Von einer Begeg-nung der dritten Art

Begegnung der dritten Art

Wurde eine neue Affen-Spezies entdeckt?

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Es war ein dampfend-heißer Mittag tief im Regenwald, als Shelly Williams endlich fand, wonach sie suchte. Auf der Jagd nach einer mysteriösen Affenart, von Einheimischen „Lion Killer“ genannt, war die amerikanische Primatologin stundenlang durch das grüne Dickicht im äußersten Norden der Demokratischen Republik Kongo gestreift. Dann waren sie plötzlich da.

Gegenüber dem britischen Wissenschaftsmagazin „New Scientist“ (Ausgabe vom 9. Oktober 2004) schilderte Williams die genaueren Umstände dieser Begegnung der dritten Art: „Wir folgten ihren Spuren und waren ganz nahe dran. Wir konnten sie im Baumdickicht über uns hören, keine zehn Meter weit. Einer meiner lokalen Begleiter machte das Geräusch einer verwundeten Antilope – und plötzlich kamen vier dieser großen Affen aus dem Dickicht direkt auf mich zu.“
Aber anstatt wie Gorillas zu versuchen, die Eindringlinge durch Drohgebärden zu verscheuchen, oder wie Schimpansen ein wildes Geschrei zu erheben, um Artgenossen zu warnen, schlichen die vier großen Affen ebenso lautlos davon, wie sie aufgetaucht waren. „Ich versuchte noch, ihre Spur zu finden, fand sie aber nicht“, erinnert sich Williams. „Und als ich mich umdrehte, sah ich, dass sich meine lokalen Begleiter hinter Bäumen versteckt hatten.“

Unter der lokalen Bevölkerung in der Region rund um die Städte Bili und Bondo gelten die Tiere als kräftig und furchteinflößend, sie würden eine Körpergröße von fast zwei Metern und das anderthalbfache Körpergewicht von Schimpansen erreichen. Dass sie „Lion Killers“ seien, heißt nicht, dass sie tatsächlich Löwen töten, das Wort „Lion“ steht unter den Englisch radebrechenden Einheimischen für Raubkatzen aller Art. Williams ist wahrscheinlich die erste Wissenschafterin, die diese Tiere – im Juni 2003 – je zu Gesicht bekommen hat. Bisher existieren von den seltsamen Menschenaffen nur vereinzelte, teils durch Kamerafallen aufgenommene Fotos und Videosequenzen. Und wo man wenig sieht und wenig weiß, wächst das Mysterium.

Neue Spezies? Shelly Williams, eine unabhängige, an das Jane Goodall Institute in Silver Spring, Maryland, assoziierte Primatologin, glaubt, dass es sich bei den von ihr gesichteten Tieren um eine neue Spezies der großen Affen handeln könnte. Träfe das zu, dann wäre es eine der erstaunlichsten zoologischen Entdeckungen seit Jahrzehnten. Schon deshalb gibt es genügend Widerspruch unter Wissenschafterkollegen: Denn auch wenn es im Kongo-Becken eine bisher nicht bekannte Affenart geben sollte, so argumentieren sie, dann ist es möglicherweise eine Schimpansenart mit einigen unüblichen Körpermerkmalen und Verhaltensweisen.

Hybrid-Affe? Aber die bisherigen Beobachtungen und Analysen sind so widersprüchlich, dass man meinen könnte,
es handle sich um einen Hybrid-Affen,
eine Mixtur zwischen Gorilla und Schimpanse. Nur: Die bisher dokumentierten Grenzen jenes Gebietes, in dem Gorillas leben, sind sowohl im Osten wie im Westen 500 Kilometer vom Beobachtungsort entfernt. Nach dem Lebensraum müsste es sich um eine Schimpansenart handeln, aber etliche der berichteten Merkmale sprechen dagegen.

So etwa die mächtige Statur der Tiere, die bis nahe an die Größe eines Gorillamännchens reicht. Schimpansen leben außerdem auf Bäumen und bauen auch dort ihre Schlafnester. Aber diese Tiere bauen Bodennester wie Gorillas, benützen sie aber offenbar regelmäßig, was wiederum Gorillas nicht tun.
Die ersten Berichte über die mysteriösen Kongo-Affen liegen bereits mehr als hundert Jahre zurück, als europäische Jäger Fotos von toten Gorillas aus den Regenwäldern im Raum Bili und Bondo veröffentlicht hatten. Im Jahr 1908 brachte ein belgischer Armeeoffizier drei Schädelknochen mit nach Hause, die aussahen wie die Schädelknochen von Gorillas und die vor einigen Jahren tatsächlich als solche identifiziert wurden. Aber zur Zeit ihrer Entdeckung wurden sie von Taxonomen als Schädelknochen einer separaten Unterart identifiziert.

Expedition. Dann waren die Affen von Bili und Bondo jahrzehntelang kein Thema, bis sich im Jahr 1996 der in Kenia lebende Schweizer Wildtierfotograf Karl Ammann für sie zu interessieren begann. Umwelt- und Tierschützer Ammann war wiederholt öffentlich gegen den Verzehr von Affenfleisch in Afrika aufgetreten und hatte in diversen Büchern aufsehenerregende Fotos zum Thema publiziert. Nachdem Schimpansen wie Gorillas vom Aussterben bedroht sind, machte er sich auf die Suche nach den „verlorenen Gorillas“ im nördlichen Kongobecken. Die Einheimischen erzählten ihm von den „Lion Killers“, die mächtige Köpfe hätten wie Gorillas mit dem gleichen knöchernen Schädelkamm, sich aber gegenüber Menschen nicht wie Gorillas, sondern eher wie Schimpansen verhielten. Ammann sammelte über die mysteriösen Tiere so viele Informationen, wie er bekommen konnte, und suchte damit, Wissenschafter für eine Expedition zu gewinnen.
Im Jahr 2001 flog dann tatsächlich ein Team namhafter Primatologen, darunter Georg Schaller von der Wildlife Conservation Society in New York und Richard Wrangham von der Harvard University, bis tief hinter die Rebellenlinien des im Kongo tobenden Bürgerkriegs, um nach den verlorenen Gorillas zu suchen. Anstatt der gesuchten Tiere entdeckten sie Bodennester, wie sie normalerweise von Gorillas bereitet werden. Eine Analyse der in solchen Nestern gefundenen Fäkalien ergab, dass sich die Tiere – typisch für Schimpansen – großteils von Früchten ernährten.

Im darauf folgenden Jahr versuchte es dann Shelly Williams. Die Primatologin verbrachte sechs Wochen in einem von Karl Ammann eingerichteten Lager nahe Bili. Mithilfe der Eingeborenen gelang es ihr, eine Videokamerafalle an einem der Bodennester so zu positionieren, dass diese Bilder von den mysteriösen Affen einfing, die allerdings nicht sehr scharf ausfielen. Demnach haben die Tiere große, schwarze Gesichter und einen gorillaartigen Kopf. Der Körper erinnert an Schimpansen, mit einigen Eigenheiten. „Ihr Fell wird offenbar früh im Leben grau, aber nicht wie bei Gorillas nur am Rücken, sondern am ganzen Körper“, sagt Williams.

Schimpansenschädel. Im Vorjahr ging Williams im nördlichen Kongobecken neuerlich auf die Pirsch, diesmal begleitet von Colin Groves von der Australian National University in Canberra, dem weltweit führenden Schimpansen-Morphologen. Groves untersuchte alle Schädelknochen, die er in der Region finden konnte, und kam zu dem eindeutigen Schluss, dass es sich um die Schädel von Schimpansen handelt, wenngleich mit einigen außergewöhnlichen Merkmalen.
Der Schädelknochen von normalen Schimpansen ist zwischen 190 und 210 Millimeter lang, doch einige der in Bili gefundenen Schädel messen in der Länge mehr als 220 Millimeter. Dazu kommt der ausgeprägte Kamm in der Schädeldecke. „Es gibt keinen Zweifel, dass dieser Schädel von einem Schimpansen stammt, auch wenn dieser Schädelkamm äußerst ungewöhnlich ist“, erläutert Morphologe Groves.

Auch die von Williams angefertigten Gipsabdrücke von entdeckten Fußspuren deuten auf ein ungewöhnliches Tier hin. Die größten dieser Gipsabdrücke sind zwischen 28 und 35 Zentimeter lang – länger als Fußspuren von normalen Schimpansen oder selbst von Gorillas, die eine maximale Länge von 29 Zentimetern erreichen. Groves schickte auch die Kopie eines Fotos, das einen nahe Bondo erlegten Affen und seine Jäger zeigt, an den Taronga Zoo in Sydney. Mehrere dort tätige Schimpansenwärter schätzten das Gewicht des Tieres auf 85 bis 105 Kilogramm. Das bisherige Rekordgewicht eines Schimpansen beträgt 70 Kilogramm.

Williams ist überzeugt, dass es sich bei ihrer Entdeckung um eine völlig neue Affenart handelt. Sie will versuchen, diese These in einem Artikel für das Fachblatt „International Journal of Primatology“ zu belegen. Derzeit steht sie mit dieser These freilich ziemlich allein da. Denn unterdessen haben DNA-Analysen, die am Omaha Zoo in Nebraska und am Center for Reproduction of Endangered Species im kalifornischen San Diego Zoo anhand von Haar- und Stuhlproben der Tiere durchgeführt wurden, keinen Hinweis auf eine neue Art ergeben. „Wir sind ziemlich sicher, dass wir nicht einmal über eine neue Subspezies reden“, sagt Pascal Gagneux, Leiter der Untersuchung in San Diego.