Beim Sterben leben

Beim Sterben leben: Wie wir mit dem Tod umgehen

Sterbekultur. Wie wir mit dem Tod umgehen

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Isabelle Degeneve hat mit ihren 67 Jahren noch immer das Gesicht eines jungen Mädchens. Ihr fehlt ein Lungenflügel, der ihr nach einer Krebsdiagnose vor neun Jahren entfernt wurde. Am schlimmsten daran ist eigentlich, dass ihre Stimme nur mehr monoton und ohne Volumen ist. Das Ausdrucksrepertoire ist dadurch schmal geworden. Vor dem Tod und dem Sterben hat sie keine Angst. Bedroht fühlt sie sich nur von den alten Menschen in dem Pflegeheim, in dem sie seit drei Jahren wohnt. Dort fühlt sie sich fremd. Im mobilen Caritas-Hospiz in Wien-Liesing und auf der Palliativstation im „Göttlichen Heiland“ hingegen empfindet sie Schutz und Geborgenheit. Eine chronische Schmerzerkrankung, deren Ursache bis jetzt keiner ausfindig machen konnte und die sich durch jede Faser ihres fragilen Körpers zieht, lässt sie im „Göttlichen Heiland“ viel Zeit verbringen. Sie muss Opiate nehmen, um das alles auch nur irgendwie ertragen zu können.

Wenn sie bei Kräften ist, unterstützt sie dort die Patienten „beim Gehen und Loslassen“, hält ihnen die Hand, streichelt sie, denn berührt zu werden ist vor allem in dieser Endphase wichtig. Wenn jemand stirbt, hilft sie manchmal den Pflegern, den toten Menschen in das „Extrazimmer“ zu verfrachten, und streut dann noch Rosenblätter über den leblosen Körper.

Sie glaubt dar­an, dass die Seele so besser aufsteigen kann. Ihre religiöse Ausrichtung ist eine „Mischung aus Buddhismus und Herz Jesu“. Oft steht sie auf dem Balkon der Station und blickt „auf die Sterne“. Ihr Anblick oder der eines Baums können ihr „nämlich noch fast verwegene Momente des Glücks“ verschaffen: „Die Natur hat so etwas Tröstendes.“

Das Mittagessen ist fertig.
Wie jeden Donnerstag versammeln sich rund ein ­Dutzend Kranke, meist Krebspatienten, um den runden Tisch im mobilen Caritas-Hospiz, das im Gebäude eines Pflegeheims untergebracht ist. Darunter befinden sich auch Ausgeheilte, denn im Zuge ihrer Erkrankung haben viele ihre Freunde und auch den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren und hier einen Fluchtpunkt aus der sozialen Isolation gefunden.

„Menschen in solchen Extremsituationen“, so der Leiter der mobilen Caritas-Hospize, Erich Borovnyak, „überfordern oft ihr Umfeld. Unsere Einrichtungen bieten auch eine Entlastung für die Angehörigen, wir offerieren aber auch für sie selbst seelsorgende Betreuung.“ 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag, falls gewünscht auch mehrmals täglich.
Heute versammeln sich nur Frauen um den Tisch, ein junges Mädchen ist darunter, das seine Geschichte lieber für sich behalten möchte.

„Männern fällt es offensichtlich viel schwerer, aus sich herauszugehen“, begründet eine der Damen das Geschlechter­verhältnis. „Es geht darum, das Leben zu zelebrieren“, kommentiert ein Betreuer die Essgemeinschaft, „deswegen sind diese gemeinsamen Mahlzeiten so wichtig.“

„Oft kann ich es kaum mehr erwarten, dass es Donnerstag wird“, erzählt die inzwischen als geheilt geltende Eveline Knoll. Die Einsamkeit setzte ihr fast mehr zu als ihre Krebserkrankung. Sie war frisch verwitwet, die Familie lag durch Erbstreitereien in Trümmern, und ihre Kinder redeten nicht mehr mit ihr, als sie vor fünf Jahren vor eine Darmkrebsdiagnose gestellt wurde: „Ich war damals so alleine und der glücklichste Mensch, als eine ehrenamtliche Besucherin nach der Operation an meinem Bett saß. Ich hatte zuvor so gebeten, dass man mich zu Weihnachten operiert, weil ich es nicht ertragen konnte, allein zu Hause zu sein. Nach meiner Entlassung fühlte ich mich wie ein Vögelchen, das zwar aufgepäppelt, aber dann aus dem Nest geworfen wurde.“

Die Hospizbewegung ist erstaunlich jung, genauer gesagt gerade einmal 43 Jahre alt. Bis weit in das 20. Jahrhundert war die westliche Gesellschaft mit ihren Sterbenden – vor allem im urbanen Raum – so acht- wie gnadenlos umgegangen. Dem Tod Geweihte wurden in den Kliniken häufig wie „Aussätzige und Störfaktoren eines reibungslosen Ablaufs“ behandelt, so die Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, die einsam und ohne psychologische Betreuung in ihren Betten dahinvegetierten. „Noch schlimmer als die Angst vor dem Tod selbst ist oft die Furcht, einsam zu sterben“, konstatiert der französische Soziologe Philippe Ariès in seinem Standardwerk „Die Geschichte des Todes“.

Hospizgründung.
1967 wurde von der britischen Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin Ciceley Saunders mit dem St. Christopher’s Hospice in London die erste Institution ins Leben gerufen, „in der man der Schmerzkontrolle sowie den Vorbereitungen auf den Tod nachkommen kann“, wie die 2005 ebendort im Alter von 87 Jahren verstorbene Saunders ihren Anspruch damals formulierte. Initialzündung hatte ihr ein Jahrzehnt zuvor die Betreuung des unheilbar kranken Krebspatienten David Tasma in ihrer Funktion als Ärztin gegeben. An dessen Sterbelager entwickelten der Patient und seine Medizinerin gemeinsam ein Konzept, wie man für Tasmas Zustand die besten Rahmenbedingungen schaffen könnte. Tasma starb mit 40 Jahren und hinterließ ihr 500 Pfund und den Satz „Ich werde ein Fenster in deinem Heim sein“. Parallel zu Saunders’ Pionierarbeit stieß die vorrangig in den USA tätige Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross in die Tabuzone des ­nahenden Todes vor. In ihrem bahnbrechenden Werk „Interviews mit Sterbenden“, erschienen 1969, analysierte sie die Bedürf­nisse und durchlebten Prozesse dieser Menschen und entwickelte für Seelsorger, Ärzte, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten Methoden „für eine angemessene Näherung“. Bei Kübler-Ross verwandelten sich die Patienten zu Lehrern: „Mit ihrer Hilfe haben wir gelernt, die Hoffnungslosen aufzusuchen, anstatt sie zu meiden.“ Die 2004 in ­ihrem Haus in Arizona verstorbene Kübler-Ross schaffte es, mit zwanzig Folgebüchern und zahllosen Workshops und Vorträgen weltweit die Begegnung mit dem Tod aus dem Eck der Tabuisierung und Verdrängung zu befreien. Das Magazin „Time“ kürte die gläubige Protestantin für ihre wegweisende Integration des Sterbens in das Leben 1999 zu den „hundert größten Wissenschaftern und Denkern des 20. Jahrhunderts“.

Österreich befand sich lange, was die Hospiz- und Palliativbetreuung betrifft, im Status eines schwerfälligen Entwicklungslands. Mit einem „kulturellen Verzögerungseffekt“ begründet die Historikerin Anne ­Elisabeth Höfler in ihrer „Geschichte der Hospizbewegung in Österreich“ die – im ­internationalen Vergleich – mit nahezu zwanzigjähriger Verspätung eingetretene Verbreitung des Phänomens. Erst im Herbst 1987 begann eine vierzehnköpfige Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft der Caritas mit der Institutionalisierung des ersten mobilen Hospizes in Wien. Der Skandal der „Todesschwestern von Lainz“ und die damit verbundene Traumatisierung der Öffentlichkeit 1988 initiierten eine Wende in der bislang so dramatisch unterentwickelten Sterbekultur des Landes. Eine vom damaligen Gesundheitsminister Harald Ettl einberufene Expertenkommission legte den Grundstein für eine den internationalen Standards halbwegs angepasste ganzheitliche Versorgung von unheilbar kranken Menschen.

Europäisches Mittelfeld.
Ende 2009 befindet sich Österreich mit insgesamt 247 Hospiz- und Palliativeinrichtungen, in denen 2009 neben 785 Vollbeschäftigten über 3000 Mitarbeiter 316.521 Stunden unbezahlte ­Arbeit leisteten, im passablen europäischen Mittelfeld. Seit 2008 sind sogar zwölf neue Einrichtungen dazugekommen. Dennoch ist der Bedarf an Betreuungsmöglichkeiten von Schwer- und Sterbenskranken in Österreich bei Weitem noch nicht gedeckt. Jährlich sterben in Österreich seit 2000 zwischen 74.000 und 77.000 Menschen. Rund 25.000 Patienten – die genaue Zahl kann nicht erhoben werden, da oft zwischen den Einrichtungen gemäß dem Krankheitszustand gewechselt wird – wurden 2009 in Palliativ- und Hospizeinrichtungen versorgt.

Wie das Personal die tägliche Konfrontation mit dem Tod verkraftet, beschreibt die Psychotherapeutin, evangelische Theologin und Dokumentarfilmerin Anita Natmeßnig in ihrem eben erschienenen Buch „Zeit zu sterben – Zeit zu leben“ (bei Styria). „Selbst leiden und nach Hilfe schreien, ja, aber außerhalb“, erzählt die langjährige Palliativschwester Astrid Lessmann dort, „Hospiz ist emotionale Schwerstarbeit, das gilt es zu würdigen – vor allem vor sich selbst. Ich brauche nach der Arbeit reichlich Zeit für mich. Lachen, auch wenn mir nicht danach ist, hilft.“ Fünf Jahre zuvor hatte die ehemalige ORF-Redakteurin Natmeßnig im Wiener Hospiz Rennweg, in dem jährlich 200 Menschen sterben, drei Monate verbracht. Das Resultat ihrer nahezu zärtlichen, aber dennoch ungeschönt wahrhaftigen Beobachtungen war der Dokumentarstreifen „Zeit zu gehen“; keiner der Protagonisten des Films lebt heute noch. „Ich lernte, mich zu entschleunigen“, erzählt sie über ihren Zugang zu den Kranken, „nur so hat man die Möglichkeit, mit Schwerkranken in Kontakt zu kommen. Sie leben in einem ganz anderen Zeitempfinden. Ich lernte, dass sterben ­leben bis zum letzten Atemzug bedeutet. Dass diese Phase zum Leben wie das Säuglingsalter und die Pubertät gehört und dass man in dieser Zeit eben eine besondere Betreuung braucht. Da kann ein Nachmittag auf der Terrasse im Sonnenlicht, wo man die Flugzeuge am Himmel beobachtet, noch wirkliche Lebensfreude hervorrufen. Und ich lernte eine neue Form von Ehrlichkeit.“

Herbert Watzke, medizinischer Leiter der Palliativstation am AKH, definiert die schmale Gratwanderung zwischen Hoffnung und Realität so: „Ich lasse den Patienten spüren, dass er die Wahrheit erfahren kann, sie ihm aber nicht aufgedrängt wird.“

Die Verbreitung falscher Hoffnungen, die sich für den Patienten nie erfüllen werden können, wird in der fortschrittlichen Palliativmedizin nicht mehr betrieben. „So nimmt man den Menschen doch die Möglichkeiten, noch gewisse Dinge zu erledigen oder sich auch noch letzte Träume zu erfüllen“, erklärt Martin Sorge, Pflegeleiter und Hospiz-Koordinator in Wien. Im Rahmen ihrer körperlichen Möglichkeiten wird den letzten Wünschen der Patienten in den Hospizen Rechnung getragen. Besuche in der Oper oder im Kunsthistorischen Museum stehen da auf der Wunschliste oder kleine Reisen in die Natur. Oft ist dabei die Kreativität der Pfleger gefordert. „Ich habe eine Dame begleitet, die noch so gerne einmal auf die Rax wollte“, erinnert sich Sorge mit einem Lächeln. „Sie war aber schon viel zu schwach für so einen Ausflug. Ich habe mich dann zu ihr gesetzt, ihre Hand gehalten, und gemeinsam sind wir dann den Weg, den sie so gern hatte und den ich auch gut kannte, Schritt für Schritt in unseren Köpfen gegangen. Das hat sie sehr glücklich gemacht.“

Zumutbarkeit von Wahrheit.
Das „Geflecht der Unaufrichtigkeiten“, so Werner Schneyder, ist es, was beim traditionellen Sterben für alle Involvierten oft so belastend wird. Nach 43 Jahren Zusammenleben verlor der Autor und Kabarettist 2004 seine Frau Ilse; vier Jahre danach schilderte er das monatelange Martyrium, das ihrer Krebsdiagnose folgte, in dem Buch „Krebs – eine Nacherzählung“ mit radikaler Offenheit. Und übte dabei scharfe Kritik an den lebensverlängernden Maßnahmen angesichts eines ohnehin aussichtslosen Zustands: „Würde ist offenbar keine medizinische Kategorie. Meine Frau wurde zu Chemotherapien regelrecht überredet. Wie mir ein Arzt dann erzählte, wurde ihre auf vier bis fünf Monate bemessene Lebenszeit damit maximal um zwei Monate verlängert.“ Mit der fatalen Nebenwirkung, dass „diese Behandlung auf ihre Verfassung verheerende Auswirkungen hatte“. Das Absurde war, dass ihr die Therapie mehr zugesetzt hat als die Primärerkrankung. Rückblickend wäre, so Schneyder, „uns allen mehr Wahrheit zumutbar ­gewesen“. Denn diese Form der Unaufrichtigkeit multipliziere sich ja ständig: „Die Ärzte erwecken falsche Hoffnungen; der Patient lügt den Angehörigen zuliebe und umgekehrt. Und keiner findet den Mut, dieses Geflecht der Unaufrichtigkeiten zu zerschlagen.“ Irgendwann gab es einen Punkt, wo Ilse Schneyder schon völlig entkräftet dalag und ihrem Sohn Achim die Hoffnung in den Raum stellte: „Und wenn ich dann wieder mobil bin …“ Der Journalist und Autor antwortete seiner Mutter: „Du und wir wissen, dass du nie wieder mobil sein wirst.“ „Mit dieser Antwort hat er sie endlich befreit“, ist Werner Schneyder überzeugt, „meine Frau konnte dann zu Hause sterben.“

In einer Cover-Geschichte (Nr. 6/2010) initiierte profil im Februar eine Debatte über den gigantischen therapeutischen und finanziellen Aufwand, der oft bei Krebspatienten im Endstadium nur die Qualen sinnlos verlängert. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zog mit einer nahezu identen Cover-Geschichte nach. „Wir respektieren die Autonomie der Patienten“, erklärt der Leiter der mobilen Caritas-Hos­pize, Erich Borovnyak, „im Rahmen des WHO-Prinzips, dass Leben nicht künstlich verlängert, aber auch nicht künstlich verkürzt werden soll.“ Mittels Patientenverfügungen können Betroffene, im Falle des Verlusts ihres Bewusstseins, das Prozedere im Vorfeld schriftlich festlegen. Sollte es dazu nicht mehr ­gekommen sein, gibt es das gesetzliche Reglement „des mutmaßlichen Patientenwillens“, den sowohl Angehörige, aber auch Pfleger bestimmen können.

Dass der „Druck Richtung Sterbehilfe und damit assistierten Selbstmord“ durch die Öffentlichkeit steigt, empfindet der Palliativmediziner Herbert Watzke: „Das ist für unser berufliches Selbstbild schwierig. Ärzte müssen aus solchen Entscheidungen her­ausgehalten werden. Ich bin der Ansicht, dass die Rechtssituation so bleiben sollte.“

Die Illusion von friedvollen Abgängen, in der der Sterbende mit einem Lächeln für immer entschlummert, können jene Menschen, deren Arbeitsplatz der nahende Tod ist, kaum bestätigen. „Es gibt immer wieder furchtbare Kämpfe“, erzählt Isabelle Degeneve von den letzten Minuten im Leben von Patienten auf der Palliativstation im „Göttlichen Heiland“.

„Loslassen ist für viele schwierig.
Vor allem für jene, die nicht auf ein erfülltes Leben zurückblicken können.“ „Sterben ist immer eine Tragödie und für niemanden ein Kinderspiel“, bestätigt auch der Wiener Jesuit und Seelsorger Klaus Schweiggl, „auf die Frage eines 34-jährigen Patienten: ‚Warum muss ich jetzt verrecken, was geschieht jetzt mit mir?‘, weiß ich keine Antwort. Aber solange ein Patient Hoffnung leben will, werde ich aus diesem Ballon keine Luft herauslassen. Dazu habe ich kein Recht. Die Art der Hoffnung verändert sich ja auch im Laufe einer Krankheit. Viele sind ja dann oft schon froh, ohne Schmerzen gehen zu können.“

Kinder und der Tod.
Vom Tod gezeichnete Kinder sind generell von einem weit größeren Wahrheitsbedürfnis geprägt als Erwachsene in einer solchen Situation. Die Krankenschwester und Kunsttherapeutin Karin Huber beobachtete für ihre Abschlussarbeit krebskranke Kinder beim Malen: „Kinder akzeptieren den Tod viel schneller als Erwachsene. Oftmals leiden sie mehr unter der Traurigkeit ihrer Eltern als an ihrer eigenen Krankeit.“ Huber konnte bei ihrer Arbeit auch feststellen, dass sich die Kinder immer intensiv mit ihrem aktuellen Empfinden und ihrem gegenwärtigen Gefühlszustand auseinandersetzten. Das Thema Tod war für sie zu abstrakt, weit weg und daher nebensächlich.

„Kinder wollen auch immer die ganze Wahrheit hören. Ich habe erlebt, dass es für viele am schlimmsten war, wenn ihre Eltern sie schonen wollten und belogen haben“, erzählt Huber. Diesen Eindruck hatte auch Barbara Pachl-Eberhart, die Mitglied der „Roten Nasen“ und in ihrer Arbeit als Klinikclown häufig mit schwer kranken Kindern konfrontiert ist: „Ich habe oft Kinder gesehen, die ihre Eltern getröstet haben. Nicht umgekehrt.“ Diese Erfahrung half ihr, als sie später selbst einen tragischen Schicksalsschlag erleben musste. Bei einem Autounfall starben ihr Mann und ihre beiden kleinen Kinder. „Ich habe mir selbst gesagt, dass meine Kinder bestimmt nicht wollen würden, dass ich traurig bin und aufgebe. So wie ich es bei den krebskranken Kindern im Spital gesehen habe“, erzählt Pachl-Eberhart über ihre Trauerarbeit, deren Prozesse sie in dem heuer erschienenen Buch „Vier minus drei“ niederschrieb.

Die von der Sterbeforscherin Kübler-Ross geprägten Stadien, die jeder mit einer tödlichen Diagnose Konfrontierte durchschreite, wie Verdrängung, Wut, Trauer und Akzeptanz, würden sich im Gegensatz zu der Kübler-Ross-Theorie „nicht chronologisch abspielen, sondern abwechseln“, berichtet Anita Natmeßnig aus ihrer Hospizerfahrung.

„Das lächerliche Krankheitstheater“
, wie der lungenkranke Schriftsteller Thomas Bernhard seinen Zustand beschrieb, kann in der Kunst oft zu produktiven Kraftakten führen, die nahezu wie kreative Trotzreaktionen gegen die drohende eigene Sterblichkeit anmuten. Im Angesicht des nahenden Todes liefen etwa der britische Filmemacher Derek Jarman, der französische Schriftsteller Marcel Proust oder die deutschen Künstler Joseph Beuys und Jörg Immendorff zur künstlerischen Hochform auf.

Der kürzlich seinem Lungenkrebs knapp vor dem 50. Geburtstag erlegene Gesamtkünstler Christoph Schlingensief vermengte in seinem monatelangen Todeskampf Wut, Trauer und Ironie zu einem multimedialen künstlerischen Manifest. In seiner am Burgtheater uraufgeführten Krebs-Oper „Mea culpa“ tobten Schlingensiefs Alter Ego Joachim Meyerhoff und der bereits schwer gezeichnete Regisseur selbst „durch einen erweiterten Krankheitsbegriff“, indem sie den Krebs ironisierten, plattwalzten und bis zum Exzess thematisierten. „Krankheit ist die ultimative perverse Kunstform“, notierte Schlingensief in seinem Krebs-Tagebuch „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“. „Sie gibt einem nicht, was man wünscht, aber sie lehrt die Sehnsucht.“

Die Sehnsucht, die Geheimnisse des Todes und Nahtodes zu entschlüsseln, bestimmt nach wie vor die Wissenschaft, die diesbezüglich noch weitgehend im Dunkeln tappt. Wenn ein reputiertes Medium wie die deutsche Tageszeitung „Die Welt“ jüngst die antiaufklärerische Meldung publiziert: „Forscher schließen nun ein Leben nach dem Tod nicht mehr aus“, darf einen das verwundern. Fest steht, dass es in Todesangst durchaus zu halluzinogenen Erlebnissen kommt. „Ich habe meinen vor Jahren verstorbenen Dackel Niki plötzlich ständig im Zimmer gesehen“, erinnert sich die Hospizbesucherin Elisabeth K. mit einem Lächeln an jene Zeit, in der ihr Leben durch eine Lungenkrebsdiagnose sehr überschaubar schien. Gleißendes Licht am Ende des Tunnels, Abheben des Körpers, Flashbacks aus der Biografie – bei den Berichten Überlebender von Nahtoderlebnissen tauchen immer wieder die gleichen Bilder auf. Die heute 68-jährige Wiener Seelsorgerin Hertha F., die im Alter von 23 Jahren durch eine Herzmuskelentzündung fast gestorben wäre, schildert profil ihr damaliges Nahtod-Erlebnis: „Eine innere Stimme fragte mich, ob ich bereit zu sterben wäre. Dann liefen Episoden meines Lebens vor mir ab, in denen ich Fehler begangen hatte. Plötzlich tauchte vor mir ein kleiner Lichtpunkt auf, in den ich immer wieder eintauchte. Dann war ich nur mehr von Licht und Energie umgeben und fühlte mich unendlich glücklich.“

Für solche „transzendenten“ Erfahrungen gibt es eine naturwissenschaftliche Erklärung. „In Extremsituationen schaltet der Körper auf Mechanismen um, die ihn diesen Zustand als angenehm empfinden lassen“, erklärt der deutsche Gerichtsmediziner Mark Benecke, der selbst eine solche Erfahrung bei einem Bootsunfall gemacht hatte, „diese biochemischen Prozesse sind mit der Wirkung von halluzinogenen Drogen vergleichbar.“ Das Gefühl, aus seinem eigenen Körper aufzusteigen, versuchten jüngst schwedische Forscher mithilfe eines ausgeklügelten Systems von Kameras und Videobrillen zu entschlüsseln. Mit dem Fazit, dass das Gehirn in solchen Momenten die Sinneseindrücke nicht mehr verarbeiten kann und durch verschobene Perspektiven ein solches Abheben wahrnimmt. Der niederländische Internist Pim van Lommel sammelt seit den siebziger Jahren Hunderte Berichte von Nahtod-Erlebnissen. Nach einer Studie mit reanimierten Herzstillstand-Patienten kam er 2001 zu der These, „dass das Bewusstsein auch nach dem Tod weiter existiert“. Van Lommel verglich das Prinzip mit einem TV-Gerät: „Ist der Apparat kaputt oder defekt, können die Programme oder Sender durchwegs weiter existieren.“ Diese These wird von Neurologen und Hirnforschern jedoch als wissenschaftlich nicht nachvollziehbar eingestuft.

Exhibitionismus.
Die universale Sehnsucht nach Unsterblichkeit schlägt sich eben auch in der Wissenschaft in skurrilen Ausformungen nieder. Die Mediengesellschaft hat sich mit der „ultimativen Kränkung der Menschheit“, so die Definition des britischen Autors Julian Barnes, in den letzten Jahren auf nahezu gespenstische Weise arrangiert. Einen radikalen Tabubruch beging die Schauspielerin und Darmkrebspatientin Farrah Fawcett, als sie sich in der Endphase ihres Leidens 2009 von Kameras für eine NBC-Dokumentation begleiten ließ und gegen Ende des Films schluchzte: „Ich wünschte, es wäre vorbei, es tut so weh!“ Im schonungslosen Exhibitionismus ihres Verfalls erstrebte die knapp nach der Ausstrahlung Verstorbene die totale Symbiose mit der Öffentlichkeit und gerierte sich als Märtyrerin der Mediengesellschaft. Kurz davor hatte sich schon die britische Big-Brother-Containerbewohnerin Jane Goody mit einer unheilbaren Krebsdiagnose ins Rampenlicht gerückt. Ihr Entschluss, „vor den Kameras zu leben und auch zu sterben“, sollte sich in Bargeld bezahlt machen. Sterben als Zuschauersport und Quotenfeger. Nur in der letzten Stunde ihres Lebens zeigte sich Goody unerwartet vor dem ultimativen Ausverkauf ihres Krebses geläutert und ersuchte, die Kameras abzudrehen.

Philosophische Anekdoten und andere Geschichten rund um den Tod erzählt Julian Barnes in seinem neuen Buch „Nichts, was man fürchten müsste“. Der 330-Seiten-Essay diente dem britischen Schriftsteller als Therapie gegen die eigene Sterbepanik. Zwar erfreut sich Barnes bester Gesundheit, aber er wachte trotzdem nachts immer wieder auf, drosch mit dem Polster auf sein Bett ein und brüllte: „Nein, nein, ich will nicht sterben!“

In seinem Buch zitiert Barnes den französischen Philosophen Montaigne, der angesichts der Tatsache, „dass wir den Tod nicht besiegen können“, in seinen „Essais“ zum Gegenangriff blies und schrieb: „Wir müssen seiner ständig gegenwärtig sein. Wer auf den Tod gefasst ist, befreit sich aus dessen Knechtschaft. Wer andere das Sterben lehrt, der lehrt sie zu leben.“

Mitarbeit: Tina Goebel, Sebastian Hofer

Lesen Sie im aktuellen profil 44/2010 ein Interview mit der Journalistin Beate Lakotta über ihr Buch "Noch mal leben vor dem Tod".

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort