Männerrituale

Beschneidung: Das umstrittene Ritual aus feministischer Perspektive

Beschneidung. Höchste Zeit, das umstrittene Ritual aus feministischer Perspektive zu betrachten

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Juli, im Garten meiner Eltern südlich von Wien. Wir sitzen im Schatten der Rotbuche, und ich erzähle meinem Sohn Adam, der gerade acht Jahre alt geworden ist, dass hier im Haus am achten Tag seines Lebens seine Brit Mila stattgefunden hat. "Meine Beschneidung? Iiih!“, sagt er. "Komm lieber schaukeln!“

Aber so war es. Unser Garten wurde von den Party-Organisatoren Chaja Molcho und Joshua Elbaranes in ein Schlaraffenland verwandelt. Der Oberrabbiner sang jiddischen Rap, die Hochzeitsband, die wir über die Gemeinde in der Seitenstettengasse organisiert hatten, spielte die Musi, und der gesamte Clan mit all unseren Freunden von hier und da tanzte auf der Wiese Hora. Und vorher war der kleine Adam eben vor den Bücherwänden im Wohnzimmer meiner Eltern von Wiens bestem Mohel beschnitten worden. Der Beschneider ist im Zivilberuf übrigens der koschere Fleischhauer aus dem zweiten Bezirk.

"Er ist waaasss?“
, hatte ich drei Wochen zuvor bei der ersten Besprechung gefragt. Oberrabbiner und Kindesvater blickten mich aus ihren großen, warmen Augen vorsichtig an. Ich kenne diesen Blick. Ohne dass die beiden einander ansahen, wusste ich, dass sie das Gleiche dachten: "Das wird schwierig.“ Ich legte meine Hände auf meinen kugelrunden Bauch und sagte: "Wir machen die Beschneidung gleich im Spital, abseits der Öffentlichkeit. Der Fleischhauer kommt mir nicht an mein Baby heran. Und damit basta.“

3000 Jahre Tradition aber wiegen schwer.
Adams Vater lehnte die medizinische Krankenhausbeschneidung ab. Acht Tage nach der Geburt hatten sie mich so weit, dass ich den Assistenten des Meisterbeschneiders/Fleischhauers akzeptierte, der ist nämlich Kinderarzt. Ich hatte auch der privaten Zeremonie zu Hause zugestimmt - allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als wir endlich anfingen, waren aber alle Gäste, die zum Fest nachher eingeladen worden waren, schon da. "Willst du es wirklich riskieren, dass der Assistent die Beschneidung macht, der ist noch unerfahren!“, erhöhten die religiösen Autoritäten noch in letzter Minute den Druck.

Vor lauter Gebetsschals sah ich mein Baby nicht mehr. Der Oberrabbiner, der Mohel und sein Assistent, der Kindesvater, dessen Vater, Freunde und der Patenonkel bildeten eine Mauer um mein kleines, acht Tage altes Baby. Es wurde gebetet und gesungen, alle waren aufgeregt. Ich war aus dem Kreis ausgeschlossen. "Es ist besser für dich, wenn du nicht zuschaust“, sagte der Rabbiner mitfühlend, aber bestimmt zu mir. Mein Schwiegervater hielt das Baby, die Beschneidung war kurz und schmerzlich, der Bub krähte kurz auf, der Mohel verband die Wunde, hob das Baby hoch, reichte es mir. Die Männer hatten ihren Job erledigt und verzogen sich in den Garten.

Als Feministin und Atheistin, in Wien in einer ursprünglich katholischen Familie aufgewachsen, hätte ich meinem Kind und mir diese Brit Mila gern erspart. Ich bin aber aus historischer Höflichkeit und aus Liebe zu einem Israeli 1995 zum Judentum übergetreten. Meine Kinder sind deshalb Juden. Familienfeste mit religiösem Hintergrund zu feiern, fand ich immer in Ordnung, wir feiern sowohl die jüdischen wie die christlichen Feste, und meine Kinder genießen die Vorteile ihres weiten kulturellen Hinterlands. Bei der Beschneidung aber stößt mein Verständnis für Familientradition an seine Grenzen.

Um Missverständnissen vorzubeugen:
Ich bin dagegen, dass ein Gericht die Beschneidung verbietet. Egal, ob aus religiösen oder medizinischen Gründen beschnitten wird - meinem Gefühl nach liegt die Zirkumzision gerade noch in jenem Bereich, der besser privat als vom Staat geregelt wird. Bei Juden und Muslimen ist die Beschneidung zentraler Bestandteil des religiös-kulturellen Kontextes, weder die einen noch die anderen werden sich das verbieten lassen. In Amerika und Großbritannien ist die Beschneidung aus medizinischen Gründen durchaus gebräuchlich, jeder zweite Amerikaner wird beschnitten. Nicht einmal innerhalb des (fälschlich so genannten) christlichen Abendlands wäre eine EU-Richtlinie zum Beschneidungsverbot durchzusetzen.

Die gesamte Diskussion über Vor- und Nachteile der Beschneidung ist meiner Meinung nach Vorwandgeplauder. Natürlich sind Ausreden erlaubt, wenn man über Sex reden will. Das kann ja auch ganz lustig sein. Nur kurz zur Klärung, bevor wir uns dem Ernst des Themas zuwenden. Erstens: Medizinische Vorteile des beschnittenen Penis? Umstritten. Wer daran glaubt, kann ja im Spital eine Zirkumzision vornehmen lassen.

Dabei muss man wissen:
Es ist ein größerer Eingriff als das Durchstechen von Ohrläppchen. Es schränkt die physischen und psychischen Fähigkeiten eines Mannes aber später nicht ein. Gott hat von Abraham ja deshalb nur die Vorhaut gefordert, weil sie an sich verzichtbar ist. Zweitens: Sind beschnittene Männer die besseren Liebhaber? Das können wirklich nur Männer ernsthaft diskutieren - von der Vorhaut hängt es sicher nicht ab.

Die Bedeutung der Beschneidung aber ist ideologisch interessant. In der Wüste wie in der Wiener Innenstadt geht es und ging es den religiösen Autoritäten immer um das eine: riot control. Wenn Männer nicht an Sex denken, dann beschäftigen sie sich traditionell mit der Kontrolle der Gesellschaft und ihrer Stellung in der Hierarchie in der Gemeinschaft.

Im Falle der Beschneidung geht es darum, dass die Männer einander zeigen, wer wem in der Öffentlichkeit die Hosen runterziehen darf. Sigmund Freud hat darauf hingewiesen, dass der Vater durch die Beschneidung den Sohn dem Vaterprinzip unterwirft. Der Vater unterstellt sich damit auch seinem Gott. Der Rabbiner begibt sich durch seine Anwesenheit ebenfalls moderierend in die hierarchische Reihe.

Historisch gesehen war die Zirkumzision ein Fortschritt - sie ersetzte das Menschenopfer, das dazu diente, böse Götter sanft zu stimmen. Vor Einführung der Beschneidung wurden Männer nach Eroberungen gegebenenfalls kastriert, da war das Abschneiden der Vorhaut noch ein Glück.

3000 Jahre später aber könnte man fragen, ob’s nicht wieder mal ein bisserl Reform sein darf.

In London war am Tag des Kölner Gerichtsentscheids eine jüdische Mutter zu einer BBC-Debatte auf Radio 4 (Ö1 auf Oxfordenglisch) geladen. "Als Feministin und Mutter muss ich sagen, dass mir die Beschneidung unerträglich ist, auch wenn ich als Jüdin verstehe, dass sie zu unserer Kulturtradition gehört“, sagte sie. "Wir müssen eben eine neue Lösung finden.“ In London ist an jeder zweiten Ecke eine Reformsynagoge, an der jeweils anderen befindet sich eine orthodoxe. Oder eine Moschee. Oder ein Pub. Die Juden in England haben es eben leichter. Reform wird nicht automatisch als verkappter Genozid-Versuch verstanden.

In Berlin und Wien dagegen stehen immer jahrhundertelanger Rassenhass und die Schoah mit im Raum. Auch wenn hinter dem aufklärerischen Eifer des Kölner Richters nicht unbedingt antiislamische oder antisemitische Ressentiments stehen müssen, zeigt doch ein Blick auf die vox populi in Postings zum Thema, dass in den ehemaligen Holocaust-Nationen jede Debatte, die mit fremden Gebräuchen zu tun hat, einen furchtbar bitteren Beigeschmack bekommt. Das macht die Beschneidungsdebatte heute auch so schwierig. Eine jüdische religiöse Zeremonie bedeutet in Wien eben auch, dass die Juden Hitler überlebt haben. Das können wir auch beim besten aufklärerischen Willen nicht einfach außer Acht lassen.

Gerade deshalb sollte der moderne Mittelstand der Juden und Muslime in Deutschland und Österreich die Diskussion über die Reform seiner Religionen nicht rassistischen Bloggern überlassen. Ich würde mir eine Bewegung innerhalb der Gemeinden wünschen, die fordert, dass die Buben zumindest vor der öffentlichen Demütigungszeremonie geschützt werden. Wie oft habe ich in den vergangenen Jahren gehört, dass die Mütter mit der Ohnmacht kämpfen, während ihre kleinen Söhne im Nebenraum beschnitten werden. Als Frauen am Beginn des 21. Jahrhunderts finden wir ja auch andere religiöse Traditionen nicht mehr toll, wieso wird dieses Männerritual unwidersprochen hingenommen?

Nach dem Kölner Gerichtsurteil fürchtete ein Rabbiner gleich: "Wenn das Gericht uns die Beschneidung verbietet, wird das jüdische Leben unmöglich gemacht.“ Ist das nicht etwas engstirnig, wenn nur 50 Prozent der Judenheit faktisch davon betroffen sind? Übergebt doch den Frauen die Macht in der Gemeinde! Denen würde in der Frage "Bund mit Gott“ schon etwas einfallen, das auch sie einbezieht. Um ein Kind in einer Familie oder Gemeinde willkommen zu heißen, kann man ja auch ein Fest machen, bei dem aus Freude und nicht aus Schmerz geweint werden darf.

Von allein aber werden die Männer ihre machtsichernden Rituale nicht aufgeben. An meiner eigenen Geschichte kann ich sehen, wie schwierig es ist, zwischen altertümlichen Traditionen und Errungenschaften der Moderne einen gangbaren Weg zu finden. Zumindest aber kommen Reformen immer besser, wenn sie von innen betrieben werden. Die österreichische und deutsche Gesellschaft sind ja auch längst nicht so säkular, wie ich es gern hätte. Ich würde mir auch von Christinnen wünschen, dass sie endlich gegen die Männerherrschaft in der katholischen Kirche Sturm laufen. Und Jüdinnen und Musliminnen könnten die Beschneidungsdebatte doch zum Anlass nehmen, frischen Wind unter die Gebetsschals, die Gebetsteppiche, die Kopftücher und Perücken zu blasen!

Wir schreiben 2012 nach Christus, nicht davor. Nach jüdischer Rechnung sind wir überhaupt schon im Jahre 5772 angelangt. Seit dem Eintreffen Mohammeds in Medina sind 1433 islamische Jahre vergangen. Zeit für alle, endlich in der Moderne anzukommen.

Mein Sohn Adam sitzt wieder auf der Schaukel. Der Meisterbeschneider/Mohel hat seine Sache vor acht Jahren sehr gut gemacht. Ein wichtiges Detail der Geschichte wurde am Ende unseres Festes nur dank der investigativen Qualitäten der ehemaligen profil-Journalistin Erika Wantoch ans Tageslicht gebracht. "Was passiert eigentlich mit der abgeschnittenen Vorhaut?“, wollte sie von mir gleich nach der Beschneidung wissen. Ich sah sie entgeistert an, die religiösen Autoritäten erzählten es ihr. Bei den Juden werden auch einzelne Körperteile beerdigt, so ein Vorhäutchen wird also keineswegs einfach in den Mistkübel geworfen. Im Gegenteil.

Es wurde im Garten meiner Eltern vergraben.