"Beim Gehen gibt es immer Tränen"

"Beim Gehen gibt es immer Tränen": Gerlinde Kaltenbrunner im Interview

Gerlinde Kaltenbrunner im großen Interview

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Interview: Klaus Haselböck

profil: Die beiden höchsten und berühmtesten Achttausender, den Everest und den K2, haben Sie noch nicht bestiegen. Werden Sie einen der beiden heuer in Angriff nehmen?
Kaltenbrunner: Für mich kommt der Everest in der Hauptsaison mit dem ganzen Trubel, der dann dort herrscht, nicht infrage. Der Aufstieg ist zwar schön, mit den Massen an Leuten für mich aber nicht mehr. Am Lhotse – bis auf 7000 Meter Höhe benutzt man ja dieselbe Route – war es voriges Jahr für mich ein befremdendes Gefühl, neben zahlreichen Leuten unterwegs zu sein, die künstlichen Sauerstoff benutzen. Beim K2 hat man hingegen nur im Sommer eine Chance. Dann muss man wieder ein ganzes Jahr warten. Wenn ich gesund bin, gehe ich heuer also zum K2.

profil: Wird das Projekt der 14 Achttausender durch die medialen Erwartungen und den immer wieder diskutierten Wettlauf schon zum Stress?
Kaltenbrunner: Nein, gar nicht. Ich muss nur immer wieder betonen, dass es mir nicht darum geht, die Erste zu sein. Wobei es mir mittlerweile egal ist, ob die Leute das glauben oder nicht. Mir geht es um ganz etwas anderes. Darum stresst mich das auch nicht, wenn es nicht klappt. Die Berge rennen mir nicht davon.

profil: Gehen Sie ohne künstlichen Sauerstoff auf den Everest?
Kaltenbrunner: Auf jeden Fall. Wenn es ohne nicht geht, dann gibt es den Everest nicht für mich.

profil: Sind die 14 Achttausender für Sie abgeschlossen, wenn Sie alle bestiegen haben? Oder würden Sie noch manche auf anderen Routen
besteigen wollen?
Kaltenbrunner: Auf jeden Fall wollen wir zum Nanga Parbat zurückkehren. Als ich mich vom Nanga Parbat verabschiedet habe, empfand ich fast ein wenig Wehmut. Der Berg ist so gewaltig. Ich würde gerne noch eine andere Route auf den Nanga Parbat gehen. Ralf Dujmovits könnte sich das auch gut vorstellen. Ralf ist nicht nur mein Lebenspartner, sondern auch derjenige, mit dem ich am liebsten am Berg unterwegs bin. Da ist ein so stilles Verständnis, das passt einfach.

profil: Können Sie sich vorstellen, einmal eine reine Frauenexpedition zu organisieren oder daran teilzunehmen?
Kaltenbrunner: In einem kleinen Team kann ich mir das schon vorstellen. Aber eine große Expedition mit acht bis zehn irgendwie zusammengewürfelten Frauen, die ich nicht kenne, ist für mich nicht denkbar.

profil: Sind Ihnen Männer als Bergpartner angenehmer?
Kaltenbrunner: Es passt, wenn wir auf einem ähnlichen Level sind. Wichtig ist für mich, verlässliche Partner zu haben. Ob das Frauen oder Männer sind, spielt keine große Rolle. Denn ich bin der Überzeugung, dass Frauen am Berg die gleiche Leistung bringen können wie Männer. Wir Frauen tragen den Rucksack, der genauso schwer ist wie der von den männlichen Teamkollegen, wir spuren genauso und steigen genauso vor wie die Männer.

profil: Wie kommen Sie mit der Hygiene bei Expeditionen zurecht?
Kaltenbrunner: Man kann sich im Basislager regelmäßig mit einer Schüssel mit warmem Wasser waschen, da kann ich mich gut pflegen. Das ist mir am Berg auch wichtig. Bei der Besteigung selber habe ich Reinigungstücher dabei. Mühsam ist der Toilettengang bei minus 30 Grad. Und all die Tipps, wie ich das in meinem Minizelt erledigen kann, funktionieren einfach nicht. Es kostet Überwindung hinauszugehen. Und ausziehen geht wegen dem Wind nicht, deshalb haben alle Kleidungsschichten einen Reißverschluss. Das ist auch ein stetiger Konflikt am Berg: Auf der einen Seite trinke ich enorm viel, oft fünf bis sechs Liter, gleichzeitig steigt dann halt auch ein anderes Bedürfnis.

profil: Wo liegen Ihre Stärken beim Bergsteigen?
Kaltenbrunner: Ich bin sehr willensstark. Wenn ich etwas will, kann ich viel geben. Ich bin am Berg sehr geduldig, auch was das Aussitzen von Schlechtwetter betrifft, und ich bin sehr diszipliniert beim Trinken. Es wäre schön, wenn man ankommt, das Zelt aufbaut und sich hinlegen kann. Aber da weiß ich genau: Jetzt muss ich Schnee holen, jetzt muss ich fünf Liter trinken, und dann erst gibt es Ruhe.

profil: Haben Sie am Berg Momente des Zweifelns, wo Sie sich die Sinnfrage stellen?
Kaltenbrunner: Ich höre das oft im Basislager bei anderen, die sich fragen: „Warum tue ich mir das überhaupt an?“ Das habe ich definitiv noch nie erlebt. Die Sinnhaftigkeit ist für mich immer da. Ich weiß genau, warum ich Berge besteige.

profil: Auch, wenn Sie Unfälle hautnah erleben?
Kaltenbrunner: Auch dann nicht, auch nicht nach dem Lawinenabgang am Dhaulagiri. Das ist Schicksal, das kann passieren, aber es ändert nichts an der Einstellung und an meinem Wunsch, dass ich bergsteigen möchte.

profil: Wie gehen Sie mit Todesfällen am Berg um?
Kaltenbrunner: Nach dem Unglück am K2 im letzten Jahr, bei dem ich Gott sei Dank nicht dabei war, halfen mir sehr die Gespräche mit dem Ralf. Wir setzten uns ganz intensiv damit auseinander, redeten mehrere Stunden. Auch nach dem Dhaulagiri war es das Einzige, was mir geholfen hat, das zu verarbeiten. Denn der Ralf kann sich in mich reindenken, weil er selber vielleicht in einer ähnlichen Situation war und den Berg ganz genau kennt. Er hört mir zu und versteht mich.

profil: Verfolgen Sie solche Situationen auch im Schlaf?
Kaltenbrunner: Ich träume oft von den Expeditionen. Es sind keine schlechten Träume, nach dem Dhaulagiri allerdings schon. Jede Nacht bin ich da in der Lawine gesteckt, das hat mich am Anfang schon verfolgt, aber es ist irgendwann weniger geworden und hat dann aufgehört. Vor Kurzem habe ich erfahren, dass ein Freund bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen ist. Dann träume ich schon wieder von Lawinen, und statt mit den Skiern auf einem ganz sicheren Hang unterwegs zu sein, stehe ich plötzlich in einem ganz gefährlichen Hang. Ich denke auch an den Christian, der unzählige Skitouren gemacht hat, sehr sicher unterwegs war, und ich frage mich, warum er da reingefahren ist.

profil: Sind Sie ein religiöser Mensch?
Kaltenbrunner: Ich bin ein gläubiger Mensch.

profil: Ein Gutteil des Jahres sind Sie unterwegs. Ist Heimweh für Sie ein Thema?
Kaltenbrunner: Nein, Heimweh habe ich als Kind schon nicht gehabt, ich bin gerne fortgefahren. Wenn ich da drüben unterwegs bin in Nepal oder Pakistan, da tauche ich in diese andere Welt ein und bin dort. Wenn es wieder nach Hause geht, dann freue ich mich auf daheim. Und daheim ist schon noch Spital am Pyhrn. Im Schwarzwald fühle ich mich sehr wohl, aber die Heimat ist Oberösterreich.

profil: Wie geht Ihre Familie mit Ihren Expeditionen und den damit verbundenen Risiken um?
Kaltenbrunner: Ich glaube, dass die Familie gut damit umgehen kann. Das war am Anfang nicht so. Aber meine Schwester hat gesagt, sie weiß mittlerweile, dass ich auch umdrehen kann, und das nimmt ihr sehr viel Sorge. Sie freuen sich, wenn ich gut zurückkomme. Beim Gehen gibt es natürlich immer Tränen, weil Abschied halt einfach so ist. Sie haben akzeptiert, dass ich anders bin als meine fünf Geschwister.