern anregte. So bekommen die Politiker in Belgrad von Amerikanern und Europäern hinter verschlossenen Türen nun stets das Gleiche zu hören: An der Unabhängigkeit des Kosovo führt kein Weg vorbei.

Schwachpunkt. Ein Schwachpunkt in dieser Strategie ist Russland. Präsident Wladimir Putin betont, dass eine Lösung des Kosovo-Problems universell anwendbar sein müsse. In der Praxis bedeutet dies: Russland wird einer Unabhängigkeit der serbischen Provinz nur zustimmen, wenn sich die russisch kontrollierten Provinzen Abchasien und Südossetien von Georgien sowie Transnistrien von Moldawien abspalten dürfen. Das wiederum wollen weder Europäer noch Amerikaner akzeptieren. Rechtsexperten der EU suchen nach schlüssigen Begründungen, warum der Kosovo ein ganz spezieller Einzelfall sei.

Ein weiteres Problem ist die Europäische Union. Da sich die UN spätestens Ende 2006 aus dem Kosovo zurückziehen wollen, soll die internationale Verwaltung von der EU übernommen werden. Doch die österreichische Ratspräsidentschaft zeigt in dieser Frage kein besonderes Engagement, und eine Planungsgruppe der Union nimmt erst jetzt in Pristina ihre Arbeit auf. Die wichtigsten Fragen bleiben ungeklärt: Wird der Kosovo in Zukunft nach dem Vorbild Bosniens regiert, wo ein „Hoher Repräsentant“ der internationalen Gemeinschaft (derzeit ist das der Deutsche Christian Schwarz-Schilling) Entscheidungen des nationalen Parlaments kippen und Politiker nach Belieben aus dem Amt werfen kann? Soll es im Kosovo weiterhin eine teure Parallelstruktur geben, bei der jeder kosovarische Minister einen internationalen Aufpasser bekommt?

Der größte Risikofaktor ist Serbien. Die Verluste Montenegros und des Kosovo könnten die innenpolitische Krise verschärfen, Premier Kostunica Neuwahlen ausrufen. Schon jetzt regiert er mit einem Minderheitenkabinett, das von den Milosevic-Sozialisten unterstützt wird. Möglich, dass er nach den nächsten Wahlen mit der rechtsradikalen SRS koalieren wird, die derzeit in allen Umfragen vorne liegt. Damit würden dem Land nicht nur die internationale Isolation drohen, sondern weitere interne Konflikte. In der Vojvodina fühlt sich die ungarische, im Sandschak die bosnische und im serbischen Preschevo-Tal die albanische Minderheit von den serbischen Nationalisten bedroht.

Mentalität. Um weitere Abspaltungstendenzen zu stoppen, bedürfte es eines Mentalitätswandels der politischen Kaste in Belgrad. Bislang gelang es dieser nicht einmal, den bis vor Kurzem vom serbischen Militär geschützten, vom Haager Tribunal gesuchten bosnischen Serben-General Ratko Mladic zu finden und zu verhaften.

Nur wenige denken im Augenblick so wie der Belgrader Theaterregisseur Nenad Prokic, der dem Vorstand der kleinen Liberal-Demokratischen Partei angehört. „In Wirklichkeit haben wir alle diese Kriege verloren, und dafür ist ein Preis zu bezahlen“, sagt Prokic. Auf Montenegro und den Kosovo habe Serbien schon längst keinen Einfluss mehr, die Verabschiedung dieser Gebiete würde „uns vor eine Herausforderung stellen: dass wir uns endlich mit uns selbst beschäftigen“.

Von Gregor Mayer, Belgrad, und Bernhard Odehnal