Belastungsproben

AKWs. Risikoforscher Burgherr schätzt, mit wie vielen Langzeitopfern nach einem GAU zu rechnen ist

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Die Lage ist nach wie vor sehr ernst“, lautete der Stehsatz, den die Internationale Atomenergieorganisation IAEO in der Vorwoche ihren Updates zur Situation im japanischen Kernkraftwerk Fukushima 1 voranstellte. Alles Weitere klang nach Beruhigung: Kühlwasser werde in die Reaktoren 1 bis 4 geleitet, die Temperatur im Reaktor 1 sei von 281 auf 251 Grad Celsius gesunken, im Reaktor 2 von 177 auf 181 Grad Celsius leicht gestiegen. Partielle Kernschmelze ja, große Kernschmelze nein. Das Grundwasser sei wahrscheinlich bereits verstrahlt. Die am Donnerstag der Vorwoche von dem AKW-Betreiberunternehmen Tepco verbreitete Horrormeldung, im Grundwasser unter den Reaktoren habe man einen 10.000-fach erhöhten Wert von radioaktivem Jod gemessen, beruhe auf einem Messfehler (dem zweiten binnen weniger Tage), suchte die japanische Atomaufsichtsbehörde zu beruhigen. Aber die japanische Regierung stellt sich auf „einen langen Kampf“ ein.

In der Wiener Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik werden unterdessen weltweite Daten über die gestiegene Strahlenbelastung gesammelt. Wie Gerhard Wotawa, Leiter der Stabsstelle Daten/Methoden/Modelle, berichtet, lässt sich ein geringfügiger Anstieg von Jod- und Caesium-Werten auch in unseren Breiten feststellen, doch seien sie weit von einer Gesundheitsgefährdung entfernt: „Die Daten der Messstationen in Tokio und Okinawa liegen sechs Größenordnungen über den europäischen Werten, aber selbst diese sind nicht gesundheitsgefährdend.“ Das hochsensible Messnetz habe zwar in den ersten fünf bis sechs Tagen nach dem Reaktorunglück eine hohe Freisetzung von Radioaktivität gemeldet, „aber seit einigen Tagen geht die Strahlenbelastung zurück“, so ­Wotawa.

Gerätselt wird nach wie vor über die tatsächlichen Strahlenwerte rund um das Kraftwerksgelände. Für die 20-Kilometer-Sperrzone werden keine Daten bekannt gegeben, aber das japanische Wissenschaftsministerium veröffentlicht täglich detaillierte Messwerte aus Gebieten außerhalb dieser Zone für alle japanischen Präfekturen. Die Daten aus den nach wie vor bewohnten Bereichen der Präfektur Fukushima sind teilweise hoch genug, um ein erhebliches Gesundheitsrisiko für die dort lebende Bevölkerung darzustellen. Die Behörden rieten 136.000 Bewohnern in dem ­zwischen 20 und 30 Kilometern vom Kraftwerk entfernten Gürtel, die Gegend entweder zu verlassen oder in den Häusern zu bleiben.

Die am Donnerstag der Vorwoche in einem Radius von 70 Kilometern vom Kraftwerk landeinwärts gemessenen Werte sind höchst unterschiedlich. Sie liegen je nach Messpunkt zwischen 0,1 und 55,6 Mikrosievert pro Stunde. Der höchste Wert wurde unmittelbar an der Sperrzone, 20 Kilometer vom Kraftwerk entfernt, gemessen. Aber noch außerhalb eines 30-Kilometer-Radius zeigten einige Messstellen Werte zwischen 21,5 und 38,0 Mikrosievert pro Stunde. Zum Vergleich: Als gesundheitlich unbedenklich gilt eine Strahlendosis von 0,0001 Mikrosievert pro Stunde. Allerdings: Eine einzige Computertomografie verursacht eine Strahlenbelastung von 6900 Mikrosievert. Wohl aufgrund der vorherrschenden Windrichtung wurden die höchsten Strahlenwerte in Gegenden nordwestlich vom Kraftwerk gemessen.

Das renommierte Schweizer Paul Scherrer Institut (PSI) hat erst kürzlich eine von der EU in Auftrag gegebene Vergleichsstudie über die Unfallrisiken verschiedener Energieträger veröffentlicht. Fragestellung 1: Wie hoch ist die Opferzahl bei der Energieproduktion durch Kohle, Öl, Gas, Wasserkraft, Kernkraft und erneuerbare Energieträger? Dabei wird die Eintrittswahrscheinlichkeit in Toten pro Gigawattjahr ausgedrückt, was einen direkten Vergleich zwischen den Energieträgern erlaubt.Fragestellung 2: Wie hoch ist die Zahl der unmittelbaren und der Langzeitopfer bei einem maximal möglichen Unfall? Ergebnis: Bei Öl, Gas, Wasserkraft ist die Zahl der möglichen unmittelbaren Opfer hoch, die Zahl der Langzeitopfer gering. Bei der Kernkraft ist es umgekehrt. Die Zahl der unmittelbaren Opfer ist gering, aber die Zahl der Langzeitopfer kann in die Zigtausende gehen. Dadurch schneidet die Kernkraft schlechter ab als Kohle, Öl, Gas und Wasserkraft. Gerechnet nach Todesopfern pro erzeugte Energieeinheit, stehen aber die Kernkraft und die Wasserkraft in den industrialisierten Ländern deutlich besser da.

Das in Villigen bei Zürich ansässige PSI ist mit 1300 Forschern die größte Forschungseinrichtung der Schweiz. Einige der Wissenschafter lehren an den beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen Zürich und Lausanne, umgekehrt forschen auch etliche ETH-Professoren am PSI. Ursprünglich war das Institut auf Energieforschung spezialisiert. Mittlerweile sind die Forschungsbereiche weiter gefächert – von Materialwissenschaften über Life Sciences bis zu Anwendungen in der Medizin. Das PSI betreibt auch einen Protonenbeschleuniger für spezielle Krebstherapien.
Im profil-Interview sagt Peter Burgherr, Leiter der vergleichenden Risikostudie über verschiedene Energieträger, die Gesellschaft müsse entscheiden, welches Risiko sie zu tragen bereit sei. Die Wissenschaft könne nur die Grundlagen dafür liefern. Im Gegensatz zu manchen österreichischen Risikoforschern lässt Burgherr dabei erkennen, dass er keine politische Agenda verfolgt, sondern Risiken und Eintrittswahrscheinlichkeiten nach strenger Wissenschaftlichkeit gegeneinander abwägt.

Mehr zum Reaktorunfall in Japan, sowie ein ausführliches Interview mit Risikoforscher Peter Burgherr, finden Sie im aktuellen profil 14/2011