Bildung: Der Sputnik-Schock

Bildung: Der Sputnik-Schock - Ergebnis des PISA-Tests dramatischer als befürchtet

PISA-Test 2003: Ergebnis dramatischer als befürchtet

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Wolfgang Schüssel mag pointierte Formulierungen. Den Sachverhalt, dass Österreich weder über nennenswerte Erdölvorkommen noch über Gold- oder Diamantenminen verfügt und deswegen die künftige Prosperität und Wettbewerbsfähigkeit des Landes von der Ausbildung der Jungen abhängt, fasst der Bundeskanzler in seinen Reden bisweilen kurz und prägnant so zusammen: „Der einzige Rohstoff, den Österreich hat, ist jener zwischen den Ohren.“

Das Problem: Die Förderung des Rohstoffs ist ins Stocken geraten.

Seit zwei Wochen gelangen tröpfchenweise Einzelergebnisse der so genannten PISA-Studie, die weltweit das Bildungsniveau von 15-/16-jährigen Jugendlichen vergleicht, an die Öffentlichkeit. Schon was bisher bekannt wurde, sorgte für einen Herbststurm im Blätterwald: „Die PISA-Pleite“ („Kleine Zeitung“), „Schlechte Noten für die Schule“ („Kurier“), „Tiefer Sturz vom schiefen Turm“ („Wiener Zeitung“). Und die „Kronen Zeitung“ fragte bang: „Verlernen unsere Kinder das Lesen?“

Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, im Zivilberuf Volksschullehrerin, kalmierte: „Ich sehe keinen Grund, in eine nationale Depression zu fallen.“

Der Jammer dürfte dennoch groß sein, wenn am Dienstag dieser Woche der bisher streng unter Verschluss gehaltene PISA-Bericht offiziell freigegeben wird. Denn die nationalen Ergebnisse der profil vorliegenden Studie sind im Detail noch dramatischer als befürchtet. Österreich wird im internationalen Vergleich zur Bildungslücke. Die Schulinspektoren von PISA stellen ein katastrophales Zeugnis aus.

In der Kategorie „Mathematikkompetenz“ fallen die heimischen Schüler im Vergleich zu den Gleichaltrigen in den anderen getesteten 28 OECD-Ländern vom 11. auf den 15. Rang zurück. Ein Fünftel der heimischen Jugendlichen verfügt über eklatante Mängel in Mathematik. Konnte Österreich in der Kategorie „Lesekompetenz“ im Jahr 2000 den 10. Platz unter den OECD-Staaten erlangen, landeten unsere Schüler bei PISA 2003 auf Rang 19. Österreich gehört laut der Studie damit zu jenen Ländern, „deren Lesewert sich innerhalb von drei Jahren signifikant verschlechterte“. Zum Fiasko geraten die Ergebnisse in der „Naturwissenschaftskompetenz“. Österreich stürzt vom 8. auf den 20. Platz ab und befindet sich damit laut Studie „signifikant unterhalb des OECD-Schnitts“. Nahezu alle Nachbarländer inklusive der EU-Neulinge Ungarn, Slowakei und Tschechien schneiden besser ab. Erstmals wurde bei PISA 2003 die „Problemlöse“-Kompetenz, die fächerübergreifende Verknüpfung von Wissen, überprüft. Österreich landet auf dem 15. Platz und damit im Mittelfeld der OECD-Staaten. Sämtliche deutschsprachigen Länder inklusive Liechtenstein, das allerdings kein OECD-Mitglied ist, liegen besser (Detailergebnisse siehe Kästen).

Leistungsverluste. Claudia Reiter und Günter Haider, die Autoren des nationalen PISA-Berichts vom Projektzentrum für vergleichende Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaften der Uni Salzburg, wollten sich gegenüber profil über die Inhalte von PISA 2003 mit Hinweis auf die weltweit vereinbarten Sperrfristen nicht äußern.

Im abschließenden 10. Kapitel der Studie, „Resümee und Ausblick“, kommt Günter Haider allerdings zu Schlüssen, die zwar keine „nationale Depression“ (Gehrer) auslösen, aber doch für allgemeine Niedergeschlagenheit sorgen werden. Originalzitat Haider: „Die Resultate von PISA 2003, betreffend die in Österreich erzielten Leistungen der 15-/16-jährigen Schüler/innen, sind wenig zufrieden stellend. Man mag es drehen und wenden, wie man will: In allen drei Domänen Mathematik-, Lese- und Naturwissenschafts-kompetenz sowie im Problemlösen sind unsere 15-/16-Jährigen im internationalen Vergleich bestenfalls Mittelmaß. Keine einzige der in PISA 2000 erreichten absoluten Leistungen noch die dort erzielten Rangplätze konnten gehalten oder gar verbessert werden. Speziell in Lesen und Naturwissenschaft ist ein auch im internationalen Maßstab sehr deutliches Absinken der Leistungen zu beobachten, begleitet von einem rangmäßig zum Teil erheblichen Abrutschen innerhalb der 29 OECD-Länder, auch weil sich mehrere andere Länder inzwischen erheblich verbessern konnten.“

Dass der Absturz im Vergleich zu PISA 2000 wie in der Vorwoche kolportiert vor allem auf eine damalige falsche Gewichtung der Berufsschüler zurückzuführen ist, trifft nicht zu. Österreichs Schüler sind in den vergangenen Jahren schlicht schlechter geworden. Haiders Resümee: „Die Analysen zeigen, dass hinter den Differenzen eindeutig feststellbare Leistungsverluste der Schüler/innen stehen.“

In Deutschland schlugen vor drei Jahren die schwachen Ergebnisse von PISA 2000 wie eine Bombe ein. Der angebliche deutsche Bildungsirrweg führte hierzulande zu einem „Córdoba-Effekt“: Der große Nachbar war wider Erwarten bezwungen worden. Die Realität des Jahres 2004: Die Deutschen sind gleich gut, in manchen Bereichen besser. Die österreichischen PISA-Autoren vergleichen die Wirkung der schlechten PISA-Ergebnisse 2000 auf die deutsche Öffentlichkeit mit dem „Sputnik-Schock“, der die USA in den fünfziger Jahren erfasste, nachdem es den Sowjets früher als den Amerikanern gelungen war, einen Satelliten ins All zu schießen.

Erfasst nun ein – heilsamer – Sputnik-Schock auch Österreich?

Schuldzuweisungen. Die Debatten der vergangenen Wochen nach dem Bekanntwerden von einzelnen Ergebnissen liefen nach dem üblichen Schuldzuweisungsmuster ab. Die Vertreter der AHS-Lehrer orteten die Ursache für die Probleme im Vorschul- und Volksschulbereich. „An den Volksschullehrern liegt es nicht“, konterte die Pflichtschullehrer-Gewerkschaft. FPÖ-Bildungssprecherin Mares Rossmann führte die Mängel auf die hohe Anzahl von Schülern mit fremder Muttersprache zurück. Ihr SPÖ-Kollege Erwin Niederwieser machte die Sparpakete der Bundesregierung um Schüssel, Vizekanzler Hubert Gorbach und FPÖ-Chefin Ursula Haubner für den Leistungsabfall verantwortlich. ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon erklärte, es gebe „eine Fülle internationaler Studien, die dem österreichischen Bildungssystem ein hervorragendes Zeugnis ausstellen“. Und der grüne Abgeordnete Dieter Brosz warf Elisabeth Gehrer vor, die Warnsignale der letzten PISA-Studie nicht ernst genug genommen zu haben. Die Bildungsministerin ihrerseits brachte eine Familien-Facette in die Diskussion ein: „Die Eltern sind dafür mitverantwortlich. Sie nehmen sich immer weniger Zeit für die Kinder, und es müssen viele grundsätzliche Aufgaben von den Schulen und Lehrern übernommen werden.“ Gehrers Schelte wurde von den Elternverbänden prompt zurückgewiesen: Jahrelang sei es Schulpolitik gewesen, Eltern vom Schulleben fern zu halten, Elternvereine seien zu „Geldbeschaffungsvereinen“ degradiert worden.

Kampfschauplatz. Vor allem die Großparteien missbrauchten die Schulen in der Vergangenheit – selbst in den Zeiten rot-schwarzer Koalitionen – als Austragungsort ideologischer Turniere. Debatten über den Leistungsbegriff, Klassenschüler-Höchstzahlen, Bildungsausgaben oder die Gesamtschule werden hierzulande oft mit Inbrunst statt mit Sachlichkeit geführt. Da Änderungen im Schulwesen nur mit Zweidrittelmehrheiten im Nationalrat möglich sind, blockierten SPÖ und ÖVP ihre jeweiligen Reformpläne wechselseitig.

PISA-Chef Haider kritisiert in seinem Resümee die österreichischen Schulsitten hart: „Nach wie vor sind viele Pädagogen und Bildungspolitiker gewohnt, die großen Streitthemen im Kontext weltanschaulicher, ideologischer bzw. philosophischer Debatten mehr polemisch als rational, mit Schlagwörtern („Zwangstagsschule“, „Eintopfschule“) eher als mit sachlich nachvollziehbaren Argumenten zu erörtern.“

Schon bei PISA 2000 war klar geworden, dass Österreich nicht zu den führenden Nationen im Bildungsbereich gehört. Bei einer Enquete des Bundesrats vor zwei Wochen bezeichnete Haider die mangelnde Nachhaltigkeit des Gelernten als eine der Ursachen für die schwachen Leistungen der Österreicher. Die Leistungsbeurteilung wäre überbewertet, Schüler würden hauptsächlich vor Schularbeiten lernen, die langfristige Sicherung der Kompetenzen würde dadurch gefährdet. Anders formuliert: Non vitae, sed scholae … Österreichs Schüler lernen für die Schule, nicht für das Leben. Der Förderunterricht hierzulande reicht nicht aus, um die Schwächen auszugleichen. Insgesamt wird in Österreich auf die individuelle Leistungsfähigkeit der Schüler – sei es der schlechten, sei es der guten – zu wenig Rücksicht genommen.

Nach wie vor haben Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien trotz gleicher Befähigung geringere Chancen, was durch die frühe Selektion in AHS-Unterstufe und Hauptschule noch verstärkt werde, so Haider im Bundesrat. Nach einer aktuellen Studie der Arbeiterkammer schicken Eltern mit geringerem Einkommen ihre Kinder eher in die Hauptschule als ins Gymnasium. Die Wirtschaft, die regelmäßig über die mangelnden Grundkenntnisse ihrer Lehrlinge in Schreiben und Rechnen klagt, sieht die Bürokratie als eine der Ursachen für die schulischen Mängel. In einer Studie kamen die Wissenschafter des „Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft“ zu dem Schluss, dass die in der PISA-Studie erfolgreichsten Länder wie Finnland, Australien oder Neuseeland über ein hohes Ausmaß an Schulautonomie verfügen. Österreichs System mit Entscheidungsträgern auf Bundes-, Landes-, Bezirks-, Gemeinde- und Schulebene sei zu bürokratisch.

Preis vs. Leistung. Nüchtern betriebswirtschaftlich betrachtet ist das Preis-Leistungs-Verhältnis im österreichischen Schulsystem erbärmlich. Obwohl Österreich deutlich mehr Geld als etwa Finnland in die Schule pumpt, liefern die heimischen Schüler deutlich schlechtere Ergebnisse als die finnischen. Zum Vergleich: Laut OECD investiert Österreich pro Schüler im Sekundarbereich (Hauptschule und AHS-Unterstufe) 8500 Dollar jährlich, Finnland dagegen nur 6500 Dollar. Österreich wendet 3,9 Prozent des BIP für die Schulen auf, Finnland 3,7 Prozent.

Elisabeth Gehrer kündigte bereits weitere Reformmaßnahmen an. Doch Verbesserungen im Schulsystem wirken langsam, für PISA 2006 ist mit ähnlich enttäuschenden Ergebnissen wie 2003 zu rechnen. Der Leiter des österreichischen PISA-Zentrums, Günter Haiden, fordert in seinem Bericht einen kollektiven Kraftakt: „Es bedarf einer großen, gemeinsamen und nationalen Anstrengung, damit PISA 2009 oder 2012 wieder Erfreulicheres über die Leistungen von Österreichs Schüler/innen und Schulen melden können.“

Trotz des schlechten Zeugnisses – ein wenig Trost bietet die PISA-Studie Politikern und Eltern dennoch: Die Jugendlichen sind heute zufriedener mit der Schule als noch vor drei Jahren.