Bildung: Kill Drill - Montessori & Co

Bildung: Kill Drill - Die Reformpädagogik kämpft nach wie vor mit Vorurteilen

Ausbildung für alle oder knieweiche Pädagogik?

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Eine alltägliche Situation in einem römischen Park, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein etwa eineinhalbjähriges Kind will mit seiner Schaufel kleine Steine in seinen Kübel füllen. Die Kinderfrau ist bereits unter merklichem Zeitdruck und drängt zum Aufbruch. Um Gequengel zu vermeiden, füllt sie den Kübel selbst und drückt ihn ihrem Schützling in die Hand. Das Kind, nun im Besitz der ersehnten Steinchen, beginnt dennoch zu brüllen. Eine Medizinstudentin beobachtet das Szenario und erfährt ein „Erweckungserlebnis“, das eine kopernikanische Wende für das bislang tradierte Verständnis von Kindheit zur Folge haben wird.

Die Spaziergängerin ist Maria Montessori, in der sich angesichts des seinen Schmerz äußernden Kindes eine Vermutung zur Gewissheit verdichtet: Es geht dem Kind nicht um das Resultat äußeren Besitzes, in diesem Fall den der Steine, sondern um die selbstständige Tätigkeit und die Vervollkommnung der eigenen Fähigkeiten. Doch das begreift der Erwachsene nicht, da er stur davon ausgeht, dass die Psyche des Kindes gleich seiner eigenen funktioniert.

„Der Ausdruck von Protest gegen Gewaltanwendung und Ungerechtigkeit in diesem kleinen Gesicht“ schmerzt Maria Montessori, die 1896 mit 26 Jahren als erste Ärztin Italiens promovieren soll. Sie will etwas gegen den ständigen Kampf der Erwachsenen gegen „den Schwächeren, der die Natur des Kindes zerstört“, unternehmen. Und wird ihr Leben „der Verteidigung der Kindheit“ widmen.

Dass die Tochter eines konservativen Finanzbeamten, die während des Studiums alleine ihre Leichen sezieren musste, da sie sich nicht unter die männlichen Kollegen mischen durfte, mit der Entwicklung ihrer pädagogischen Methode zur Förderung des kindlichen Selbstausdrucks für die Erforschung der Kindheit ähnlich Bahnbrechendes leistete wie Sigmund Freud für die der Seele, ist längst unbestritten.

Als amtliche Geburtsstunde der Montessori-Lehre gilt der 6. Jänner 1907, als im heruntergekommenen römischen Arbeiterviertel San Lorenzo die „Casa dei Bambini“ ihre Pforten öffnete, wo die bereits anerkannte Ärztin, Sozialreformerin und Feministin Maria sich der verwahrlosten Proletarierkinder annimmt. Und dabei die erstaunliche Entdeckung macht, dass in „diesem Wald verlorener Menschen“ durch die Beschäftigung mit bestimmten Materialien, die nichts mit traditionellem Spielzeug zu tun haben, ungeahnte Konzentrationsfähigkeiten zutage treten.

Von allen reformpädagogischen Ansätzen, die sich vor allem um 1900 in Europa und den Vereinigten Staaten entwickelten, wurde die Montessori-Methode am breitenwirksamsten in den pädagogischen Mainstream überführt.

Als wichtigster Grundsatz gilt das Vertrauen in die Kräfte des Kindes, das im Kindergarten zum „Baumeister seiner selbst“ werden soll. Mittels besonderen didaktischen Materials wie spezieller Kärtchen oder Perlschnüre kann es, gemäß dem Montessori-Motto „Hilf mir, es selbst zu tun“, in Freiarbeit seine eigene Entwicklung selbstständig vorantreiben. In der Volksschule und Unterstufe steht in fächerübergreifenden Gruppenkreisen, die altersmäßig durchmischt, aber vom Leistungspotenzial aufeinander abgestimmt sind, die Freiheit der Eigenverantwortung im Fokus.

Die Montessori-Pädagogik für die Oberstufe hat sich hingegen als wenig praktikabel erwiesen. „Das ist vom Material und dem Stoff her nicht zu machen“, so die Montessori-Pädagogin Gerlinde Mayer-Kral, die eine öffentliche Volksschule mit Montessori-Klassen in Wien-Landstraße leitet.

Anmeldungsboom. Während Maria Montessori ihre Erkenntnisse bei sozial benachteiligten sowie behinderten Kindern entwickelte, bleibt alternative Pädagogik in Österreich noch immer ein Privileg der Elite und des gehobenen Mittelstands – egal, ob es sich um Montessori, die auf den bisweilen abstrus anmutenden Lehren Rudolf Steiners basierenden Waldorfschulen oder diverse Mischformen alternativer Pädagogik handelt.

„Ich würde viel mehr Plätze brauchen, als ich anbieten kann“, seufzt Gerlinde Mayer-Kral.

„Besonders heuer zeichnet sich ein irrsinniger Anmeldungsboom ab“, schließt sich Eva Becker, Waldorf-Vereinsvorsitzende in Wien-Währing dem Tenor an, „aber wir können nicht alle aufnehmen. Das Auswahlverfahren ist schrecklich, Eltern müssen informiert werden, um Enttäuschungen zu vermeiden.“

Von den rund 1,2 Millionen Schülern in Österreich sind derzeit nur knapp 4000 in 60 Schulen in freier Trägerschaft (also nicht öffentlichen, alternativen Schulen) untergebracht, davon 2500 in den 13 Waldorfschulen des Landes, rund 1000 in freien Schulen ohne einheitliches Konzept und 500 in klassischen Montessori-Schulen.

Alternative Pädagogik ist in Österreich also noch immer ein Luxus – vor allem deswegen, weil auf Privatinitiativen basierende Schulsysteme, im Gegensatz zu den konfessionellen Privatschulen, eine minimale öffentliche Förderung erhalten und dementsprechend Schulgeld einfordern müssen.

Katholische Privatschulen hingegen können mit einer staatlichen Unterstützung von achtzig Prozent ihres Budgetbedarfs rechnen, was die Kirche bis heute dem – unter dem historisch umstrittenen Kanzler Engelbert Dollfuß – im Jahr 1933 geschlossenen Konkordat zu verdanken hat.

„Dieses Missverhältnis hat einen klaren politischen Hintergrund“, so die Wiener Stadtschulrätin Susanne Brandsteidl.

„Unsere Subventionen decken gerade einmal fünf bis fünfzehn Prozent unseres Budgetbedarfs“, klagt Eva Becker. „Insgesamt verdienen unsere Lehrer um ein Drittel weniger als die der öffentlichen Schulen, da sich ihr Einkommen aus den Einnahmen ergibt. Weil sich das Schulgeld pro Kind und Monat, aufgrund sozialer Staffelung, im Schnitt auf 230 statt der ursprünglich veranschlagten 360 Euro beläuft, ist das so.“

Österreich hält im europäischen Vergleich, ähnlich wie Deutschland, eine beschämende Ausnahmesituation: In Frankreich gehört die Ganztagsschule seit Jahrzehnten zum State of the Art; in Skandinavien, vor allem in Finnland und Dänemark, werden Privatinitiativen großzügig gefördert und Versatzstücke alternativer Lernmethodik verpflichtend in den öffentlichen Bereich integriert.

Reformoffenheit. Wobei die Ausbildung der österreichischen Volksschullehrer, verglichen mit jener des AHS-Personals, von weitaus größerer Reformoffenheit geprägt ist. „In der Übungsvolksschule der Pädagogischen Akademie“, so die Wiener Volks- und Sonderschullehrer-Ausbildnerin Elisabeth Menhart, „können sich die Studierenden mit zahlreichen Methoden – von Montessori bis zum Jenaplan – vertraut machen.“ Wie weit die reformpädagogischen Ansätze dann in den eigenen Unterrichtsstil eingearbeitet werden, bleibt jedoch Freigegenstand.

Darüber, dass im Alternativ-Bereich beschäftigte Pädagogen weit mehr Engagement und Idealismus mobilisieren müssen als die Kollegen im Regelschulbereich, sind sich die Experten einig.

„Der Lehrer ist eine geliebte Autorität, die nur durch Wissen und eigene Arbeit beeindruckt“, positioniert Eva Becker ihren Berufsstand im System der zwölfjährigen Gesamtschule nach dem Waldorf-Prinzip. Waldorf hat das Lernen über „das Erleben von Wirklichkeit“ zum zentralen Motiv und integriert die Berufswelt ab der neunten Schulstufe in Form von Praktika in kleiner Besetzung in den Lehrplan.

Waldorfschüler werden schon einmal zu eigenartigen Dingen angehalten, wie im Gehen Gedichte vorzutragen. Der Steiner’schen Technikfeindlichkeit wird Tribut gezollt, indem man die Kinder zum Töpfern, Brotbacken und Schnitzen anregt. Die Matura muss im dreizehnten Schuljahr extern, in freiwilliger Kombination mit einem Waldorf-Lehrgang, nachgeholt werden.

Der deutsche OECD-Bildungskoordinator und PISA-Begründer Andreas Schleicher, selbst Waldorf-Absolvent, beurteilt seinen Bildungsweg rückblickend durchaus positiv: „Ich habe in dieser Schule Dinge gelernt, die ich sonst nicht gelernt hätte: Neugierde, auf andere zugehen, kommunizieren.“

Generell schneiden im PISA-Check Privatschulen besser ab, weil, so Schleicher, „in diesen Schulen eine sozioökonomisch bessergestellte Klientel verkehrt und die Eltern eine höhere Einsatzbereitschaft zeigen als in den Regelschulen“.

Zwar versichert die Wiener Stadtschulrätin Susanne Brandsteidl, dass alle Eltern in Wien für ihre Kinder die Möglichkeit eines kostenfreien Zugangs zu Alternativschulen ihrer Wahl hätten (siehe Interview), doch in der Praxis sieht das dann doch wesentlich anders aus.

Elite-Flair. Dicke BMWs und ein Porsche-Cayenne parken vor der Montessori-Schule in Wien-Penzing; insgesamt trudeln 23 Kinder zwischen neun und zwölf Jahren hier in der Henckelgasse ein. Die Kosten pro Kind für zwei bis drei Lehrer sowie unter anderem eine Bibliothek mit Kachelofen belaufen sich auf 326 Euro im Monat.

„Wir wollen keine Schule für Betuchte sein“, wehrt sich die Schulleiterin Barbara Stifter gegen jegliches Elite-Flair, „aber die Billa-Verkäuferin, die die Montessori-Methode wahrscheinlich gar nicht kennt, kann sich das sicher nicht leisten.“

Wieder einmal frisst die Revolution ihre Kinder: Denn ebenso wie Maria Montessori hat auch Rudolf Steiner seine Offensive gegen die autoritäre Pädagogik vor allem für sozial schwach gestellte Kinder ersonnen. Die erste Steiner-Schule wurde 1919 für die Kinder der Arbeiter, die in der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria beschäftigt waren, bei Stuttgart ins Leben gerufen.

„Die Wahlmöglichkeit ist nur in geringem Maß gegeben“, bestätigt auch Ernst Zach, Vorsitzender des Dachverbands für freie Schulen, „es gibt sicher einen viel höheren Bedarf an Alternativschulen als vorhanden.“

Auch die reformpädagogischen Ansätze in den öffentlichen Schulen hält Zach für nicht ausreichend: „Die können bei Weitem nicht das tun, wozu wir Privaten in der Lage sind.“ Da die öffentliche Förderung von nichtkonfessionellen Schulen minimal ist, dümple man, so Zach, „am unteren Rand unserer Möglichkeiten. Für die Lehrer funktioniert das nur noch über die Selbstausbeutung.“

Drei Jahre lang hat sich Zach um einen Termin mit der früheren Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer bemüht – letztendlich vergeblich. Im April empfängt ihn ihre Nachfolgerin Claudia Schmied. Zach wird sie mit seiner Forderung eines Bildungsgutschein-Systems konfrontieren. Denn schließlich zahlen Eltern von Kindern in freien Schulen doppelt: in Form des Steuerbeitrags und der Schulgebühr. Zach empfände es als fair, „wenn eine Privatschule achtzig Prozent von dem vergütet bekommt, was ein Platz in einer öffentlichen Schule kosten würde“.

Das zähe staatliche Interesse an der Subventionierung alternativer Bildungsmethoden liegt mit Sicherheit am Ruf, der Montessori, Waldorf und andere „Feng-Shui-Pädagogik“, so das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, seit den achtziger Jahren umweht. Verweichlichung, Leistungsunfähigkeit und seelisches Hippietum wurden den Absolventen alternativer Bildungsstätten attestiert. Dieses Klischeedenken muss jetzt revidiert werden. Denn neue Studien belegen, dass die Reformpädagogik sich auf die Wettbewerbsfähigkeit positiv niederschlägt und Montessori & Co dem Regelschulsystem durchaus ebenbürtig, wenn nicht überlegen sind.

Im vergangenen September sorgte ein Artikel im Wissenschaftsmagazin „Science“ für Aufsehen, in dem die reputierte amerikanische Psychologin Angeline Lillard eine Studie vorstellte, die Montessori-Schülern ganz ausgezeichnete Noten ausstellte: Verglichen mit gleichaltrigen Regelschülern zeigten Sechsjährige, die einen Montessori-Kindergarten absolviert hatten, deutlich höhere mathematische Leistungen als die Kontrollgruppe. In der Gruppe der Zwölfjährigen lagen Montessori- und Regelschüler auf vergleichbarem fachlichem Niveau, alternativ Geschulte lieferten aber ungleich komplexere und kreativere Aufsätze ab.

Auch hinsichtlich ihrer sozialen und kommunikativen Fähigkeiten erwiesen sich die Montessori-Schüler als überlegen.

Widerlegte Vorurteile. Ähnliche Ergebnisse brachte eine Studie an der psychologischen Fakultät der Universität Wien. Sie zeigt, dass gerade im mathematischen Bereich Montessori-Schüler besser abschneiden als gleichaltrige Regelschul-Absolventen, allerdings in Fragen des Alltagswissens hinterherhinken. Keine Unterschiede ergab diese Studie für das Verhalten in Leistungssituationen.

Die PISA-Studie widerlegt das Vorurteil, Alternativschulen brächten zwar kreative, selbstständige und glückliche, aber fachlich haarsträubend inkompetente Kinder hervor. Die Studien von 2000 und 2003 ergaben, dass österreichische Waldorfschüler hinsichtlich ihrer Lese- und Problemlösungskompetenz sowie im Bereich Naturwissenschaft deutlich über dem heimischen Durchschnitt liegen.

Was freilich auch an dem gar nicht durchschnittlichen Elternhaus der alternativen Schüler liegen dürfte. Heute ist die Gesellschaft mit einem Paradoxon konfrontiert: Noch nie war der Wissensstand über Pädagogik und Entwicklungspsychologie so hoch und gleichzeitig die Ratlosigkeit der Eltern so groß.

Die Verunsicherung der Erziehungsdesperados lässt sich an der Abnahmebereitschaft für pädagogische Ratgeberliteratur ablesen: Jährlich erscheinen in Österreich an die hundert Titel, die um das Thema Kind kreisen. Für Lebenshilfeliteratur werden in Österreich pro Jahr 50 Millionen Euro ausgegeben.

„Super Nannys“, ein seltsames Hybrid aus Mary Poppins und dem schwarzen Mann, dokumentieren im Privat-TV beim Schlachtenbummeln durch die Kinderzimmer, wie sehr Eltern an der Wand stehen. Die Gewalt an den Schulen eskaliert, das Lernversagen mit dem daraus resultierenden Nachhilfebedarf lässt eine ganze Branche florieren, und rund ein Drittel der Erziehungsberechtigten, so österreichische Experten, wollen für ihre Schützlinge mit einer „g’sunden Watschen“ weiterhin nur das Beste. Dabei hatte Jean-Jacques Rousseau immerhin schon anno 1762 gefordert, dass der Erzieher „Gehorsam, Pflicht und Schuldigkeit aus dem Wörterbuch des Kindes verbanne“.

Von Angelika Hager, Christina Hiptmayr und Sebastian Hofer