Reichskristallnacht vor siebzig Jahren

"Besonders radikal": Die Reichskristallnacht vor siebzig Jahren - eine Rekonstruktion

'Ostmark' übertrumpfte den Rest des Reichs

Drucken

Schriftgröße

Es begann in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938, einem Freitag. Als erste in der „Ostmark“ wurde die Synagoge in Graz in Brand gesteckt, ihre Metallkuppel stürzte um 1.30 Uhr ein. In Wien begann die „Judenaktion“, so die NS-Diktion, knapp nach 4 Uhr früh, um 17 Uhr wurde über Rundfunk der Abbruch bekannt gemacht. In den 13 Stunden dazwischen geschah allein in Wien: die Verhaftung von 6547 jüdischen Männern, die Vernichtung von 42 Tempeln und Bethäusern, die Schließung von 5000 Geschäften jüdischer Inhaber, sie waren großteils geplündert und zerstört.

Die „Reichskristallnacht“ trug sich überwiegend nicht im Dunkeln, sondern am helllichten Tag zu. Das Wort war sarkastisch-bitter vom Berliner Volksmund geprägt worden, zynisch wurde es von den Nazis übernommen. In ihrem Sinn wurde der Novemberpogrom tatsächlich zum „Kristall“: Denn jene Milliarde Reichsmark an „Sühneleistung“, die Juden im Zuge des Geschehens auferlegt wurde, schaffte der „sehr kritischen Lage der Reichsfinanzen“ Abhilfe, wie Hermann Göring, der Vierjahresplan-Verantwortliche, eine Woche danach zufrieden bemerkte.

Die NS-Propaganda nützte als Auslöser lang vorbereiteter Pläne, Juden durch Terror zur Ausreise zu treiben und auf ihr Vermögen zuzugreifen, das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan am 7. November in Paris: Grynszpan hatte „aus Protest gegen die Barbarei Hitlers“ auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath geschossen. Herschel Gryn­szpans Schicksal ist ungeklärt: Er wurde aufgrund der Annahme, er werde im Prozess homosexuelle Beziehungen des Diplomaten behaupten, nie vor Gericht gestellt.

Das Telegramm über vom Raths Tod erreichte Adolf Hitler am Abend des 9. November in München während des Empfangs von Parteiprominenz und Gauleitern zur Erinnerung an den Hitlerputsch von 1923. In seinem Tagebuch hielt Propagandaminister Joseph Goebbels die unheimliche Strategie fest, den gesamten NS-Herrschaftsapparat gegen die jüdische Bevölkerung einzusetzen und gleichzeitig den „Volkszorn“ gegen sie von der Leine zu lassen. Goebbels: „Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen.

Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen … Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln … Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun die Meldungen ein: 50, dann 7(5) Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet 2(5) – 30.000 Juden sofort zu verhaften. Das wird ziehen.“

„Fürchterliche Arbeit“. Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, gab per Blitztelegramm die Losung aus: „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die eine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums nicht mit sich bringen. Z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung.“ Von der „fürchterlichen Arbeit“ sind bisher keine Fotos bekannt. Der SD zog alle während der „Judenaktion“ „gemachten Fotos“ ein. Es gibt wenige Aufnahmen über brennende Synagogen.

Die vorhandenen Akten zeugen von Eifer und Zynismus. Ein SD-Mann in Wien machte für die Empörung der Zuschauer „die im Zusammenhang mit den Verhaftungen vorkommenden Exzesse der jüdischen Frauen“ verantwortlich. In Innsbruck verkündete Gauleiter Franz Hofer um ein Uhr nachts, „es sei notwendig, dass sich auch in Innsbruck die kochende Volksseele gegen die Juden erhebe“. SS-Oberführer Hans Feil gab Auftrag, Kultusvorsitzenden Richard Berger „aus dem Weg zu räumen“. Berger und zwei weitere Innsbrucker Juden wurden in dieser Nacht ermordet. Der Tiroler SD: „Falls Juden keinen Schaden erlitten haben, dürfte das darauf zurückzuführen sein, dass sie übersehen wurden.“

Der Schlussrapport über die Vernichtung des Tempels und jüdischen Besitzes in Klagenfurt lautete: „Die Aktionen wurden von den Formationen der NSDAP in Zivil durchgeführt. Die Zerstörungen wurden mit allen dafür geeigneten Mitteln, z. B. Äxten, Tischfüßen und dergleichen, durchgeführt“. Juden wurden landesweit verfolgt.

„Inbrandsetzung“. Allein aus Graz wurden 300 Juden „am 11. November um 18.15 Uhr per Bahn in ein KZ überstellt“. Die Synagoge und „die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof wurden eingeäschert“. In Salzburg traten Parteiangehörige „im Durchschnittsalter von 20 bis 35 Jahren“ in Aktion, die Bevölkerung soll laut SD infolge der geringen Anzahl an Radiohörern „in keiner Weise beteiligt“ gewesen sein. 70 Männer wurden verhaftet, die Synagoge und jüdische Geschäfte zerstört. Über „Oberdonau“ wurde gemeldet, da im Gau „nur 650 Juden wohnen, ist der Aktion keine größere Bedeutung beizumessen“. Zwei SA-Männer wurden wegen „öffentlicher Schändung“ einer jüdischen Frau ins KZ Dachau überstellt, sollten dort aber keine „entehrende Arbeit“ tun.

In Wien wurde der Stadttempel in der Seitenstettengasse gegen zwei Uhr unter dem Kommando Adolf Eichmanns gestürmt, verwüstet und besetzt, wegen der dichten Verbauung aber nicht in Brand gesteckt. Ab 4 Uhr fuhren dann bei Wiens „Tempeln und Bethäusern Rollkommandos des VT (Anm. Verfügungstruppe der SS) vor und begannen mit Handgranaten das Inventar für die Inbrandsetzung vorzubereiten. Innerhalb von zwei bis drei Stunden waren sämtliche in Brand gesetzt.“ Die Feuer wüteten in der ganzen Stadt: Am Vormittag des 10. November wurden über Radio alle dienstfreien Löschkräfte zum Einsatz beordert – zum Schutz an die Synagogen grenzender Häuser. Ebenfalls um 4 Uhr früh bekamen die Polizeiämter Befehl, „wohlhabende Juden zu verhaften, sie aus größeren Wohnungen zu entfernen und die Angehörigen in kleineren Wohnungen unterzubringen“.

„Fließendes Blut“. Die Gejagten wurden auch in die Sofiensäle gesperrt, von den NS-Granden sonst für pompöse Veranstaltungen genützt. Tausende brachte man in die Polizeireitschule. Eines der Opfer schrieb später: „Wir hatten Juden in solcher Menge noch nie massiert gesehen. Wir schätzten sie auf etwa 4000 Mann.“ Und weiter: „Wahnsinniges Geschrei im Hause, brutale Hiebe, fließendes Blut, waren das noch Menschen?“ Nach fünf Tagen folgte die Deportation in das KZ: „So absurd es klingt, für uns war nach den vielen unmenschlichen und unberechenbaren Ausschreitungen Dachau fast eine Erholung.“ (In: Hans Safrian/Hans Witek: „Und keiner war dabei“, Picus Verlag, 2008).

Darüber, was sich in den Straßen der Stadt zutrug, schrieb der Führer des SD-Unterabschnitts Wien, Trittner: „Die Aktion gegen die jüdischen Tempel erregte naturgemäß großes Aufsehen, es sammelten sich ungeheure Menschenmassen an … und soweit sie nicht daran gehindert wurden, begannen sie auch selbst, sich aktiv an den Aktionen zu beteiligen.“ Mitleid mit dem Los der Juden, so der SS-Mann, sei fast nirgends laut geworden, „allzu große Judenfreunde“ habe man festgenommen. In seinem neuaufgelegten Standardwerk „Nationalsozialismus in Wien“ (Mandelbaum Verlag) schreibt Historiker Gerhard Botz: „In welchem Ausmaß auch einfache ,Volksgenossen‘, Nachbarn, ,arische‘ Konkurrenten und auf persönliche Rache Bedachte am Novemberpogrom beteiligt gewesen sind, ist nicht genau erfassbar.“ Doch dass sich auch Teile der nicht NS-organisierten Bevölkerung in Wien an den Ausschreitungen beteiligten, gelte als belegt. Seinen Forschungen nach sind in Österreich aus Anlass der „Reichskristallnacht“ zwanzig bis dreißig Juden ermordet worden. Das NS-Parteigericht zählte für das gesamte „Reich“ 91 Pogromopfer.

Historiker Botz hat sich auch der umstrittenen Frage nach der Intensität des Novemberpogroms in Wien beziehungsweise Österreich gestellt. Seine Antwort: „Hierzulande war der Pogrom besonders radikal, was die Zahl der verletzten, getöteten und verhafteten Juden, die Heftigkeit, die populäre Eigendynamik und die ökonomischen Konsequenzen anlangt.“ Göring sagte am 12. November in Berlin an die Adresse der SS-Führung, es wäre ihm „lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet“. Wiens Gauleiter Odilo Globocnik war über die zweitausend auf einen Schlag freigemachten Wohnungen erfreut. Und Joseph Bürckel, Reichskommissar in der „Ostmark“, meinte zu den geraubten Millionenwerten: „Vor allem aber brauchen wir die Waren, insbesondere für den Weihnachtsverkehr.“

Von Marianne Enigl und Sebastian Hofer

Gedenken am 9. November in Wien: 11 Uhr, Theater in der Josefstadt, Buchpräsentation Angelika u. Michael Horowitz: „Verdrängen, Vergessen, Verzeihen“; 11 Uhr, Volkstheater: „Zeitzeugen berichten“; 14 Uhr, Veranstaltung des Parlaments, Palais Epstein.