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Wer Nachfolger von Romano Prodi werden wird, war bei Redaktionsschluss noch nicht entschieden. Woran Europa krankt, wird freilich klar, wenn man sich vor Augen hält, wer nicht der nächste Kommissionspräsident wird: Chris Patten.

Erinnern wir uns: Die Europäische Volkspartei hat nach einer langen Sitzung den EU-Außenkommissar und ehemaligen Gouverneur von Hongkong, einen britischen Konservativen, vorgeschlagen. Wie ernst oder bloß taktisch das Projekt der Euro-Konservativen, Chris Patten als EU-Chef zu inthronisieren, auch sein mochte: Es war brillant.

Chris Patten ist kein normaler Tory. Im Verlauf seiner politischen Karriere gerierte er sich dauerhaft als deklarierter innerparteilicher Gegner von Margaret Thatcher: als Kritiker des sozialen Kahlschlags, den die Eiserne Lady in den achtziger Jahren verursachte, und als proeuropäischer Verfechter einer bundesstaatlichen EU in einer Partei, die zunehmend Brüssel als Feindbild aufbaute. Patten ist Historiker und Katholik mit einem Penchant zu liberalen Ideen.

Als letzter britischer Gouverneur von Hongkong hat er den lange Zeit als Kronkolonie autoritär verwalteten Stadtstaat den Chinesen zum Leidwesen Pekings demokratisiert übergeben. Die Hongkonger haben Chris Patten viel zu verdanken. Und dass er konfliktfähig ist, zeigte er auch vergangenes Jahr, als er klar gegen den angloamerikanischen Krieg im Irak Stellung bezog.

Dennoch war der kriegskritische Tory Chris Patten für den kriegsbegeisterten Labour-Premier Tony Blair der Mann, den er sich auf dem Posten des Kommissionspräsidenten wünschte.

Es hat nicht sollen sein sollen. Und wäre aus europäischer Sicht wahrscheinlich eine Ideallösung gewesen. Patten wäre eine aktive unkonventionelle Integrationsfigur der EU geworden. Ein Brite als erster Mann in Brüssel: Das hätte die Engländer, die traditionell dem Kontinent eher fremd gegenüberstehen, Europa näher gebracht. Und die Wahrscheinlichkeit, dass bei der von Blair versprochenen Volksabstimmung über die EU-Verfassung eine Mehrheit der Briten mit Ja stimmen würden, hätte sich beträchtlich erhöht.

Aber der französische Staatspräsident Jacques Chirac wollte aus kleinlicher nationaler Trotzhaltung heraus partout keinen Briten an der EU-Spitze. Die Deutschen unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder wiederum wagten es offenbar nicht, in dieser so wichtigen Personalfrage aus dem Schatten der französischen Politik herauszutreten.

So sieht es danach aus, als ob Großbritannien nach einem kurzen Intermezzo der engen Kooperation mit Deutschland und Frankreich zu einem Sonderweg zurückkehrt. Tief verstimmt ist Blair jedenfalls: Als Chirac vorvergangene Woche dezidiert ausschloss, dass ein Brite EU-Kommissionspräsident werden könnte, war Blair nicht mehr zu halten: „Du regierst nicht Europa“, soll der britische Regierungschef in Richtung des Franzosen gezischt haben. Auf jeden Fall hat das unverantwortliche Verhalten der Franzosen Blair das Vorhaben erschwert, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass die vorliegende EU-Verfassung keine deutsch-französische Verschwörung gegen die Briten ist.

Sosehr nun die von den Regierungschefs in Brüssel beschlossene Verfassung – trotz aller Schwächen – ein gewaltiger Fortschritt im geschichtlichen Prozess der europäischen Integration ist, so wenig gesichert ist aber, dass sie überhaupt in Kraft treten wird. Sie muss nämlich von allen 25 Staaten ratifiziert werden. Es ist ja nicht nur England, das es nicht bloß seinem Parlament überlassen will, Ja oder Nein zur Konstitution zu sagen. Immer mehr Regierungen haben vor, das Volk über die Annahme der EU-Verfassung abstimmen zu lassen. Neben England wollen nun Spanien, Polen, die Benelux-Länder, Tschechien und andere – bisher zehn EU-Staaten – Referenden organisieren. Und es werden noch mehr werden.

Gewiss sind es die Euroskeptiker und -gegner, die auf Volksabstimmungen drängen. Und das Risiko, dass die Verfassung im ersten Anlauf nicht Wirklichkeit wird, ist groß. Aber der Trend zum Referendum hat auch was Gutes. Die Völker wollen offenbar das Projekt Europa nicht den politischen Eliten überlassen.

Und was, wenn nicht eine Verfassung, braucht maximale demokratische Legitimation? Im Kampf um die Zustimmung zur Verfassung könnte jene Debatte über die Zukunft Europas, die bislang in der breiten Öffentlichkeit nur sehr mangelhaft geführt wurde, nachgeholt werden.

Wobei dem EU-Kommissar Franz Fischler und dem grünen Europapolitiker Johannes Voggenhuber zuzustimmen ist, wenn sie ein gesamteuropäisches Referendum fordern. Denn, so argumentiert der Grüne: „Nationale Volksabstimmungen würden bedeuten, dass man die Verfassung dem innenpolitischen Kampf zum Fraß vorwirft.“

Wenn sich nun aber in einem oder mehreren Ländern ablehnende Mehrheiten finden – was dann?

Ja, das könnte eine Katastrophe bedeuten – den Beginn des Zerfalls Europas, das Ende der EU als politischer Einheit. Das ist aber nicht zwingend. Es kann auch weniger dramatisch kommen. Könnte ein Nein in einigen Staaten nicht den Anstoß für eine Verbesserung des Verfassungstextes geben? Und verbesserungswürdig ist da einiges. Oder aber es entwickelt sich ein EU-Modell, das ohnehin immer wieder diskutiert wird: ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das sich in einen bundesstaatlichen Kern und eine weniger integrationswillige Peripherie differenziert.
Das müsste nicht das apokalyptische Ende des europäischen Projekts bedeuten.