Bibelwissenschaften: Die Familie Jesu

Bibelwissenschaften: Die Familie Jesu - War Maria Jungfrau oder mehrfach verheiratet?

War Maria Jungfrau oder mehrfach verheiratet?

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Kaum einer der Kaufwütigen, die am 8. Dezember die Geschäfte stürmen, kennt den Grund, warum dieser Tag als Feiertag gilt. Nach christlicher Lehre hatte die Gottesmutter zu „Mariä Empfängnis“ nämlich keineswegs ihren Sohn Jesus empfangen. So mancher Christ wunderte sich schon, warum Jesus bereits 16 Tage später zur Welt kam und nicht erst nach neun Monaten. Die reale Bedeutung des seit mehr als tausend Jahren gefeierten Festes besteht laut christlicher Tradition darin, dass Jesu Großeltern Joachim (Jojakim) und Anna (Hannah) an jenem Tag ihre Tochter Maria gezeugt hatten und dass diese dabei „unbefleckt“ geblieben sei. Nach christlicher Lehre bekommt nämlich jeder Mensch schon bei der Zeugung von seinen Vorfahren die Last der „Erbsünde“ aufgebürdet. Maria jedoch sei davon verschont geblieben, was sie dann als Mutter Jesu qualifizierte.

Seit Jahrhunderten zeichnet die katholische Kirche das Bild einer jungfräulichen Maria, die mit ihrem Ehemann Joseph nie sexuell verkehrte, daher außer dem göttlichen Jesus keine Kinder gebar und ihr Leben lang sündenfrei blieb. Umso mehr mag es viele Menschen verwundern, dass das Neue Testament von Geschwistern des Jesus berichtet und sogar deren Namen nennt. Bibelwissenschafter und Vertreter christlicher Konfessionen beantworten die Frage unterschiedlich, ob es sich dabei wirklich um leibliche Geschwister Jesu handelte. Jedenfalls dürfte einer seiner Brüder, genannt Jakobus, eine maßgebliche Rolle in der urchristlichen Gemeinde gespielt haben.

In seinem kürzlich erschienenen Buch „Die Jesus-Dynastie“ stellt der renommierte Forscher James D. Tabor, Leiter der Abteilung für Religionswissenschaften an der University of North Carolina, nun die These auf, dass mehrere Brüder des Jesus zentrale Rollen im frühen Christentum gespielt hätten, dass aber die Erinnerung an sie absichtlich verwischt worden sei. Außerdem würden viele Elemente des heutigen Christentums gravierend von der authentischen einstigen Botschaft Jesu abweichen.

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Bücher und Filme erschienen, welche von Jesus höchst unterschiedliche Bilder zeichnen. Manche Autoren sehen in ihm einen sozial engagierten Aufrührer, andere einen frommen, nachdenklichen Prediger. In seinem fiktiven Roman „Sakrileg“ sagt der US-Schriftsteller Dan Brown Jesus sogar ein Naheverhältnis zu Maria Magdalena nach. Im Gegensatz zu solchen zumeist spekulativen Schriften konnte aber auch die wissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahre viele neue Fakten über Jesus und seine Umgebung herausarbeiten.

Johannes. Es war eine unruhige Zeit, in die Jesus hineingeboren wurde. Als im Jahr 4 v. Chr. der von Rom eingesetzte und als äußerst gewalttätig bekannte König Herodes der Große starb, kam es in ganz Palästina zu Aufständen, weshalb die Römer den Feldherrn Varus nach Galiläa schickten, der tausende Aufständische entlang der Straßen kreuzigen ließ. Die nahe von Jesu Heimatort Nazareth gelegene Stadt Sepphoris ließ Varus komplett zerstören. Es war dies übrigens jener Varus, dessen Truppen im Jahr 9 n. Chr. im Teutoburger Wald von germanischen Kriegern niedergemetzelt wurden.

Über Jesu frühe Jahre ist wenig bekannt. Wie Marias Ehemann Joseph wird auch er in der Bibel als „tekton“ apostrophiert, was zumeist als Zimmermann übersetzt wird, aber auch generell am Bau tätige Menschen bezeichnet. Archäologen vermuten, Jesus könnte beim Wiederaufbau von Sepphoris mitgearbeitet haben. Erst durch das Zusammentreffen mit seinem nach frühchristlicher Überlieferung entfernten Verwandten Johannes, genannt der Täufer, betrat Jesus die historische Bühne. Johannes rief die Menschen zur moralischen Umkehr auf, wobei dieser innerliche Neuanfang durch eine Taufe, ein Untertauchen im Jordan, gefeiert wurde. Johannes spielt im Neuen Testament eine eher untergeordnete Rolle, was vermutlich daran liegt, dass seine Bedeutung verblasste, als Jahrzehnte später die christliche Lehre von Christus als Gottessohn formuliert wurde. Nach Tabors Analyse sei die große Bedeutung des Johannes absichtlich verwischt worden, um Jesus umso mehr herauszustreichen.

Schon bisher hatten christliche Theologen Probleme zu erklären, warum Jesus von Johannes getauft wurde und nicht umgekehrt. Vermutlich war Johannes ursprünglich der bekanntere Prediger und Jesus nur einer seiner Jünger. Eine bestimmte Textstelle im Lukas-Evangelium (11,1) lässt sich laut Tabor sogar dahingehend interpretieren, dass das Vater-unser-Gebet nicht von Jesus stamme, sondern von Johannes dem Täufer. Allerdings ist die Stelle mehrdeutig. Entweder baten die Jünger Jesus um das von Johannes gelehrte Gebet, oder sie baten ihn um ein Gebet von der Art, wie auch Johannes eines gelehrt hatte.

Zahlreiche uralte Schriften belegen übrigens, dass die Menschen zu dieser Zeit nicht einen, sondern zwei Erlöser erwarteten: einen Priester und einen König, bei deren Ankunft mit Gottes Hilfe ein gerechtes Zeitalter, ein Reich Gottes auf Erden, beginnen würde. Mit dem Auftreten von Johannes und Jesus schien diese Prophezeiung nun einzutreffen. Aus allen Richtungen strömten die Menschenmassen zu den beiden Predigern.

Experte Tabor, der seit Jahren auch archäologische Forschungen in Palästina durchführt, stieß bei jüngsten Grabungen auf Bildreliefs, die möglicherweise direkte Hinweise auf die von Johannes und Jesus ausgeübte Tauftätigkeit liefern könnten. Während der jahrelangen, im Frühjahr 2006 abgeschlossenen Grabungen legte Tabor gemeinsam mit dem israelischen Archäologen Shimon Gibson eine Höhle bei Suba nahe Jerusalem frei, unweit vom einstigen Geburtsort des Johannes. An den Höhlenwänden fanden die Forscher Ritzzeichnungen, die einen gestikulierenden, offenbar predigenden Mann in einem Fellschurz darstellen sowie einen abgetrennten Kopf und ein Schwert auf einem Teller. Diese Darstellungen stammen vermutlich von Pilgern aus dem 5. Jahrhundert und zeigen wohl Johannes, der bekanntlich enthauptet wurde. Unterhalb vieler Schichten mit Relikten aus der islamischen Zeit, der Kreuzfahrerepoche, der byzantinischen und römischen Kultur stieß das Grabungsteam auf tausende Gefäßscherben, die aus der Zeit Jesu stammen und neben einem Wasserbecken verstreut waren. Tabor hält es für möglich, dass hier eine Art Reinigungstaufe stattfand, wie sie Johannes und Jesus praktiziert hätten. Diese Deutung ist allerdings umstritten.

Anfang des Jahres 28 ließ Herodes Antipas, der Herrscher von Galiläa, Johannes verhaften. Laut Markus-Evangelium wegen der von Johannes öffentlich vorgebrachten Kritik, der verheiratete Herodes habe seinem leiblichen Bruder die Ehefrau weggenommen. Der jüdische Historiker Josephus gibt hingegen als Grund an, Herodes sei über den wachsenden Einfluss des Johannes auf die Bevölkerung beunruhigt gewesen.

Im Süden, in Judäa, wo sich Jesus aufhielt, provozierte der inzwischen an die Macht gekommene römische Statthalter Pontius Pilatus die Bevölkerung durch Missachtung ihrer religiösen Traditionen. Die daraufhin aufkeimenden Unruhen schlug er blutig nieder. Die Römer wollten Stabilität, und ein Prophet wie Jesus, Nachfahre des Königs David, der die Volksmassen mobilisierte und von einem kommenden gerechten Reich sprach, störte diesen Plan. Jesus verließ daher mit seinen Anhängern den Raum Jerusalem und wanderte nach Norden, in eine abgeschiedene Region von Galiläa. Nach einiger Zeit im Verborgenen versammelte sich die wachsende Gruppe, zu der auch viele Frauen gehörten (Lukas 8,1), in Kafarnaum am Ufer des Sees Genesareth.

Die zwölf. Jesus wählte aus dem Kreis seiner engsten Vertrauten zwölf Männer aus, denen nach christlicher Lehrmeinung spirituelle Aufgaben wie Predigen und Heilen zugedacht waren (siehe Kasten auf Seite 114). Neuere Hypothesen halten es für möglich, dass sie in einem zukünftigen „gerechten Reich“ auch symbolisch oder real „über die zwölf Stämme Israels“ herrschen sollten, wie dies beispielsweise bei Lukas (22,30) angedeutet wird.

Einige der zwölf aufgelisteten Apostel kommen im Neuen Testament häufig vor, andere werden nur genannt, ohne dass wir Details über sie erfahren. Zu dieser im Dunkel bleibenden Gruppe gehören Jakobus der Jüngere, Judas Thaddäus und Simon der Zelot. Tabor präsentiert in seinem Buch verschiedene Indizien dafür, dass es sich bei diesen drei um Brüder Jesu handeln könnte. Tatsächlich berichtet die Bibel von Geschwistern Jesu und nennt im Markus-Evangelium (6,3) sogar ihre Namen (siehe Kasten auf Seite 114). Drei der vier Brüder tragen die Namen Jakobus, Judas und Simon – dieselben Namen wie jene Apostel.

Während die evangelische Kirche die Existenz von leiblichen Brüdern Jesu für denkbar hält, gehen andere christliche Glaubensrichtungen davon aus, dass es sich um Cousins oder Söhne Josephs aus erster Ehe handelte. So sind etwa für die katholische Kirche leibliche Brüder Jesu schwer vorstellbar, da das Bild einer keuschen Jungfrau Maria nicht mit Kinderreichtum zusammenpasst. Auch hinter diesem Punkt glaubt Tabor Absicht zu erkennen: Die wichtige Rolle dieser Geschwister sei in vielen Texten unkenntlich gemacht worden, um die menschlichen Facetten Jesu zu verwischen und seine göttliche Natur hervorzustreichen.

Markus Öhler, protestantischer Experte für das frühe Christentum und Professor am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft der Universität Wien, hält diesen schon oft erhobenen Vorwurf einer absichtlichen Unkenntlichmachung für falsch. Denn dann wäre nur schwer erklärbar, warum die Brüder nicht komplett aus den Texten gelöscht worden sind. Im Gespräch mit profil hält Tabor dieser Überlegung entgegen, dass es wohl auch keine generelle Instanz wie etwa ein Konzil gegeben habe, die sich darum gekümmert hätte. Wenn, dann geschah es langsam und schrittweise, wie etwa eine Textanalyse der Apostelgeschichte nahelegen könnte.

Ob jene drei Brüder tatsächlich mit den Aposteln identisch sind, lässt sich nicht belegen. Die Namensgleichheit könnte genauso gut Zufall sein. Die Vermutung, dass jene Apostel mit den „Herrenbrüdern“ identisch seien, gibt es jedoch schon länger. Beispielsweise bezeichnen alte Gebetstexte in der Wiener Minoritenkirche und in der Kirche Am Hof den Apostel Judas Thaddäus ausdrücklich als „Verwandten unseres Herrn“. Auch im bereits 1965 mit kirchlicher Erlaubnis gedruckten 840-seitigen Lexikon „Das Jahr der Heiligen“ werden die Jesusbrüder beiläufig mit den gleichnamigen Aposteln gleichgesetzt. „Herrenbruder“ wird dort allerdings in katholischer Tradition als Cousin verstanden. Angebliche Knochenüberreste dieser drei Apostel befinden sich übrigens in der Reliquiensammlung der Wiener Schatzkammer, wo die Habsburger eine erhebliche Menge an Devotionalien zusammengetragen haben, darunter ein angeblicher Zahn von Johannes dem Täufer und ein angebliches Tischtuchfragment vom Letzten Abendmahl. In der Annakirche in der Wiener Innenstadt wird eine mumifizierte Hand verwahrt, die von Jesu Großmutter Anna stammen soll.

Höchst gegensätzlich sind auch die Interpretationen, welche die Gottesmutter betreffen. Laut Johannes-Evangelium (19,25) hatte Maria eine gleichnamige, mit einem gewissen Klopas verheiratete Schwester. Peter Arzt-Grabner, Papyrologe und katholischer Neutestamentler im Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte an der Universität Salzburg, verweist auf die Tatsache, dass in einem römischen Umfeld zwei Schwestern durchaus den gleichen Namen tragen konnten. Weil das in jüdischen Familien nicht gut denkbar wäre, erblickt nun Tabor in beiden Marias ein und dieselbe Person, nämlich die Mutter Jesu. Da von Joseph nach Jesu Geburt in der Bibel nie wieder die Rede ist, hält er es für möglich, dass die verwitwete Maria nach Josephs frühem Tod dessen Bruder Klopas geheiratet hat, wie es jüdischer Tradition entsprach.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass sowohl der Apostel Jakobus der Jüngere (den Tabor als Bruder Jesu sieht) als auch Jesu Bruder Simon in manchen Textstellen als „Sohn des Alphäus“ bezeichnet werden. Alphaios ist jedoch die griechische Übersetzung des Namens Klopas, was laut Tabor auch bedeuten könnte, dass Jesu Brüder vielleicht Kinder jenes Klopas waren. Diese Interpretation wird jedoch von anderen Experten als eher spekulativ eingestuft.

Aufbruch. Als Johannes der Täufer auf Befehl von Herodes Antipas enthauptet wurde, zog sich Jesus mit seinen Anhängern in den Raum Bethsaida am See Genesareth zurück – ein Gebiet, das knapp außerhalb von Herodes’ Machtbereich lag (Lukas 9,10). Mehrere Apostel stammten aus diesem Ort. Wo immer Jesus hinkam, strömten Menschenmassen herbei, um ihn zu sehen und zu hören. Zuweilen war der Andrang derart beträchtlich, dass Jesus mit seinen engsten Vertrauten in einem Boot auf den See flüchten musste, um in ein anderes Dorf zu rudern. Reste eines Fischerbootes aus dieser Zeit wurden 1986 am Westufer des Sees bei Magdala im Schlamm gefunden, als der Wasserspiegel nach langer Trockenheit stark absank. Das acht Meter lange Boot stammt aus der Zeit zwischen 100 v. und 70 n. Chr.

Wahrscheinlich war die wachsende Unruhe in der Bevölkerung der Auslöser, dass in den Reihen der Priesterschaft und bei Anhängern des Herodes Antipas der Entschluss reifte, die Aktivitäten von Jesus zu beenden (Markus 3,6). Trotzdem entschloss sich Jesus im Frühjahr des Jahres 30, mit seiner wachsenden Anhängerschaft nach Jerusalem zu ziehen. Unterwegs wählte er 72 Jünger aus und schickte sie in Zweiergruppen voraus in alle Siedlungen, damit sie dort verkündeten, dass „das Reich Gottes nahe sei“. Nahezu die gesamte Bevölkerung von Galiläa machte sich zu dieser Zeit auf den Weg nach Jerusalem, um dort das Passahfest zu feiern, das an den einstigen Auszug der Juden aus Ägypten erinnert. Zum Kern der Gruppe um Jesus gehörten die zwölf, unter denen sich laut Tabor auch Jesu Brüder befanden, sowie seine Mutter und seine Schwestern, aber auch Maria Magdalena und Salome, die Mutter der Apostel Jakobus und Johannes.

Tabor verweist auf viele Symbole, die nur bei Kenntnis des Alten Testamentes verständlich werden. Einen Blinden, der bei Jericho inmitten einer Menschenmenge Jesus laut als „Sohn Davids“ anspricht, versuchen die Jesus-Getreuen zum Schweigen zu bringen. Denn diese Bezeichnung war mehr als brisant, hätte sie doch Jesus als Messias oder rechtmäßigen König Israels ausgewiesen, was gefährlich gewesen wäre, weil es die Römer als Hochverrat interpretiert hätten. Als Jesus auf einem Eselfohlen in Jerusalem Einzug hält, breiten die Menschen vor ihm Kleidungsstücke und Zweige aus. Mit diesen Symbolen begrüßen sie ihn als ihren König, denn im Psalm 118 heißt es, das Volk würde jenen Mann mit Zweigen begrüßen, der im Namen Gottes komme. Und der Prophet Sacharja (9,9) hatte prophezeit, der zukünftige König würde demütig auf einem Esel in Jerusalem eintreffen.

Jerusalem. Religionswissenschafter stimmen darin überein, dass die Berichte über Jesu Verurteilung zum Tode von Bearbeitern deutlich antijüdisch überzeichnet wurden. Alle vier Evangelien wurden nach dem großen jüdischen Aufstand gegen Rom (66 bis 73 n. Chr.) geschrieben, zu einer Zeit, als Rom von antijüdischen Resentiments geprägt war. Wenn die christliche Bewegung in diesem Umfeld Anhänger gewinnen sollte, mussten jüdische und antirömische Elemente weitgehend verwischt werden. Nun war Jesus an einem römischen Kreuz gestorben, das ließ sich nicht verheimlichen. Zumindest wurde die Geschichte so gedreht, als hätte der Römer Pilatus Jesus unbedingt freilassen wollen. Nur weil die jüdische Volksmenge „Ans Kreuz mit ihm!“ rief, habe Pilatus nachgegeben und seine Hände in Unschuld gewaschen.

Laut Matthäus-Evangelium (27,25) schrie das Volk sogar: „Jesu Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Der Schauspieler, Regisseur und Produzent Mel Gibson, der einer fundamentalistischen christlichen Sekte nahesteht und jüngst mit antisemitischen Äußerungen Aufmerksamkeit erregte, wiederholt in seinem Hollywood-Epos „Die Passion Christi“ – neben anderen historischen Fehlern – genau dieses unausrottbare Klischee, dass „die Juden Jesus auf dem Gewissen haben“. Tatsächlich hätte der wegen seines Jähzorns und seiner Rachsucht berüchtigte Pilatus wohl nicht gezögert, selbst den kleinsten Unruhestifter zum Tod zu verurteilen. Vorwürfe wie die „Bedrohung der inneren Ordnung des Landes“ oder die „Anmaßung, König oder Messias von Israel zu sein“, genügten Rom in jedem Fall, um jemanden ans Kreuz zu schlagen.

Nachfolge. In der im Neuen Testament enthaltenen Darstellung, wie sich die Anhängerschaft des Jesus in den folgenden Jahren weiterentwickelte, ortet Tabor erneut Anzeichen einer Verfälschung historischer Tatsachen. Nach römisch-katholischer Lehre hat der Apostel Petrus die Führung der verwaisten Bewegung übernommen. Er und Paulus hätten als „Säulen des jungen christlichen Glaubens“ fungiert und in der gesamten römischen Welt gepredigt, schließlich auch in Rom selbst, das später zur Welthauptstadt der katholischen Kirche aufstieg. Petrus’ Autorität als „erster Papst“ wurde dabei zu einem Grundstein der katholischen Dogmatik. Tabor hält diese Version für eine Geschichtsfälschung. Er verweist auf zahlreiche frühchristliche (aber nicht in der Bibel enthaltene) Textquellen, die ausdrücklich sagen, dass nicht Petrus, sondern Jesu Bruder Jakobus die verwaiste Jesus-Gemeinde anführte. So steht es beispielsweise bei Eusebios, der damit Aussagen der Kirchenschriftsteller Klemens von Alexandria und Hegesippos zitiert. Auch das nicht in der Bibel enthaltene Thomas-Evangelium (Spruch 12) nennt Jakobus als Anführer, ebenso die „Aufstiege des Jakobus“ (griechisch: Anabathmoi Iakobou).

Die Bibel jedoch scheint die führende Rolle des Jakobus fast völlig zu verschweigen. Versteckte Andeutungen finden sich nur im Galaterbrief des Paulus. Auch die Verwandtschaft des Jesus wird weitgehend ausgespart, wohl um dessen göttliche Natur herauszustreichen. Jakobus habe nach der Kreuzigung Jesu zweifellos eine wichtige Rolle eingenommen, konzediert der Salzburger Papyrologe Arzt-Grabner. Es habe im frühesten Christentum wohl keine einheitliche Bewegung und daher keinen gemeinsamen Anführer gegeben. Um die Rolle des Jakobus zu würdigen, brauche man die Bedeutung anderer Gestalten wie Paulus oder Petrus nicht zu negieren. Dass die vor allem durch Jakobus vertretene „judenchristliche“ Richtung nach relativ kurzer Zeit wieder verschwand (die zu Recht als Bewegung innerhalb des Judentums gesehen werden könne), sei laut Arzt-Grabner ein großer Verlust.

Zu dieser Zeit dürfte es zu gröberen Auseinandersetzungen zwischen dieser „judenchristlichen“ Gruppe in Jerusalem und der „heidenchristlichen“ Gruppe um den im Mittelmeerraum missionierenden Paulus gekommen sein. Die Jakobus-Gruppe sah ihr Ziel offenbar ähnlich wie Jesus in einem Aufruf zu moralischem Handeln innerhalb der bestehenden jüdischen Religion. Die Paulus-Gruppe hingegen formulierte eine weitgehend neue Theologie, die nach Tabors Ansicht gravierend von der authentischen Botschaft Jesu abwich und die auch unser heutiges Christentum prägt (siehe Kasten links).

Was aber geschah mit den Jesus-Anhängern in Judäa? Jesu Bruder Jakobus wurde im Jahr 62 auf Veranlassung der Tempelpriester gesteinigt. Die Bibel berichtet darüber nicht mehr, jedoch schreiben der jüdische Historiker Josephus und die christlichen Schriftsteller Eusebios und Epiphanios darüber. Epiphanios berichtet, dass ein gewisser „Simon, Sohn des Klopas“ (laut Tabor also der Bruder von Jakobus und Jesus) Zeuge des Mordes war und vergeblich versucht habe, diesen zu verhindern. Simon wurde Nachfolger des Jakobus, wie Eusebios berichtet. Tabor schließt aus all diesen Texten, dass die ursprünglich von Johannes und Jesus geleitete Bewegung tatsächlich von Jesu Brüdern Jakobus, Simon und vielleicht sogar Judas Thaddäus weitergeführt wurde.

Während die Wissenschaft über das paulinische Urchristentum recht gut Bescheid weiß, liegt das weitere Schicksal der Jesus-Anhänger in Judäa weitgehend im Dunkeln. Als in Palästina erneut ein massiver Aufstand ausbrach, legten 50.000 römische Soldaten im Jahr 70 Jerusalem in Schutt und Asche. Eusebios und Epiphanios berichten von Überlieferungen, dass die von Simon angeführte Gruppe ins Land östlich des Jordans geflüchtet war und sich dort zerstreute. Als im Jahr 132, zur Regierungszeit Hadrians, in Palästina ein weiterer Aufstand ausbrach, wurde Jerusalem endgültig zerstört und als römische Kolonie Aelia Capitolina wieder aufgebaut. Auf den Trümmern des jüdischen Tempels entstand ein Jupiter-Heiligtum.

Ebioniten. Die Nachfahren jener ausgewanderten Jesus-Anhänger, so genannte Ebioniten, lebten im 4. Jahrhundert östlich des Jordan. Laut Eusebios lehnten sie die Christus-Lehre der Großkirche ab und sahen in Jesus einen Menschen, der auf natürliche Weise von „Maria und ihrem Mann“ gezeugt worden sei (Kirchengeschichte 3,27). Weiters beharrten sie auf der Befolgung der jüdischen Gesetze und lehnten die Lehren des Paulus mit der Begründung ab, Paulus sei ein Verräter des ursprünglichen Glaubens. Eusebios, ein Freund des römischen Kaisers Konstantin, verurteilte alle Ansichten der Ebioniten als verdammenswerte Irrlehren.

Im Nachwort zu seinem Buch schreibt James D. Tabor, er wolle mit seinen Forschungsergebnissen und Schlussfolgerungen nichts „niederreißen“ und keine religiösen Gefühle verletzen. Es sei nicht einfach, inmitten der vielen Texte und Lehrmeinungen die authentischen Botschaften von Johannes, Jesus und Jakobus zu finden. Eine solche wissenschaftlich fundierte Suche sei aber ein zentrales Bedürfnis vieler Menschen und eine faszinierende Aufgabe für die historische Wissenschaft. Sie ermögliche eine Rehabilitation und Würdigung der großen Persönlichkeiten Johannes, Jakobus und anderer Mitglieder der Familie Jesu, und sie biete faszinierende Einblicke in den eigentlichen, bleibenden und provozierenden Kern seiner Lehre. Von Gerhard Hertenberger